Interview mit dem Juristen Cefli Ademi zu den islamischen Grundlagen

Ausgabe 203

(iz). Fallen Begriffe wie „Islamisches Recht“, „Scharia“ oder „Fiqh“ gehen bei vielen Menschen die Alarmglocken los. Vorgefertigte Vorstellungen ersetzen eine unverstellte Diskussion und Muslime, die sich auf ihre religiös-normative Schriftquellen berufen möchten, werden so nicht selten in die Defensive gedrängt.



Mo(e)mentan dominiert die so genannte „Islamische Theologie“ den intellektuellen Diskurs über solche Fragen. Eine eigenständige muslimische Position in Sachen Recht, jenseits der im Aufbau befindlichen Lehrstühle an mindestens vier deutschen Universitäten, findet nur in manchen Nischen der Medien statt.



Um mehr darüber zu erfahren sprachen wir mit dem Volljuristen Dr. Cefli Ademi. Ademi hat in verschiedenen Aufsätzen zur Frage des islamischen Rechts publiziert. Im Augenblick bereitet er sich auf den Beginn seiner Habilitation vor.





Islamische Zeitung: Fällt heute der Begriff des „islamischen Rechts“, gehen bei vielen Laien die Alarmglocken los. Man denkt an Körperstrafen oder an latente Frauenfeindlichkeit… Warum ist das so?





Dr. Cefli Ademi: Ihre Frage suggeriert, dass es mal anders war. Dem ist leider nicht so. „Islamophobie“, mag die Terminologie auch der Gegenwart entsprungen sein, gab es in substanzieller Hinsicht seit Anbeginn der islamisch-europäischen Begegnung, und dazu gehört gerade auch die „reflexartig“ negative Perzeption dem „Islamischen Recht“ gegenüber. Lediglich das Ausmaß und die Präsenz haben sich – nicht zuletzt wegen des gegenwärtig immensen Einflusses der Medien und ihrer in großen Teilen der so genannten westlichen Welt undifferenzierten Berichterstattung über den Islam insbesondere nach dem 11/9 – gefühlt intensiviert.



Natürlich gibt es die Medien als monolithischen Block genauso wenig wie es die Muslime gibt. Nicht zu leugnen ist aber der beispielsweise von der Medienpädagogin Sabine Schiffer wissenschaftlich untermauerte Umstand, dass es bezüglich der Islamdarstellung in westlichen Medien eine gewisse Einheitlichkeit gibt, was eine Abstrahierung bis zu einem gewissen Grad legitimiert. Der Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker erinnert in seinem Buch „Islamisches Recht“ daran, dass in (West-) Europa seit jeher der Islam gemeinsam mit dem Judentum als vermeintlich unbarmherzige Gesetzesreligionen dem Christentum als Religion der Liebe und Gnade minderwertig und zu Abgrenzungszwecken gegenübergestellt werden. Und dies nicht nur durch so genannte Laien. In einem Interview mit qantara.de machte Claus Leggewie etwa darauf aufmerksam, dass die meisten (nichtmuslimischen) Europäer ein eher schematisches Bild vom Islam entwickeln. Erstaunlich sei für ihn, dass die Europäer, die doch so weit gereist seien und die Welt so gut kennen würden, die in allen anderen Fragen so sorgfältig und sachorientiert seien, im Hinblick auf den Islam so oberflächlich und vorschnell urteilten. Dies gilt gerade auch für das „Islamische Recht“.



Weil einige autoritär geführte Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit gegenwärtig insbesondere durch den Strafvollzug drakonischer Körperstrafen mediales Aufsehen erregen (natürlich gilt auch hier: „was ich suche, das finde ich“), erweisen sie dem hierzulande ohnehin vorherrschenden reduktionistischen Blick auf das „Islamische (Straf-)Recht“ (dass fälschlicherweise der „Scharia“ gleichgestellt wird) als „Peitschenstrafrecht“ einen zusätzlichen „Bärendienst”. Dabei ist das „Strafrecht“ und erst Recht das vom Ultima-Ratio-Grundsatz geprägte „Körperstrafrecht“ nur ein marginaler Teil des „Islamischen Rechts“, und ein innerislamisch umstrittener dazu.



