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Kein Recht auf Frömmigkeit?

Ausgabe 270

Foto: bs-matsunaga, Pixabay | Lizenz: CC0 Public Domain

(iz). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begannen die französischen Philosophen ihren Kampf gegen „die“ Kirche, um die Vernunft gegen kirchliche Hierarchie und Dogmatismus durchzusetzen. Sie hofften, mit Hilfe ihrer Rationalisierung die Völker in die Zukunft führen zu können und die überholten europäischen Institutionen wenn nicht abschaffen so doch wenigstens ins geschichtliche Abseits drängen zu können. Voltaire und andere Denker jener Zeit meinten, dass der Schritt in die Moderne auch gegen die Analphabeten unter den Bauern durchgesetzt werden müsse, und sei es mit der Hilfe einer „aufgeklärten Despotie“.
Die westeuropäischen Kolonialmächte bemühten sich um das gleiche Ziel, indem sie ihr Schulsystem exportierten beziehungsweise die besten Absolventen an ihre hei­mischen Hochschulen holten. Gleichzeitig schufen sie nach ihren politischen Bedürfnissen Staaten, die den Erfordernissen moderner Verwaltungseinheiten entsprachen. Zahl­reiche (islamische) Reformer in den neuen Staaten folgten diesem Ansatz, dem der türkische Reformer Ausdruck verlieh, als er schrieb: „Es gibt verschiedene Länder, aber nur eine Zivilisation. Die Voraussetzung für den Fortschritt ist die Teilhabe an eben dieser Zivilisation.“
Da die Stämme und Völker in den Kolonialgebieten keine Kirche kannten, die man um des Fortschrittes Willen verdrängen konnte, übertrugen die Kolonialherren das in Westeuropa neu entstandene Konzept der Religion auf alles, was ihrer Meinung dem entsprach. So wurden für den Hinduismus beziehungsweise den Islam Religionen geschaffen; und es wurden jene Religiösen gefördert, die einen aufgeklärten Begriff von ihrer Religion hatten. In dem sich so entwickelnden dialogischen Miteinander dominierten nicht die „Bauern“, sondern eher die Intellektuellen, die sich mit der europäischen Philosophie durch ihr Studium auskannten oder zumindest deren Begriffe beherrschten.
Hinzu kam, daß sich ‘Ulama wie Intellektuelle vor allem mit den philosophischen Konzepten Westeuropas auseinandersetzten als mit den Diskursen der christlichen Theologen. Eine der Konsequenzen war und ist, dass der christlich-theologisch begründete Widerstand gegen die beiden großen europäischen atheistischen Totalitarismen, den Nationalsozialismus und Bolschewismus, nicht zur Kenntnis genommen wurde und wird. Dies gilt auch für die Formen der Widerstandes unter den Gläubigen: den unter voller Tarnung praktizierenden orthodoxen Priester in der Sowjetunion beziehungsweise die preußischen Offiziere des 20. Juli 1944, deren geistliche Rechtfertigung von Theo­logen geschrieben worden war.
Während in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg die kirchlich geprägten theologischen Fakultäten ihre Arbeit fortsetzten, gestalteten die Gläubigen aller Konfessionen ihren Alltag, auf dem ihnen vertrauten Niveau, das nur in geringem Umfang den akademischen Diskurs widerspiegelte. Als jedoch die nordafrikanischen und türkischen Gastarbeiter ihr Glaubensleben gemäß ihren Traditionen zu gestalten begannen, da dominierten in dem aufkommenden Gespräch die akademischen beziehungsweise orientalistischen Themen unter dem soziologischen Anspruch des Rückzuges der Religionen, den die Sozialwissenschaftler seit Jahren in den christlich geprägten Gesellschaften nachgewiesen hatten.
