Folgen der Pariser Morde: „Eine Positionierung ist notwendig“

(iz). „Wollen wir die völlig einseitige Politisierung der Muslime beenden, müssen wir städtebaulich kreativer werden. Früher hatten wir Moschee und Marktplatz, heute nur noch Moschee und Parkplatz“, das ist eine der Quintessenzen von unserem folgenden Gespräch mit IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger.

Mit dem Autor und Juristen sprachen wir über die brutalen Pariser Ereignisse, die Notwendigkeit einer Positionierung gegen gefährliche Ideologien, den Hass der Attentäter, über deren Instrumentalisierung durch die Neue Rechte sowie das Potenzial der europäischen Muslime zur guten Nachbarschaft.

Islamische Zeitung: In Europa ist eine Art Schockstarre eingetreten und der Terror der Attentäter erschüttert die Metropole Paris. Was heißt das für uns Muslime?

Abu Bakr Rieger: Nun…als ich vor 25 Jahren Muslim wurde, galt dies in meiner alten Umgebung vielleicht als verrückt, aber sicher nicht als gefährlich. Heute erleben wir die ungeheure machtvolle Assoziation des Islam mit Terror und religiös unterlegtem Wahnsinn. Die schrecklichen Bilder von Paris, das Mitgefühl mit dem Leiden unschuldiger Opfer und die Verzweiflung der Angehörigen erfordern erneut eine klare Positionierung der europäischen Muslime.

Islamische Zeitung: Braucht es jetzt eine Distanzierung oder eine Positionierung?

Abu Bakr Rieger: Wenn meine Kinder zur Schule oder auf die Universität gehen, kann niemand erwarten, dass sie sich als Muslime distanzieren. Distanzierung setzt eine Nähe voraus. Ihnen diese Nähe zu unterstellen, ist infam.

Alle in der Öffentlichkeit agierenden Muslime müssen hingegen eindeutig Stellung beziehen, indem sie eine klare Positionierung formulieren. Ich tue das gerne, denn der Islam, der unter dem sogenannten „Islamischen Staat“ firmiert, hat nichts mit dem zu tun, was ich vom Islam weiß und mir unter unserem islamischen Leben in Europa vorstelle.

Diese Ideologie ist faschistoid – extrem fern von der Mitte. Sie steht damit im radikalsten Gegensatz zur Vermeidung der Extreme, die unser Prophet anempfahl.

Islamische Zeitung: Sind muslimische Organisationen in dieser Sache ausreichend engagiert?

Abu Bakr Rieger: Man kann immer mehr tun. Nur: Ich verfolge beispielsweise seit Jahren – aus der Distanz, aber aufmerksam – die Arbeit des ZMD-Vorsitzenden Aiman Mazyek. Zweifellos hat er unermüdlich und ohne jeden unterstützenden Apparat eine beachtliche, positive Öffentlichkeit für den Islam geschaffen. Das verlangt Respekt.

In der Sache würde ich mir allerdings wünschen, dass der Koordinationsrat der Muslime (KRM) – als ein wichtiger Dienstleister der muslimischen Gemeinschaft – nun bald eine Demonstration organisiert, bei der es nicht um die Redner auf der Bühne geht. Vielmehr muss es das Ziel sein, mit einer großen Zahl Muslime vor der Bühne ein klares Zeichen zu setzen.

Islamische Zeitung: Wie erklärt sich der Hass der Attentäter?

Abu Bakr Rieger: Die Geschichte der Muslime ist facettenreich. Ich denke, wir müssen eine Debatte um das Phänomen der Khawaridsch beginnen. Diese Extremisten sind uns historisch bekannt und wurden von einigen Gelehrten sogar als Nichtmuslime definiert.

In den letzten Jahrzehnten wurde der Islam durch ideologisches Denken infiltriert. Darüber hinaus müssen wir uns aus bekannten Gründen mit dem radikalen Salafismus beschäftigen. Dass heißt, nicht mit Muslimen, die einfach nur „orthodox“ leben wollen, sondern mit globalisierten Ideologen, die jede Pluralität im Islam ablehnen.

