Djamila Rotraud Alkonavi über ein halbes Jahrhundert Islam in Deutschland

Ausgabe 234

(iz). Berlin. Regnerischer Herbstabend im November. Zwei Tage nach den offiziellen Feierlichkeiten erinnern sich Berliner Muslime an den Fall der Mauer. Mit dabei Djamila Rotraud Alkonavi, Veteranin der Berliner Muslime, die den Bau und den Fall des „antifaschistischen Schutzwalls“ miterlebte. Mit Alkonavi, die bereits 1960 in der ehemaligen DDR Muslimin wurde, sprachen wir über die Anfänge des ­Islam im Nachkriegsdeutschland, über Höhen und Tiefen einer kleinen Gemeinschaft und die Erfahrungen der deutschen Muslime.

Islamische Zeitung: Liebe Frau Alkonavi, Sie wurden 1960 in der damaligen DDR Muslimin. Wie muss man sich das muslimische Leben damals vorstellen?

Djamila Rotraud Alkonavi: Es gab in den verschiedenen Universitätsstädten Studenten aus muslimischen Ländern. Einige von ihnen waren mit deutschen Frauen verheiratet. Ich kenne etliche, die damals in der DDR geheiratet haben. Nennenswerte islamische Aktivitäten gingen nicht von ihnen aus. Als ich dann nach Westberlin gegangen bin, sah es schon ein bisschen anders aus.

Es gab eigentlich keinen Zwang, seine Religion geheim zu halten. Religion war in dem Sinne nicht verboten. Als meine Mutter mir die Religion untersagen wollte, habe ich den entsprechenden Passus der DDR-Verfassung vorgelesen, wonach ab 14 Jahren Religionsfreiheit galt und dass sie mir das nicht verbieten könne. Natürlich wurde der Islam in der DDR, wie alle Religionen, als „reaktionär“ und „rückschrittlich“ behandelt.

Er war vielleicht ein bisschen besser gestellt als Christentum oder Judentum, weil viele muslimische Länder damals aus dem Kolonialismus entlassen wurden. Die DDR versuchte, mit vielen Ländern, die ja sozialistisch angehaucht waren, gute Kontakte zu pflegen. Mein Vater wurde in alle möglichen muslimischen Länder geschickt, um dort zu arbeiten. Studenten kamen, um hier zu studieren.

Islamische Zeitung: Sie haben seit 1961 in Westberlin gewohnt. Hat man den Islam gesamtgesellschaftlich überhaupt wahrgenommen, oder blieb das ein exotisches Thema für Karl May-Leser?

Djamila Rotraud Alkonavi: Islam und Muslime waren beinahe unsichtbar. Ich war ja noch fast ein Kind. In den 1960er Jahren ist mir zum Thema nicht viel begegnet. Völlig unbekannt war die Gleichung Kopftuch = Muslim. Das einzige, das Anfang der 1960er gelegentlich durch die Boulevardmedien ging, waren reiche Ölscheichs, die mal eine Deutsche geheiratet hatten. Gelegentlich wurde man damit in Verbindung gebracht.

Als ich 1960 noch in einem Belziger Internat (in der DDR) lebte, wollte ich Bücher über den Islam ausleihen. Die Bibliothekarin hatte nicht nur keine Bücher, sondern kannte noch nicht einmal das Wort. Ein anderes Mal mussten mein Mann und ich uns in Westberlin polizeilich anmelden. Damals musste man noch seine Religion angeben. Als wir beide „Islam“ sagten, meinte der Beamte nach einigem Überlegen: „Hm, Islam?! Ich weiß schon, das ist die mosaische ­Religion!“

Islamische Zeitung: Wie sah die muslimische Gemeinschaft damals aus? Der Kreis muss doch damals überschaubar gewesen sein…

Djamila Rotraud Alkonavi: Anfang der 1960er Jahre war das Ganze noch sehr minimalistisch. In Berlin gab es das Moscheegebäude (im Stadtteil Charlottenburg) aus den 1920er Jahren. Dortige Hausherren waren die Ahmadiyas. Manche versprengten Muslime nutzten das Gebäude zur Begegnung. Man darf nicht vergessen, dass damals nicht jeder religiös war. Diejenigen, die eine Moschee gesucht haben, sind dorthin gegangen. Anfänglich waren sie dort geduldet, weil es keine anderweitigen Räumlichkeiten gab. Das hat sich erst allmählich auseinander dividiert.

