Jugend ohne Gott

Ausgabe 270

Hass Netz
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iz). Meine Professorin für Neuere Deutsche Literatur sagte mir einst: „Sie können die Menschen mit nichts mehr schocken – es sei denn, sie sagen: Ich bin gläubig.“ Und sowohl ein Freund als auch ich hörten den Satz: „Du bist doch ein intelligenter Mensch – wie kannst du nur Muslim sein?“ Mein Cousin bekam auf einem Gymnasium in einem Aufsatz den Verweis an den Rand notiert, dass es am „Islam“ liege, dass viele Menschen im Nahen Osten Analphabeten seien. Meine damals 9-Jährige Cousine bekam in der Grundschule von ihren Mitschülern zu hören, dass alle Türken blöd seien, sie ließ sich das jedoch nicht gefallen und antwortete: „Das reicht!“
All dies geschieht in unserem Deutschland. Als Germanistikstudent habe ich bereits Artikel des SPIEGEL im Hinblick darauf analysiert, mit welcher Methode die islamische Lehre auf eine bestimmte Art und Weise dargestellt wird. „[W]as einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen. […] Und die Zeitungen drucken es nach und die Kindlein, sie schreiben es ab.“ Das ist nicht bloß ein Auszug aus Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“, der vor einiger Zeit neuverfilmt ins Kino kam. Es klingt für mich vielmehr nach einer Beschreibung der gegenwärtigen Zustände: „[W]enn der Halblinke seine Verteidigung entlastet und ein Flügelspiel forciert, wenn der Verteidiger auf der Torlinie rettet, wenn einer unfair rempelt oder eine ritterliche Geste macht, wenn der Schiedsrichter gut ist oder schwach, parteiisch oder parteilos, dann existiert für den Zuschauer nichts auf der Welt außer dem Fußball, ob die Sonne scheint, ob’s regnet oder schneit. Dann hat er alles vergessen.“ Was ist „alles“?“
Was vergessen die Menschen heute, wenn sie ins Stadion gehen, was vergessen sie während der WM, der EM oder der Champions League? Dass der Muslim sich der Aufklärung verweigere? Dass Frauen nur dann ernst genommen werden, wenn sie sich kleiden, wie es die Mehrheitsgesellschaft vorschreibt? Dass ein Bart schon ausreicht, um „scherzhaft“ als Terrorist bezeichnet zu werden? Dass es Orte auf der Welt gibt, die nicht nur, aber auch deshalb eine Hölle auf Erden sind, weil unsere Volksvertreter Waffen an Menschen verkaufen, die wiederum mit diesen Waffen Zivilisten bedrohen?
Es gibt so viele Fragen, die ich mir nach dem Lesen des Romans gestellt habe, denn er sprach mir in vielerlei Hinsicht aus der Seele: „Dass diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, war zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. Aber das Schlimmste ist, dass sie es überhaupt nicht kennenlernen wollen! Alles Denken ist ihnen verhasst.“
Ja, dieses Gefühl habe ich, wenn es um die Inhalte der islamischen Lehre geht. Ich habe das Gefühl, dass die absolute Mehrheit der Journalisten und der Teilnehmer der Talkshows, in denen über mich, einen türkischstämmigen deutschen Muslim, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, diskutiert wird, sich nicht dafür interessiert, was ich zu sagen habe, als ob den Menschen alles Denken verhasst ist. Genauso wie die Terroristen des Daesh die einzig richtige Auslegung des Qur’an für sich beanspruchen, so meinen sehr viele, mir erklären zu können, weshalb ich eine Reform erleben müsse, um mich vor mir selbst zu schützen. Dies sagen einige Zeitungen und Magazine und die Lehrer in der Schule schreiben es neben die Aufsätze und die Kinder in der Grundschule sprechen das nach, was sie gehört haben. So wie es schon Ödön von Horváth vorgezeichnet hat. Ihn so zu interpretieren, als kritisiere er einzig das NS-Regime, nimmt seiner Kunst ihre Zeitlosigkeit.
Worum geht es in seinem Roman? Es geht um einen Lehrer, der seine wahre Meinung für sich behalten muss, damit er sich und seine Eltern versorgen kann. Er behauptet, die „Neger“ seien auch Menschen und handelt sich damit eine Abmahnung ein, denn: Was in der Mehrheitsgesellschaft für wahr befunden wird, darf nicht angezweifelt werden. Er ist der Lehrer, der erkennt, dass die Schüler, die von der Doktrin ihrer Zeit verseucht sind, Aufsätze schreiben, in denen sie „mit schiefen Voraussetzungen falsche Schlussfolgerungen ziehen“. Heute sind es nicht mehr die Lehrer, die dies erkennen. Vielmehr erkenne ich als Student der Germanistik und Philosophie, wie einige meiner Professoren und die Lehrer meiner Verwandten und Freunde mit falschen Voraussetzungen falsche Schlussfolgerungen ziehen. Dies nennt man in der Mathematik Folgefehler. „Oh Allah, bitte verzeihe ihnen, denn sie sind unwissend!“, sagte Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, über diese Art von Menschen.
