Ist „Huda“ überflüssig?

Ausgabe 251

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(iz). Zu den zahlreichen islamischen Begriffen, die sich nicht eins zu eins in ein Wort geschweige denn in einen Begriff christlicher Theologie und säkularer Sprache umsetzen lassen, gehört zuvörderst der Begriff „Huda“. Er wird daher im interreligiösen Dialog weder thematisiert noch aufgegriffen. Selbst das ausgezeichnete zweibändige „Lexikon des Dialoges“ nennt nur den Begriff „Rechtsgutachten“, ohne im Artikel selber Huda zu erwähnen. Und in der umfangreichen Enzyklopädie des Qur’ans, die unter der Leitung Oliver Leamans von 42 Gelehrten erarbeitet wurde, ist Huda kein eigenes Stichwort.
Allerdings geht Ahmet Albayrak in seinem Beitrag zur „Konversion“ auf den Begriff ein und schreibt, dass der Qur’an zwei verschiedene Wurzeln für die Konversion kenne: Huda – Rechtleitung und Hidayet – rechte Führung. Er verweist jedoch darauf, dass der Text das Wort Huda 85 Mal in unterschiedlichen Zusammenhängen nennt. Dazu zählt Allahs Zusage, dass „dennoch ganz gewiss Rechtleitung zu euch kommt“, und „jene, die meiner Rechtleitung folgen, brauchen keine Furcht zu haben, noch sollen sie bekümmert sein (…)“ (Al-Baqara, 38).
Die einzige Voraussetzung für die Rechtleitung des Gläubigen ist, dass er die Schahada vollzogen hat und in jedem seiner Gebete vollzieht. Dazu gehört das Bewusstsein der rechten vorbildlichen Leitung durch den Propheten, Allahs Segen und Frieden auf ihm. Als dieser nicht mehr da war, fragten die Muslime jene, die ihn noch gekannt hatten, um Rat, wenn sie sich des rechten Verhaltens nicht sicher waren. In späteren Jahren wurden seine Rechtleitungen gesammelt. In der Folge entwickelten sich nicht nur eine islamische Orthopraxie, sondern ebenso ein System der Rechtleitungen, die Schari’a.
Während die europäischen Medien und manche muslimischen Extremisten nur die Strafaussagen hervorheben, schauen die Muslime, was dort hinsichtlich ihres orthopraktischen Alltages gesagt wird. Im Laufe der Jahrhunderte häuften sich die Ansichten, was rechtgeleitet war und sei, so an, dass Ali Normalverbraucher sich kaum noch traute, selber zu entscheiden, was denn rechtens sei. Er wandte und wendet sich an jene Muslime, die ihr Leben damit verbrachten, Allahs Rechtleitungen zu erforschen.
In den ersten Jahrhunderten der Umma, der Gemeinschaft gleichen Bekenntnisses zu dem Einen, entstanden Gelehrtenzirkel, die bald genaue Kriterien für jene entwickelten, die etwas sagen, d.h. beurteilen durften. Solchen Mudschtahid gestanden die Muslime zu, auf Anfragen eines Gläubigen korrekt antworten zu dürfen und zu können. Der vor wenigen Wochen verstorbene Abdullah Borek zeigte in seinem Buch „Islam im Alltag“, was Muslime in islamischen Mehrheitsgesellschaften alles fragen. Europäischen Gläubigen erschien manches davon ein wenig merkwürdig. Allein, auch in den Minderheiten in Frankreich oder Deutschland wird gefragt. Jeder Religionslehrer vermag eine ganze Reihe solcher Anfragen zu nennen, die er oder sie meist in aller Vorsicht abweist. So wie auch alle islamischen Lehrstühle in Deutschland, wie wohl auch in ganz Westeuropa es tun. Sie lehren das, was gemäß der (politischen) Wissenschaftsauffassung lehrbar ist und dem Grundsatz des methodischen A-Theismus folgt.