Sie sehen: Der Grund für das von Ihnen angesprochene – aber nicht neue – „islamophobe“ Alarmglockenphänomen ist multikausaler Natur; ein Aspekt ist aber alles überragend: mangelnde Kenntnis. „Wer eine Sache nicht kennt, steht ihr alsbald feindlich gegenüber“, mahnte Ali, der vierte Kalif und Vetter des Propheten vor bereits 1.400 Jahren. Recht hat er!

Islamische Zeitung: „Islamisches Rechts“, was ist das überhaupt und wie funktioniert es?



Dr.

Cefli Ademi: Eine sehr berechtigte Frage, weil „interkulturelle“ Begriffstransfers immer kritisch zu betrachten sind. Festzustellen ist zunächst, dass jeder noch so gut gemeinten Übersetzung ein Stück Fremdbestimmung anlastet. So verhält es sich auch mit dem Begriff des „islamischen Rechts“. Recht ist zunächst ein deutscher Begriff mit sprach-, kultur sowie wissenschaftsspezifischen Konnotationen, der auf eine islamische Kerndisziplin übertragen werden soll, die aus der arabischen Konsonantensprache erwachsen ist.



Es kann also lediglich darum gehen, den sprachassoziativen Transferschaden, der dem Transferakt a priori innewohnt, zu minimieren. Dazu muss zunächst der klassische Rechtsbegriff näher bestimmt werden, bevor das diesem am ehesten Korrespondierende aus der „islamischen Kerndisziplin“ herausgefiltert werden kann.



„Recht“ im klassischen und kulturübergreifenden Sinne steht für einen Sammelbegriff für solche Ordnungssysteme, deren Ziel es ist, das gesellschaftliche Zusammenleben verbindlich und dauerhaft zu regeln. Hauptmotiv ist dabei die „Friedens- und Gerechtigkeitsfunktion“. „Recht“ in diesem Sinne ist also gekennzeichnet durch seine objektive Durchsetzungstauglichkeit.



„Objektives Recht“ bezeichnet hingegen beziehungsweise darüber hinaus die Gesamtheit zeitlich und räumlich geltender Rechtsvorschriften, die von einem staatlich autorisierten Gesetzgeber (etwa dem Parlament) in einem „Setzungsakt“ für verbindlich erklärt werden. Der Unterschied zum klassischen „Recht“ im kulturübergreifenden Sinne liegt also in seiner konkreten staatlichen Erzwing- beziehungsweise Durchsetzbarkeit.



Vor diesem Hintergrund müsste deutlich geworden sein, dass es sich bei der Disziplin Fiqh Al-Mu’amalat um klassisches (islamisches) „Recht“ im kulturübergreifenden Sinne handelt, insoweit dieser Bereich ebenso zwischenmenschliche, und damit „rechtliche“ Normen betrifft, die objektiv durchsetzungstauglich und denen die oben genannten rechtlichen (Haupt-)Funktionen (Gerechtigkeit und Frieden) immanent sind. Dieser Bereich befasst sich etwa mit diversen zivil- und öffentlich-rechtlichen Fragen. Zu „objektivem Recht“ können diese Normen nur erstarken, wenn sie von einer staatlich autorisierten Institution dazu erklärt werden, wobei Gesetzeskodifizie rungen der islamischen Tradition an sich fremd sind. Fiqh Al-Ibadat meint hingegen rituell gottesdienstliche und damit in erster Linie eschatologische Normen, zumal sie objektiv in der Regel nicht erzwingungs- beziehungsweise durchsetzungstauglich sind.



Rechenschaft für deren Vernachlässigung schulde ich grundsätzlich meinem Gewissen beziehungsweise Schöpfer. Obgleich ihres grundsätzlich eschatologischen Charakters zählen aber auch diese rituell-gottesdienstlichen Normen zur umfassenden „islamischen ‘Rechts’wissenschaft“, zumal auch ihnen ein „rechtliches“ Moment anhaftet, und zwar in spiritueller Hinsicht. „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ schulde ich auch meiner Seele und meinem Körper, beide haben ein „Recht“ auf Gottesnähe im übertragenen Sinne, und zwar schlicht durch körperlichen und geistigen Gottesdienst im weiteren und engeren Sinne (dem menschlichen Urinstinkt Fitra folgend).



