Inmitten massiver Probleme setzt Hamas auf die Kontrolle der Moral

Ausgabe 216

Die in Gaza regierende Hamas hat zu Beginn des Jahres eine neue Tugendkam­pagne gestartet, die sich gegen „westliche” Kleidungs- und Lebensstile richten soll. Während die ökonomische Lage in dem übervölkerten Küstenstreifen auch Jahre nach ihrem Machtantritt verheerend ist, setzt sie nun auf die Kontrolle der individuellen Moral.

(IPS). Der Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, wurde von der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) vorgeworfen, das Küstengebiet in einen „neuen Hinterhof“ der Muslimbruderschaft zu verwandeln. Anfang des Jahres startete sie eine „Tugendkampagne“ zur Verbreitung der „islamischen Scharia“ und zum Kampf gegen „westliche Kleidung und Verhalten“.

In Folge eines, von der Hamas erlassenen Gesetzes wird es ab sofort illegal für männliche Lehrer, Schülerinnen in den Schulen des Gazastreifens zu unterrichten. Mädchen und Jungen ab dem Alter von neun Jahren aufwärts sollen im ganzen Gazastreifen zwangsweise getrennt werden. Das gilt auch für jene privaten und christlichen Schulen, in ­denen es bisher eine Koedukation gab. Diese Schulen – sieben Prozent aller Einrichtungen – sind gezwungen, den Ausbau von Gebäuden zu finanzieren, um nach Geschlecht getrennte Klassen unterrichten zu können. In Gaza gibt es 690 ­Schulen mit 466.000 SchülerInnen – bei einer Bevölkerung von 1,7 Millionen Menschen.

Ein weiterer Artikel des Gesetzes ­regelt Beziehungen zwischen palästinensischen Bildungseinrichtungen und Israel. Den Schulen wird der Empfang von Hilfsmitteln untersagt, die dafür gedacht sind, die Idee einer Normalisierung der Beziehungen mit Israel zu fördern.

Die jüngste Zwangsmaßnahme gegen bisherige Freiheiten folgt früheren Kampagnen, bei denen beispielsweise Frauen untersagt wurde, auf dem Beifahrersitz von Motorrädern zu reisen. Das ist ein verbreitetes Transportmittel in einem Gebiet, in dem Treibstoff rar ist. ­Frauen wurde auch das Rauchen von Wasserpfeifen in der Öffentlichkeit verboten und Paare auf den Straßen mussten sich von Mitgliedern der Hamas-Sicherheitsbehörden Befragungen unterziehen ­lassen.

Die Moralkampagne der Herrschenden in Gaza geriet kürzlich an eine weitere Öffentlichkeit, nachdem die Hamas es weiblichen Läuferinnen untersagte, an einem Marathon teilzunehmen, der vom UN-Flüchtlingshilfswerk in Gaza organisiert wurde. Nachdem das UNRWA die Veranstaltung in Gaza absagte, ­wurde sie in der Westbank abgehalten. Wahlfreiheit ist ein Thema für viele Palästinenser. Die Hamas-Gesetze, wie man ein „guter Muslim“ zu sein hat, gilt vielen als Erzwingung der politischen Parteilinie. „Das ist lächerlich. Was ist falsch daran, wenn Jungen und Mädchen zusammen lernen? Als Muslim und Mutter will ich die Wahl haben, ob ich ­meine Kinder in eine gemischte Schule ­schicke oder in eine getrennte“, sagte Rana Atta vom Women’s Affairs Technical Committee in Ramallah.

In einer Presseerklärung verurteilte das Zentrum für Frauenrechte und Beratung die Entscheidung als „Geschlechter-Diskriminierung“. Nachdem die Hamas die Macht in Gaza übernahm, versprach sie die volle Anerkennung der ­Bürgerrechte von Palästinensern. Ein Versprechen, das die sich radikalisierende Hamas zunehmend bricht.

„Hamas’ drakonische Gesetzgebung ist nicht zu vertreten, weder durch die Verfassung, noch durch die palästinensi­sche Bevölkerung. Diese letzten Entwicklungen verstärken den politischen Graben zwischen der Westbank und Gaza“, meint Dr. Samir Awad, ein poli­tischer Analyst von der Birzeit Universität. „Es gab diese Schulen in Gaza lange vor der Hamas und es wird sie weiterhin geben, wenn sie nicht mehr da ist.“