Der Islam wird aber von Menschen umgesetzt, die von Ort zu Ort kulturell unterschiedlich leben und über Jahrhunderte das Maß der islamischen Rechtsschulen akzeptierten. Keine der anerkannten Rechtsschulen erlaubt den Terror.

Islamische Zeitung: Müssen wir befürchten, weitere Jugendliche an diese Radikalen zu verlieren?

Abu Bakr Rieger: Ich denke, es ist sehr wichtig zu verhindern, dass wir eine ortungslose, muslimische Jugend in Europa bekommen, die in einer global aufgebauten, virtuellen Internetwelt wie in einem Computerspiel lebt. Die Jugendlichen könnten ansonsten den Eindruck erhalten, sie seien Kombattanten in einem Weltbürgerkrieg.

Wir müssen sicherstellen, dass sie real in unsere Gesellschaft eingebunden sind – sowie in unsere Gemeinden. Dort müssen sie einen Diskurs vorfinden, der ihnen auch nicht verlogen vorkommt. Wir müssen sie hier und jetzt aktiv in das gesellschaftliche Engagement einbinden.

Islamische Zeitung: Ist der Islam in Europa zu einer guten Nachbarschaft fähig?

Abu Bakr Rieger: Ich war diesen Sommer in Bulgarien, wo es eine der größten muslimischen Gemeinschaften gibt. In Schumen habe ich mir alte Stadtpläne angeschaut. Jahrhundertelang hat das städtische Leben Muslime, Juden und Christen eingebunden und ihnen eine faszinierende Infrastruktur geboten.

Wollen wir die völlig einseitige Politisierung der Muslime beenden, müssen wir städtebaulich kreativer werden. Früher hatten wir Moschee und Marktplatz, heute nur noch Moschee und Parkplatz. Die kulturlosesten, oft trostlosesten Orte sind heute Moscheen in Deutschland, über denen das Schild „Kulturzentrum“ hängt. Im Keller spielen Jugendliche Tischtennis und verfolgen die Gazaberichterstattung. Was soll hier heranwachsen?

Islamische Zeitung: Werden die wachsenden Flüchtlingszahlen Pegida und somit eine neue Rechte stärken?

Abu Bakr Rieger: Die Lage ist gefährlich. In einer globalisierten Welt befinden sich die Konservativen – und vor allem ihre Kinder – in einer Identitätskrise. Ihre alte Idee nationaler Souveränität funktioniert unter den Bedingungen globalisierter Technik nicht mehr. Ihre Lösung der Identitätskrise ist eine negative Losung: „Wir sind deutsch, weil sie es nicht sind!“

Das ist natürlich einfacher, als eine neue Kultur zu stiften. Diese Identitätskrise und die daraus folgende Idee der Abgrenzung ist übrigens auch uns Muslimen bekannt. Wir haben ja Moscheen, die bis heute ethnisch abgegrenzt leben. Eine andere Frage ist der infame Versuch der Rechten, die Flüchtlinge als potentielle Terroristen zu diffamieren.

Islamische Zeitung: Wird der Islam in Deutschland durch die Ereignisse dauerhaft beschädigt werden?

Abu Bakr Rieger: Ich hoffe nicht. Der Islam bindet heute über eineinhalb Milliarden Menschen in aller Welt. Das Phänomen muss also spannender sein, als es im Moment erscheint. Er korrespondiert mit der philosophischen Suche nach der Einheit, ist ein Meer des Wissens und hat ökonomische und soziale Alternativen zu bieten. Der Islam ist auch keinem bestimmten Kulturraum zugehörig. Unser Leben ist bunt.

Natürlich haben Menschen Angst vor dem Terror, sie spüren aber auch das Positive in der friedlichen Präsenz von beinahe fünf Millionen Muslimen in Deutschland. Wir müssen sicher stellen, dass die kritische, aber faire Debatte über den Islam nicht von Extremisten aller Couleur gestaltet wird.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Rieger, wir danken Ihnen für das Gespräch.