Was ist die falsche Voraussetzung? Dass Menschen, die sich als Muslime bezeichnen, automatisch Experten der islamischen Lehre seien; dass Länder des Nahen Ostens, solche, in denen Frauen verwehrt wurde, Auto zu fahren, ein Beispiel dafür seien, was die islamische Lehre, dem Qur’an entnommen, vorschreibe. Das ist schlichtweg falsch. Aus dieser Annahme folgt, was die Schüler des Lehrers in von Horváths Roman schreiben, nämlich „dass wir Weißen kulturell und zivilisatorisch über den Negern stehen […]“. Wer mit der Annahme, überlegen zu sein, in eine Diskussion geht, der ist selbstherrlich, arrogant und überheblich – ganz gleich, wer er ist. Der Prophetengefährte Ali – die Pforte des Wissens wie er vom Propheten, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, bezeichnet wurde –, möge Allah zufrieden mit ihm sein, sagte: „Erkenne das Wahre nicht durch den Menschen; erkenne zuerst das Wahre, dann wirst du seine Anhänger erkennen.“
Das heißt ins heutige Deutsch übersetzt: Schließe nicht von den Muslimen auf Inhalte der islamischen Lehre. Der Sänger Cat Stevens sagte aus, dass er nicht Muslim geworden wäre, wenn er von den Muslimen auf die islamische Lehre geschlossen hätte. Das ist ein Schlag ins Gesicht für die Muslime dieser Zeit, doch den müssen wir alle uns gefallen lassen. Es ist nicht die islamische Lehre, die reformiert werden muss, es sind die Muslime dieser Zeit, die reformiert werden müssen. Sie müssen lernen, dass das Wissen das wertvollste Gut ist, dass die Dichtkunst das ist, was bereits die Gefährten des Propheten praktiziert haben; dass nicht der Rap, sondern die Dichtkunst das eigentümliche Handwerk des Muslims ist. So dichtete Ali: „Das Lernen ist die Ehre der Menschheit, Die Gelehrten sind Lichter auf dem Weg zur Wahrheit; Der Mensch ist das wert, was er weiß, nicht mehr – Der Narr wird sein hartnäckigster Feind sein, Wissen ist des Menschen Hoffnung auf ewiges Leben, Ein Mensch kann sterben, doch die Weisheit lebt ewig.“
Und Allah, der Erhabene, sagt im Qur’an: „Sind solche, die Wissen besitzen, denen gleich, die es nicht besitzen?“ (Az-Zumar, 9)
Wie sieht es in der Mehrheitsgesellschaft heute aus? Sie tut das, was auch der Lehrer im Roman, dem Ratschlag eines Freundes folgend, gerne tut: „Forsche nicht im Verborgenen, trink lieber Deinen siebten Schnaps!“ Manchmal überkommt mich der Gedanke, dass das Stadion für uns das ist, was das Kolosseum einst war und dass der Alkohol das ist, was das Opium einst war: Eine Ablenkung der einzelnen Bürger, damit diese nicht nachdenken. So schreibt der Schüler, der Partei für die Verstoßenen der Gesellschaft ergreift: „‘Ja’, sagt der Z, ‘er kann es nämlich nicht vertragen, daß man über sich nachdenkt. Da wird er wild’.“
Wie viele Menschen ertragen keine Stille mehr. Ständig muss die Musik laufen; der Fernseher muss an sein, damit es nicht zu ruhig im Hause ist; besser mit schlechten ‘Freunden’ möchte man zusammen sein, als alleine zu sein. So sieht eine Gesellschaft aus, die nicht nachdenken möchte. Unter vier Augen trauen sich die Menschen, etwas zu sagen und zu denken, doch sobald sie in die Öffentlichkeit treten, trauen sie sich nicht mehr, da es Pflicht ist, sich politisch überkorrekt auszudrücken; da jeder Satz, der zweideutig formuliert wird, gegen einen verwendet werden kann. Dies hat zur Folge, dass die Menschen das Gefühl bekommen, nicht mehr die Wahrheit sagen zu können, da sie sonst um ihre Stellung und ihr Ansehen bangen müssen. Frust staut sich. Frust, nicht frei zu sein. Frust, nicht zu sich selbst stehen zu dürfen und dieser Frust entlädt sich in zornerfüllten Aussagen und dem Satz: „Das wird man wohl noch sagen dürfen.“
Eine Gesellschaft, in der nicht über innere Missstände gesprochen wird, sondern Banalitäten Schlagzeilen machen, gebiert Menschen, die ihren Frust auf jemanden projizieren müssen.
