Journalismus im Zeitalter der Wut

Ausgabe 295

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(IPS). Die Nachrichtenindustrie beklagt seit Langem, dass die digitale Revolution ihr Geschäftsmodell zerstört hat. Heute geht ein Großteil der digitalen Werbegelder an Facebook und Google. Medienfirmen bemühen sich um eine Neuerfindung durch digitale Abonnements.

Diese Störung aber betraf nicht nur die Werbung. Sie hat auch Journalismus selbst fundamental verändert und herausgefordert. Geschichtlich spielte dieser eine zentrale Rolle in der Formulierung des öffentlichen Diskurses. Sie dienten als Informationsregulatoren und entschieden, was verstärkt wurde. Sie waren immer gut darin, die Aufmerksamkeit des Publikums zu bündeln und Engagement anzutreiben. Hier ging es jedoch auch um Ethik und Zweck.

Aber die neue öffentliche Sphäre hat eine andere Logik als die alte. Heute ist der Journalismus nur einer von vielen Akteuren, der Informationen über das Geschehen auf der Welt bereitstellt. Und nur einer von vielen Contentanbietern in einem medialen Ökosystem, das für Wut, Angst und andere Emotionen optimiert ist. In ihm haben ­Lügen schnellere Beine als die Wahrheit.

In dieser neuen Welt muss sich Journalismus ändern. Seine Praktiker müssen diese Landschaft kennen und Fallstricke vermeiden. Tun wir das nicht, läuft er Gefahr, ein Spiegelbild der zorngetriebenen Logik sozialer Netzwerke zu werden – anstelle eines Gegengewichts auf der Seite von Wahrheit und Vernunft. Angesichts dieser neuen Herausforderungen finden Sie hier fünf Lektionen für den Journalismus im Zeitalter der Wut.

Beziehen Sie Nachrichten, Blickwinkel und Quellen nicht von Twitter. Es ist im Vergleich zu größeren Plattformen sozialer Netzwerke eine kleine Klitsche. Aber im Nachrichten-Ökotop ist es sehr einflussreich – unglücklicherweise oft auf eine zerstörerische Art und Weise. Politiker und Experten sind hier überrepräsentiert. Das Gleiche gilt für Propagandisten und Manipulatoren. Trotzdem verbringen Journalisten hier ­übertrieben viel Zeit auf der Suche nach Blickwinkeln und Themen.

Die Architektur der neuen öffentlichen Sphäre erschwert Journalisten das Leben. Aber sie macht ihre Arbeit auch wichtiger. Twitter verzerrt Journalismus auch auf subtilere Art und Weise. Journalisten mögen Engagement. Dank der Natur dieser Plattform handelt es sich bei den Inhalten, auf die Journalisten auf Twitter am stärksten reagieren, in der Regel um Variationen des großen Themas des Tages – der Geschichten, über die bereits alle berichten. Verbringen sie zu viel Zeit auf dieser Plattform, kann das zu einer Verdummung in der Berichterstattung führen; in einer Zeit, in der wir unabhängigen, nachdenklichen Journa­lismus brauchen, der nach unerzählten ­Geschichten sucht.

Keine nützlichen Idioten. Die Werkzeuge der sozialen Netzwerke wurden geschaffen, um Menschen zu verbinden und um ihnen Ausdrucksmittel an die Hand zu geben. Es war niemals vorgesehen, wie der amerikanische Journalist und Denker Danah Boys schrieb, dass diese „Werkzeuge zu Waffen für die Radikalisierung von Leuten in Richtung Extremisten werden (…) oder zu Vehikeln für grausame Belästigung“.

Das ist jedoch passiert. Der schwierige Teil für Journalisten besteht darin, zu lernen, nicht zu nützlichen Idioten zu werden und denjenigen in die Hände zu spielen, die die Plattformen nutzen, um ihre Agenda zu erweitern. Dazu müssen Journalisten verstehen, wie Manipulationen in sozialen Netzwerken funktionieren. Boyd verwendete dafür das Beispiel des anti-muslimischen Pastors Terry Jones, der 2010 begann, soziale Netzwerke zu ­nutzen, um öffentlich zu drohen, den Koran zu verbrennen. Sein Ziel war es, die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich zu ziehen, um für seine Gemeinde mit rund 50 Mitgliedern zu werben.