In Westdeutschland erwuchs in München eine Moschee (eröffnet 1973), die zu den Olympischen Spielen errichtet wurde. Und in Aachen gab es eine etwas größere Moschee, die von Studenten auf dem Gelände der TU gebaut (von 1964-71) wurde. In Hamburg hatte man noch eine größere Moschee, die bereits seit den 1960er Jahren bestand (Bauzeit 1960-1965). Letztere wurde von wohlhabenden persischen Kaufleuten in Hamburg finanziert. Weil es von uns deutschen Muslimen nicht so viele gab, wurden wir dort als Gäste geduldet und gefördert.

Soweit es deutschstämmige Muslime betrifft, gab es bereits einige versprengte vor dem Zweiten Weltkrieg. Das waren beispielsweise Leute aus diplomatischen Kreisen sowie Händler. In der Nazizeit gab es vereinzelte Versuche einer Förderung, wenn es um punktuelle Bündnisse mit Muslimen ging. Allerdings hat nach dem Krieg niemand von sich behauptet, er wäre in der Nazizeit einflussreich ­gewesen.

(überlegt…) Mir fallen jetzt einige ein, die nach dem Krieg Muslime wurden. Ahmad Schmiede war ein ziemlich bekannter Muslim in Berlin. Muhammad Abdalkarim Grimm war ein bekannter Muslim in Hamburg, der auch zu einem der ersten gehörte, die ich kennenlernte. Dann gab es Fatima Heeren (später: Ehefrau von Muhammad A. Grimm) mit ihrem damaligen Ehemann, der aus dem Sudetenland vertrieben wurde. Ahmed Mosler war einer der älteren Muslime in Berlin, der wahrscheinlich kurz nach dem Krieg Muslim wurde. Er hatte eine alte Mutter, die den Islam annahm. Er selbst war mit einer Tatarin verheiratet, die (wie andere Angehörige ihres Volkes) im Zuge der Kriegswirren nach Berlin kam. Viele Tataren gehörten zu den Initiatoren der Münchener Moschee. Später kam Yahya Schültzke, der in Folge sehr aktiv war. Er hat die Berliner Moschee von außen gesehen und sich gesagt, dass er Muslim werden müsse. In dieser Zeit kamen auch Muhammad Siddiq und Schaikh Abdullah Halis Dornbrach.

In Westdeutschland gab es etliche Leute; außerdem noch die Ehepartner von gebürtigen Muslimen sowie vereinzelte Studenten und Leute, die muslimische Bekannte hatten. Einmal traf ich eine 60-jährige Dame, die Muslimin wurde, weil sie einen muslimischen Untermieter hatte. Sie war trotz ihres hohen Alters noch recht aktiv.

Islamische Zeitung: Wie stellt sich für Sie die Entwicklung der muslimischen Gemeinschaft seitdem dar?

Djamila Rotraud Alkonavi: Die deutschstämmigen Muslime waren abhängig von Studentengruppen, Moscheebauvereinen sowie der Ahmadiya, die damals nach außen sehr aktiv war. Diese hatte auch den Vorteil, dass sie die einzige Qur´ranübersetzung hatte, die von einem deutschen Muslim angefertigt wurde. Sie war damals unter uns noch anerkannter als die andere von Max Henning. Wir Deutschen waren damals Anhängsel dieser Gruppen.

Dann gab es ein paar Zeitschriften, die deutschlandweit unter Muslimen bekannt waren und die für ein Zusammengehörigkeitsgefühl gesorgt haben. Sie organisierten auch Veranstaltungen im ganzen Land. Verlegt wurden „Al-Islam“ (aus München), die schiitische Zeitschrift „Al-Fadschr“ (aus Hamburg), die „Muslimische Revue“, die sich aus der ersten Gemeinschaft in Berlin herleitete sowie „Islam und der Westen“, bei der Smail Balic führend war. Organisatorisch hatten wir „Muslime Helfen“ sowie die Deutsche Muslimliga, die ihre Wurzeln in den Anfängen aus den 1920ern hatte. In den späten 1970er und 1980er Jahren war auch die Frauenzeitschrift „Al-Huda“ sehr aktiv.

Islamische Zeitung: Nun lässt sich der Begriff der „deutschen Muslime“ heute viel weiter fassen…

Djamila Rotraud Alkonavi: Na ja… ich meine in dem Sinne schon „Biodeutsche“, die deutsche Wurzeln hatten. Ich habe hier von Deutschen gesprochen, die Muslime wurden.

Islamische Zeitung: Wie erfahren Sie den Unterschied zwischen damals und heute?