Doch an wen und wohin wendet sich der Gläubige, wenn er eine sichere Auskunft haben möchte? Wer vermag ihm eine Fatwa zu geben? In der Bundesrepublik gibt es keinen Mudschtahid. Also bleiben nur Gelehrte in irgendeinem Ausland übrig, die aus ihrer Erfahrung heraus urteilen. Die allermeisten von ihnen kennen unsere säkularen Gesellschaften gleich der deutschen nur aus ihren Medien, der Literatur, Berichten beziehungsweise von mehr oder weniger kurzen Reisen, bei denen sie von Moschee zu Mosche geleitet wurden.
Kaum einer studierte gleich Professor Zakzouk an einer deutschen Universität. Die Antworten eines Gelehrten können zwar über das Internet von jedermann gelesen werden, aber es gibt in säkularen Gesellschaften keine Öffentlichkeit für sie. Der Text mancher Antwort mag so „orientalisch“ oder „asiatisch“ sein, dass der in Westeuropa lebende Muslim Probleme haben könnte, die ihm gegebene Rechtleitung umzusetzen, aber er hat sie nun einmal bekommen. Wenn die Differenz zu groß ist, dann könnte sich der Fragende auch an einen weiteren Mudschtahid wenden, was heute häufig über das Internet geschieht.
Aber stets bleibt der Mudschtahid, der gefragt wird, was islamisch inkorrekt ist, im Ausland, denn er ist – wie der Fragende – ein Teil der Umma, d.h. der Gemeinschaft, die die Einzigkeit des Einen bekennt. Dies wird sich so lange nicht ändern, wie in Deutschland kein Mudschtahid heimisch geworden ist, was mit Recht keine islamische Fakultät zu leisten vermag. Schließlich erhalten alle christlichen Geistlichen ihre Ordination nach dem Studium durch einen Akt der Glaubensgemeinschaft, der jeweiligen Kirche. Die Umma hat keine derartigen Handlungen entwickelt. Der Mudschtahid erhält seine Idschaza, die Lehrbefähigung, durch einen dazu berechtigten Lehrer, der wiederum auf eine Silsila verweisen kann.
Sein Renommee gewinnt er jedoch nicht durch die Aufzählung seiner geistlichen „Vorfahren“, vielmehr allein durch seine orthopraktischen Empfehlungen, die sich im Alltag der Gläubigen bewähren. In der westeuropäischen Säkularität nimmt man solche Empfehlungen als Teil der sogenannten türkischen oder arabischen Kultur wahr, die man leicht mit der Bemerkung bei Seite schieben kann: „Die sollen sich ans Deutsche gewöhnen.“ Die Rechtleitung ist damit kein Thema, sodass jeder Mudschtahid, wo immer er beheimatet ist, sagen könnte: „Was wollen die?“ Muslimische Jugendliche neigen zu einer solchen Haltung.
Die muslimischen Minderheiten suchen und finden öffentliche Räume, in denen sie ihrer Huda folgen können, ohne bei der Mehrheit Anstoß zu erregen. Ein gutes Beispiel ist der Bratwurstverkäufer in der Fußgängerzone einer Großstadt, an dessen Plastikschutz vor dem Grill das arabische Wort „Halal“ steht. Wer es nicht kennt, der übersieht den Schriftzug, während muslimische Eltern erfreut ihren Kindern die Bratwurst in die Hand geben. Einige Teestuben und Restaurants bieten heute Brunch oder Frühstück an, das selbstverständlich nur aus Halal-Lebensmitteln besteht. Das islamische Studium und der islamische Religionsunterricht mögen Huda nicht thematisieren, aber die Muslime leben mehr oder weniger streng danach.
Man könnte meinen, dass irgendwann vielleicht die islamische Rechtleitung im Dialog mit den Christen thematisiert wird, wodurch die sogenannten Sicherheitsbehörden lernen würden, dass die „Theologie“ nicht die Lösung ist. Als ich dies im Gespräch mit einem Rabbiner so nebenbei erwähnt hatte, lächelte er und sagte, wenn ich mich richtig erinnere: „Im Gespräch mit uns tun sie es immer noch nicht.“ Aber ohne Seine Rechtleitung vermögen Muslime nicht einmal zu beten.