Ein Netzwerk von Bloggern begann, über ihn zu schreiben, und schließlich gab die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton eine Erklärung ab, in der sie ihn verurteilte – was zu einer massiven Berichterstattung in den Medien führte. Als er schließlich Koranausgaben verbrannte, wurde das Ereignis von jeder Nachrichtenagentur berichtet. Der Vorfall provozierte Unruhen in Afghanistan und den Tod von 12 Menschen. Die Frage ist: War es notwendig und wichtig, dieses Spektakel abzudecken? Sollten die Medien über intolerante Provokationen durch Randfiguren berichten?

Der Unterschied zwischen politischer Polemik und relevanter Kritik. Die Architektur der neuen Öffentlichkeit macht den Job des Journalisten schwerer … und wichtiger. Er ist schwieriger, weil sie die Agenda nicht im Alleingang bestimmen können. Sondern auch, weil die Untergrabung des Journalismus zentraler Teil des politischen Programms vieler rechtsgerichteter, populistischer Parteien ist, die derzeit im Aufstieg sind. Angriffe auf Journalismus – als „Fakenews“ – durch Regierungschefs wie Donald Trump (USA), Rodrigo Duterte (Philippinen) und Viktor Orbán (Ungarn) sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines Musters.

Die Unterminierung der freien Presse steht im Zentrum der politischen Agenda von autoritären Parteien in aller Welt. Es ist ein schwieriger Balanceakt zu wissen, dass Journalismus angegriffen wird und gleichzeitig für berechtigte Kritik offen zu bleiben.

Berichterstattung über Big Tech. Der Aufstieg von Big Tech ist eine der wichtigsten Stories unserer Generation. Facebook hat mehr als 2,3 Milliarden monatliche Nutzer und bei YouTube loggten sich im letzten Jahr 1,8 Milliarden ein. Die Mehrheit beispielsweise der US-Amerikaner bezieht ihre Nachrichten aus sozialen Netzwerken. Das Gleiche gilt für die meisten europäischen Länder. Als Einzelne müssen Journalisten die Kraft und die Motivation finden, weiterzumachen, ohne sich zurückzuziehen oder allzu defensiv zu werden.

Niemals in der Menschheitsgeschichte gab es Unternehmen mit einer solchen Reichweite und Wirkung auf Information und menschliche Kommunikation. Diese neuen globalen Supermächte müssen nicht nur vom technischen Standpunkt aus betrachtet und überprüft werden. Einige Medien haben hier erhebliche Fortschritte gemacht. Andere bleiben verantwortungslos zurück. Das Handeln der Tech-Giganten beeinflusst Demokratie, Innovation und Politik selbst. Die Berichterstattung muss das ­widerspiegeln.

Sich an den Hass gewöhnen. Journalisten, die ihr Geschäft in der Vergangenheit erlernten, sind nicht an den Hass, die Kritik, Drohungen und Aggressionen gewöhnt, die sie heute in den sozialen Netzwerken und anderswo erleben. Da viele dieser Angriffe politisch motiviert sind, ist es unrealistisch zu glauben, dass sie einfach wieder aufhören werden. Stattdessen muss Journalismus ­lernen, unter diesen Bedingungen zu wachsen und sich auf diese neue Umgebung zu fokussieren.

Auf organisatorischer Ebene müssen Redakteure mit dem daraus resultierenden Stress und dem psychischen Druck umgehen. Medienunternehmen sollten intelligente und effiziente Sicherheitsroutinen für ihre Mitarbeiter entwickeln, sofern dies noch nicht geschehen ist. Auch wenn es nur ein kleiner Trost ist: Am Ende des Tages sind die Angriffe ein Zeugnis für die Arbeit, die sie leisten.

Guter Journalismus war niemals so wichtig wie heute – und niemals so hart. Er kann und wird überleben. Aber er muss lernen, sich in dieser neuen Umwelt zu orientieren. (Social Europe/IPS-Journal)

Karin Petterson ist Direktorin für öffentliche Politik bei der Schibsted Media Group. Sie war 2017 Nieman-Berkman-Klein-Akademiemitglied der Harvard Universität und ehemalige Politikchefin bei „Aftonbladet“, der größten schwedischen Tageszeitung.