Was sind Banalitäten? Irgendein sogenannter Promi hat wieder eine Affäre, bekommt ein Kind, diese hat mit jenem Schluss gemacht – doch solange es die unmündigen Bürger gibt, die Interesse daran finden, wird sich nichts ändern. „Vernachlässigt und elegant, waren sie geil auf Katastrophen, von denen sie kein Kind bekommen konnten. Sie lagen mit dem Unglück anderer Leute im Bett und befriedigten sich mit einem künstlichen Mitleid.“
Wie endet der Roman? Der Lehrer, der sich, aus Angst darüber, seine Stellung zu verlieren, nicht traute, seine Gedanken zu äußern und zu seinen Handlungen zu stehen, gesteht, was er getan hat: Während des Camps mit der Klasse beobachtet er wie der Schüler Z heimlich Verstoßene aus der Gesellschaft trifft und sich in die Anführerin der 3-Bande verliebt. Eine 15-Jährige, die mit zwei jüngeren Jungen Diebstahl begeht, um überleben zu können. Dies schreibt Z alles in sein Tagebuch. Das Schloss dieses Tagebuches wird vom Lehrer gelesen. Doch der traut sich nicht, sich zu dieser Handlung zu bekennen und schweigt dazu, dass der Mitbewohner des Z verdächtigt wird. Dieser Mitbewohner wird ermordet und alle denken, dass es entweder Z war oder die Anführerin der Bande. Doch die Mehrheit neigt zu dem Glauben, dass es die Anführerin war und Z sie nur beschützen wolle. Doch auch Z glaubt insgeheim, dass es die Anführerin war.
Sogar der, der verliebt ist, glaubt, dass die Bedürftigen die wahren Verbrecher sind. Die finanziell stärkste Schicht zeigt, wie sozial schwach sie ist: „Denen trau ich alles zu. Es ist Unkraut und gehört vertilgt!“ Die Begriffe „sozial schwach“ und „sozial stark“ bedeuten heutzutage, dass viel Geld Menschlichkeit und wenig Geld Barbarei zur Folge hat. Ein Armutszeugnis der Sprache einer Gesellschaft. „Redlichkeit gedeiht in jedem Stande“, hieß es noch in Schillers Werk, der gestorben zu sein scheint.
Der Lehrer entscheidet sich, vor Gericht die Wahrheit zu sagen. Er schließt Frieden mit seinem Gewissen und mit Gott, der in diesem Roman als Synonym für das Gewissen gilt. Erst als er das tut, erlangt der Lehrer die Freiheit, die Wahrheit zu sagen. Er sagt die Wahrheit und löst damit aus, dass ihm darin folgen. Der Lehrer wird nicht wegen Mordes, doch wegen Vertuschung angeklagt werden, doch vorher möchte er zur Überführung des wahren Mörders beitragen. Der wahre Mörder, ein Schüler, der vereinsamt zu keinen Gefühlen in der Lage ist, bringt sich um und hinterlässt eine Nachricht. Er sei vom Lehrer in den Tod getrieben worden, weil dieser die Wahrheit kenne. Die anderen sind entlastet und der Lehrer geht nach Afrika.
Verlustängste trieben alle an zu lügen. Verlust des Ansehens, des Geldes, der Freunde, der Stellung. Diese Ängste machten jeden unmündig. „Der Teufel droht euch Armut an“, sagt Allah im Qur’an. Bis er nicht die Wahrheit sagte, glaubte der Lehrer mehr an den Teufel, wie er sich selbst auch eingesteht: „Ich glaube an den Teufel, aber nicht an den lieben Gott.“ Wessen Angst vor Verlusten ihn davon abhält, mit Gewissen zu agieren, der glaubt mehr an den Teufel als an Allah. So sagt eine Weisheit der Sufis: Jede Furcht kommt vom Teufel, bis auf eine: Die Gottesfurcht (Taqwa). Die (Ehr-)Furcht vor Allah zwingt einen, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn sie einen selbst belastet. Denn dadurch fühlt man sich besser. So wie der Lehrer. Er begann wieder zu fühlen.
Mit den Worten Al-Ghazalis, der 1111 n. Chr. verstorben ist, möchte ich abschließen: „Wenn diese Worte keine andere Auswirkung hätten, als dich dazu zu veranlassen, an deinem überlieferten Glauben zu zweifeln, damit du selbst (über die Wahrheit) nachdenkst, so wäre dies für dich sehr nützlich; denn der Zweifel führt zur Wahrheit. Wer also nicht zweifelt, denkt nicht nach, und wer nicht nachdenkt, sieht nicht, und wer nicht sieht, bleibt in Blindheit und Irrtum.“