Dies ist der islamischen Einheitslehre geschuldet. Fiqh Al-Mu’amalat kann also dem „klassischen Recht“ im kulturübergreifenden Sinne zugeordnet werden. Fiqh Al-Ibadat ist rituell gottesdienstliches, islamspezifisches „Recht“ im spirituellen Sinne. Beide Sphären sind Teil der „islamischen Jurisprudenz/Rechtswissenschaft“ und werden durch die islam-juristische Rechtsquellen- und Methodenlehre (Usul Al-Fiqh) ermittelt. Der Unterschied der vorgenannten Rechtsbereiche liegt in sanktionsrechtlicher Hinsicht: Klassisches (islamisches) Recht (Fiqh Al-Mu’amalat) ist objektiv erzwingungs- und durchsetzungstauglich, nicht aber konkret erzwingbar (zumal es sich nicht um gesetztes objektives Recht handelt); rituell gottesdienstliches Recht (Fiqh Al-Ibadat) hingegen wird in der Regel lediglich durch das subjektive Gewissen durchgesetzt, weil es objektiv nicht durchsetzungstauglich ist.



Die wichtigste Bedingung für die Gültigkeit des rituellen Gottesdienstes ist die reine und aufrichtige Absicht, damit ausschließlich Gottes Wohlgefallen erregen zu wollen. Ein etwa mit staatlichen Mitteln erzwungener Gottesdienst wäre vor diesem Hintergrund ein schlicht untauglicher Versuch.





Islamische Zeitung: Früher – bevor der Islam, wie heute zu oft polemisch und nicht wirklich kenntnisreich diskutiert wird – galt das islamische Recht bei Fachjuristen als die dritte große Rechtstradition – nach dem angelsächsischen und germanischen. Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, um sich diese professionelle Gelassenheit wieder aneignen zu können?





Dr. Cefli Ademi: Die in Ihrer Frage als wahr unterstellte frühere „Anerkennung“ würde ich nicht bedingungslos unterschreiben. Die nichtmuslimische Beschäftigung mit dem „islamischen Recht“ – auch unter Fachleuten – ist in nicht unwesentlichen Teilen der europäischen Welt seit jeher eurozentrisch und missionarisch geprägt gewesen, von einem latenten Überlegenheitsgefühl begleitet.

Hier sei nur an die bis kürzlich noch maßgeblichen Werke sogar des renommierten Joseph Schachts zum „Islamischen Recht“ erinnert. Jetzt ist es umso wichtiger, dass eine bekenntnisorientierte und kontextuelle Verwissenschaftlichung des Islams beziehungsweise von Islamverständnissen stattfindet, und zwar mit der erforderlichen wissenschaftlichen Distanz und einem steten Bezug zur pluralen Wirklichkeit.



Europäisch geprägte Muslime sind für ein „brückenbauendes“ wissenschaftliches Islamrechtsverständnis geradezu prädestiniert. Dazu müssten sie aber auch anerkennen, dass es gegenwärtig zahlreiche redliche wie renommierte nichtmuslimische Islamwissenschaftler gibt, die es nicht verdienen, mit dem alten Label und Stigma der „kolonialen Unredlichkeit“ ignoriert zu werden.



Es gibt gute Gründe manche islamrechtliche Werke aus nichtmuslimischer Feder sogar als Primärliteratur anzuerkennen, so beispielsweise Mathias Rohes „Islamisches Recht – Geschichte und Gegenwart“. Auch Thomas Bauers Wirken, dessen beeindruckend aufschlussreichen Aufsatz über die „Normative Ambiguitätstoleranz im Islam“ ich kürzlich las, sollte hier nicht unerwähnt bleiben.





Islamische Zeitung: Vielen Dank für das Gespräch.