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Jenseits von Westeros

Ausgabe 256

Foto: Cage Skidmore | Lizenz: CC BY-SA 2.0

„Der junge Mann oder die Frau, die heute schreiben, haben die Probleme des menschlichen Herzens im Streit mit sich selbst vergessen. Sie allein machen gutes Schreiben aus. Nur darüber lohnt es sich zu schreiben. Nur das ist die Qual und den Schweiß wert.“ (William Faulkner)
(iz). Vor Jahren saß ich einen halben Tag in einem internationalen Flughafen fest. Ohne Hoffnung auf Ablenkung griff ich unter meinem Sitz nach einem zerfledderten Schinken; wahrscheinlich von einem ähnlich Gestrandeten vergessen. Und meine Laune wurde nicht besser, als ich „Fantasy Bestseller!“ auf dem Cover las. „Pfff“, dachte ich mir, „Fantasy ist für schwache Gemüter, die entkommen wollen.“
Wenn ich gewusst hätte, was sich da an jahrelanger Faszination (wurde ich auch zum Flüchtenden?) ankündigte, hätte ich es wohl gelassen. Der Schinken war der erste Band von George R.R. Martins Reihe „Das Lied von Eis und Feuer“ (irgendwann einmal sollen es sieben werden). Mit seinen mehr als 800 Seiten ist er fast so lang wie Tolkiens „Der Herr der Ringe“. Wer meint, dass es sich bei „Das Lied von Eis und Feuer“ um sogenannte Fantasy handelt, wird je nach Standpunkt entweder angenehm überrascht oder enttäuscht sein. Natürlich gibt es ein gewisses Maß an Fantastischem wie Sagen, Drachen, Zauberer etc., aber sie sind, wie Martin in einem Interview meinte, nur „Staffage“. Was für ihn zähle, sei die Realität der Charaktere. Jenes Herz im Streit mit sich selbst, von dem Faulkner sprach.
Künstliche Unterscheidungen
Für den Erfolgsautoren, der seit den 1970ern Fantasy, Horror und Science-Fiction schreibt, ist die Unterscheidung zwischen „Unterhaltung“ und ernsthafter Literatur „dumm“ und „schädlich“. Sie gehe zurück auf eine Fehde zwischen Robert Louis Stevenson und Henry James. „James hat gewonnen“, so George R.R. Martin, „und die Literatur in zwei Ströme gespalten. Es ist aber ein vollkommen falscher Gegensatz.“ Die Leser danken es ihm, dass er sich nicht darum schert, und hohe Erzählkunst mit einem beliebten Genre verbindet. „The Guardian“ berichtete schon vor geraumer Zeit, dass die weltweiten Verkaufszahlen längst bei weit über 58 Millionen Exemplaren lägen.
Es hat sich in den Welten der „Fandoms“ ein quasi professionelles Paralleluniversum aus Geschichten, Podcasts und Blogs entwickelt. Hier herrscht eine Leidenschaft, die vielen in der Realität abhandengekommen zu sein scheint. Von einer atemberaubenden Exegese, über Esoterik (ein Blog widmet sich der Kosmologie von „Game of Thrones“) bis zur rational-politischen Analyse (Martin als Metapher der heutigen Politik) löste er eine interaktive Welle der Reaktionen aus.
Aus Liebe zum Erzählen
Die Faszination von „Das Lied aus Eis und Feuer“ erwächst auch daraus, dass sich George R.R. Martin nicht um die holzschnittartigen Schablonen des Fantastischen kümmert. Bereits im ersten Band („Game of Thrones“) zerschlägt er gewohnte Erzählmuster. Er widmet die ersten Seiten drei Charakteren (es ist schier unmöglich, in fünf Bänden den Überblick zu behalten), die dann auch schon wieder spurlos verschwinden.
Martins Charaktere wirken glaubhaft, sind dreidimensional. Ihre Probleme bestehen nicht darin, Zwerge gegen Trolle zu führen, sondern in einer Welt aus Krieg, Intrige und Zerstörung zu überleben. In gewissem Sinne, so Martin, wollte er eigentlich einen historischen Roman schreiben. Allerdings bestünde hier das Problem, „dass das Ende schon bekannt ist“. Die Anklänge an das Mittelalter (neben anderen Referenzen) sind in seinem Epos unübersehbar.
Seine Helden und Schurken sind Teil ihres Schicksals, das sie dann mit brutaler Unausweichlichkeit erfüllen. In seinen Bänden reicht es nicht, wenn Helden zu den „Guten“ gehören. Sie müssen klug genug sein, um in seinem Narrativ überleben zu können. Gerade die Beliebten, wie die Starks, stürzen über ihre eigene Dummheit beziehungsweise Kopflosigkeit. Martin verweigert sich dem Kniff im fantastischen Roman, durch willkürliche Wendungen oder mit dem Eingriff durch das Magische das Unausweichliche abwenden zu wollen. „Wir alle haben die Fähigkeit für großes Gutes und großes Übel ins uns“, zitiert er William Faulkner. „Für Liebe und für Hass.“ Er wollte über diese Arten der komplexen Charaktere in fantastischer Form schreiben. „Und nicht nur darüber, wie alle Guten zusammenkommen, um den Bösen zu bekämpfen.“