Djamila Rotraud Alkonavi: Wir waren ja viel weniger Leute. Zu Anfang kannten wir uns alle persönlich. Von so ziemlich jedem aktiven Muslim – ob deutsch oder nicht – war der jeweilige Hintergrund bekannt. Es ist so natürlich viel einfacher zusammenzuarbeiten, als wenn man mit zehntausenden Leuten zu hat. Seitdem es die „Gastarbeiter“ gab, viel mehr Studenten ins Land kamen sowie auch mehr Deutsche zum Islam kamen, wurde die Gruppe natürlich viel unübersichtlicher. Ich kann mich noch an die Treffen erinnern, die damals drei Mal im Jahr stattfanden. Die waren sehr wichtig für uns, denn wir hatten ja kaum Literatur, die auf Deutsch übersetzt wurde. Daher waren wir auf solche Gelegenheiten angewiesen, bei der etwas über den Islam gelehrt wurde.

Diese Treffen fanden in den bestehenden Moscheen in Aachen, München und Hamburg statt. Hier wurde auf Deutsch gesprochen beziehungsweise ins Deutsche übersetzt. Zu Anfang waren wir 30-40 Leute. Bei den letzten Treffen (Ende der 1990er Jahre, Anm.d.Red.) kamen so viele Leute, dass sie keinen Platz mehr in den Moscheen fanden. Zum Schluss wurde versucht, diese Mengen durch das HDI (Haus des Islam) in Lützelbach aufzufangen.

Im Laufe der Zeit wurde die Menge der Muslime in den Städten so groß, dass man nicht mehr darauf angewiesen war, sich überregional zu treffen, um irgendwo einmal islamische Gemeinschaften zu erleben. Am Anfang war es ja schon wichtig, gemeinsam beten zu können. Später gab es an jeder Ecke eine türkische Moschee. Später wurden die Kreise von Studenten oder eingewanderten Arbeitskräften, die nach der jeweiligen Herkunft sortiert waren, so groß, dass sie nicht mehr an den allgemeinen Treffen teilgenommen haben. Im Laufe der Zeit hat dann jeder seine eigene Gruppierung bekommen – Gastarbeiter, deutsche Muslime und deutschsprachige Muslime, sodass das große Gemeinschaftsgefühl irgendwann einmal weg war.

Islamische Zeitung: Hatten auswärtige Ereignisse eine Wirkung für die Community?

Djamila Rotraud Alkonavi: Durchaus. 1979, nach der Revolution unter Khomenei im Iran, wurde der Islam in der Bevölkerung erstmals richtig als Größe wahrgenommen. Vorher war er eine Privatsache von ein paar Exoten. Erst durch die iranische Revolution, und natürlich viel mehr durch den 11. September, geriet der Islam derart ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Für die einen waren solche Ereignisse Bedrohungen, für andere Bestärkungen. Ich weiß, dass 1979 viele Deutsche den Islam annahmen.

Die mediale Aufmerksamkeit hatte auch zur Folge, dass sich mehr Deutsche dafür interessieren. Der Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der schon viel älter ist, wurde nur als nationale Frage wahrgenommen, nicht als religiöse Auseinandersetzung.

Islamische Zeitung: Wie nehmen Sie den derzeitigen Debattenstand unter den Muslimen wahr?

Djamila Rotraud Alkonavi: Die dritte oder vierte Generation der jungen Muslime aus Einwandererfamilien nimmt sich längst nicht mehr als Türken, Araber oder Albaner wahr, sondern empfindet sich mehr oder weniger als Deutsch sprechende Europäer mit dem jeweiligen Migrationshintergrund. Das ist eine Sache, die mir wichtig erscheint.

Die Forderung der Muslime in den Großstädten nach großen Moscheen, die nicht mehr national organisiert sind, wäre ganz schön. Denn so können die verschiedenen Muslime bei Feiertagen zusammen beten.

Es ist auch von Bedeutung, dass Deutsch mittlerweile zum wichtigsten, wenn nicht einzigen Mittel der Kommunikation zwischen den verschiedenen Muslimen geworden ist. Dadurch werden gemeinsame Aktivitäten natürlich überhaupt erst möglich.

Viel mehr unterstützt werden, sollte auch der „Marsch durch die Institutionen“ der Muslime. Dadurch kann gezeigt werden, wie die Muslime – angepasste und nicht angepasste – in allen wichtigen Bereichen Funktionen ausüben. Es gibt deutsche Richter, Fachärzte, Politiker, Journalisten, die auch als Muslime wahrgenommen werden sollten. Sie haben natürlich auch eine Vorbildfunktion.

Abschließend halte ich es für wichtig, dass wir uns nicht nur wegducken, sondern in der Öffentlichkeit zeigen. Wir sollten zeigen, dass Muslime positive Dinge vorzuführen haben.

Islamische Zeitung: Liebe Frau Alkonavi, vielen Dank für das Gespräch!