Neben der angenehm brutalen Logik seiner Erzählweise zerstört er eine weitere Säule der simplen Erzählweise. Martins Epos verfügt über mehrere wiederkehrende Hauptcharaktere. In unregelmäßig wechselnden Kapiteln erzählen sie die Geschichte seines Universums. Anstatt, dass sie dem Muster des allwissenden Betrachters in der ersten Person folgen, wissen sie (und damit wir) von ihrer Welt und dem Geschehen immer nur so viel, wie sich ihnen offenbart. So werden die Leser nicht nur im Unklaren über den großen Ausgang gelassen. Sie wissen auch nie wirklich, welche Variante der „Realität“ ihnen hier begegnet.
Überhaupt: Man muss Martins „Das Lied von Eis und Feuer“ auch so lesen, dass einem in der Erzählung und ihrem Entfalten ständig verschiedene Zeiten – Gegenwart und Vergangenheit, die seine Welt verständlich machen – begegnen. Das hält den Geist geschmeidig. Sein Epos ist, bei aller Spannung und dem oft schrägen Humor (im Gegensatz zum ironiebefreiten Tolkien), keine leichte Kost. Der Leser (oder Hörer) darf nicht allzu sensibel sein. Martin hat seine Bücher für Erwachsene geschrieben. „Wenn man über Krieg schreibt, und meine Bücher handeln von Krieg: Kriege sind schreckliche Angelegenheiten. Es ist ein billiger Ausweg, eine Geschichte über Krieg zu schreiben, in der niemand stirbt.“ Die Erzählung ist nicht „korrekt“, weil es die zugrundeliegenden Gegenstände und die beteiligten Herzen auch nicht sind.
Eine Parabel für das Politische?
Jede Fiktion, so George R.R. Martin, müsse ein gehöriges Maß an Wahrheit in sich tragen, um machtvoll zu sein. Ob es Riesen, Elfen oder Zwerge sind, am Ende gehe es um „menschliche“ Charaktere, um das menschliche Herz. Als Solches ist es auch keine Übertreibung, die Welt aus „Das Lied von Eis und Feuer“ auch als Metapher für das Politische und seine Klasse zu lesen. Politische, militärische und ökonomische Entscheidungen prägen auch hier den Handlungsverlauf – vom Leid für die kleinen Leute, die Martin immer wieder am Rande auftauchen lässt, ganz zu schweigen.
Die bekannte US-Historikerin Barbara Tuchmann hat 1984 mit ihrem „Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam“ die politische Dummheit in Buchform gegossen. Darin finden sich historische Beispiele für die unzähligen Spielarten der Torheit unter den Herrschenden. George R.R. Martin tut das Gleiche; allerdings wesentlich spannender und unterhaltsamer. Von wenigen Ausnahmen abgesehen leiden Martins Helden sowie Schurken, und das sind nicht immer die augenfälligen, unter chronischer Kurzsichtigkeit.
„Natürlich ist es nicht ausreichend, ein guter Mann zu sein, um effektiv zu herrschen. Das war niemals der Fall“, meint Martin. Und diese Dummheit der Regierenden – seien sie „gut“ oder „schurkisch“ – führt er uns in ihrer schmerzhaften Logik vor Augen. Insbesondere gilt das für Erzählstränge, die in Westeros spielen. Auch im europäischen Mittelalter, das als Vorbild für diesen Kontinent diente, glänzten viele Herrschende durch bemerkenswerte Irrationalität.
Beinahe sämtliche Akteure – von den „Lichtgestalten“ bis zu den „Bestien“ – zeichnen sich durch Kurzsichtigkeit aus, was Parallelen zum Heute zulässt. Da spielt es auch kaum eine Rolle, ob sie hehre Absichten oder düstere Motive hegen. Am Ende (des zuletzt verfügbaren Buches) ist die Domäne der Sieben Königreiche zerrüttet. Im „Spiel um den Thron“ zerbersten die Throne, zerfallen die großen Herrschaften, greifen Anarchie und Bandenunwesen um sich und es kommt – auch hier eine Analogie – zum Erstarken des religiös motivierten Radikalismus.
Jenseits kurzzeitiger Triumphe erweisen sich Tywin und Cersei Lannister, die Tyrells, Boltons, Freys sowie die ihnen unterworfenen Vasallen als Getriebene, die kaum mehr als einem schnöden Eigennutz nachzugehen vermögen. Bar jeglicher Inspiration treibt jeder Schritt, den sie als Ausdruck ihrer Stärke wahrnehmen, nur weiter in den Untergang. Selbst der vermeintlich verschlagene Petyr Baelish „Littlefinger“ erweist sich bei genauerem Hinsehen als Neocon und Spekulant, der an die kreative Macht des Chaos glaubt, um letztendlich an die Oberfläche zu schwimmen.
Aus welchen Gründen auch immer (die Geschichte ist ja noch nicht am Ende…) sind es die beiden Grenzgänger George Martins, der Eunuch Lord Varys sowie der Zwerg und Vatermörder Tyrion Lannister, die das „Spiel um den Thron“ begreifen und zu spielen verstehen.