Die von vielen Menschen gelebte Alltagsfrömmigkeit wurde einfach übersehen, während die exilierten orientalischen Intellektuellen und christlichen Wissenschaftler die schlichte Orthopraxie bei den Gastarbeitern als mitgeschleppte Vergangenheit ansahen und diskriminierten, verfolgte der „tiefe Staat der Türkei“ die Umsetzung der Frömmigkeit in der Suche nach Gebetsräumen mit Mißtrauen. Die Gläubigkeit der anatolischen „Bauern“, die teilweise über Jahre in den Gecekondus der Großstädte gelebt hatten, wurde daher kein Dialogpartner. So übersah man geflissentlich die Versuche jener Frommen, eigene Gemeinschaften zu bilden. Ihre „niveaulosen“ Gesprächsangebote wurden im Rahmen der Normen gesellschaft­licher Höflichkeit zur Kenntnis genommen. Was sollte man auch mit der Orthopraxie eines Said Nursi oder des Schaikhs einer Tariqa, des Mystikers oder des schwarzafrikanischen Muriden tun?
Schließlich beschäftigte man sich auch nicht theologisch beziehungsweise religionssoziologisch mit der Frömmigkeit der „Bauern“ der Hocheifel oder des Bayrischen Waldes. Nur als religiöse Themen in der sogenannten gesellschaftlich Mitte diskutiert wurden, da sprach man erstaunt von der Rückkehr der Religion, ohne die orthopraktischen Formen im Alltag der Muslime ernstzunehmen. So gehörte nach allgemeiner Auffassung das Beten zum Privaten und in den kirchlichen Raum, aber nicht in die ­Öffentlichkeit; und die Schule sowie das ­gesamte Bildungssystem gehören eben zum diesem öffentlichen Raum. Das „halal“-Pausenbrot störte niemanden, aber das Beten?
Als die Sprecher der frommen Muslime darauf hinwiesen, dass die grundgesetzlich vereinbarte Religions- und Glaubensfreiheit doch wohl auch ihre Frömmigkeit meine, gab es keinen Widerspruch, aber auch keinerlei Interesse, die Frage in den öffentlichen Diskurs zu integrieren. Der Einwand der Frommen lief in die gesellschaftliche Leere. Die Folge war und ist, dass sich in den Moscheevereinen der Eindruck verstärkte, dass man sie dulde; und tolerieren eben dies meine. Die Verletzungen des Gerechtigkeitsgefühles wurden schlicht übersehen beziehungsweise überhört.
Dazu gehörte, dass man die abendlichen Iftar-Einladungen während des Ramadans gerne annahm, allein um die Wählerstimmen bei den jeweiligen Wahlen für sich zu gewinnen. Kommentarlos genossen Politiker, atheistische Mitbürger und Kirchenvorstände die „halal“ zubereiteten Speisen, zu denen der Tee gehörte und nicht irgendetwas Alkoholisches. Die an solchen Abenden gelebte orthopraktische Frömmigkeit wurde höflich zur Kenntnis genommen, aber nicht einmal gesprächsweise angesprochen. Für manchen Ratsherrn und manche Dame aus dem Rathaus gehörte das Iftar zur türkischen oder arabischen Folklore. Sie sahen die hier gelebte Frömmigkeit nicht; hingegen taten die Gläubigen ihre religiöse Pflicht, den Nachbarn einzuladen. Mit Stolz berichteten sie in die Ursprungsländer, wer alles beim muslimischen Essen dabei war.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Muslime die religiösen Gebote mehr oder weniger in ihrem Alltag einhalten, führt in muslimischen Mehrheitsgesellschaften beziehungsweise in frommen Gruppen zu einem spezifischen ­Lebensstil, der allerdings von den ‘Ulama nur dann als fromm bezeichnet wird, wenn der einzelne oder die einzelne Gläubige (im Herzen) die Absicht, Nijja, fasste, gemäß den Geboten zu handeln. Die folkloristische Verhaltensanpassung imponiert zwar dem nicht-muslimischen Besucher oder Touristen, aber mehr auch nicht. Orthopraktische Gläubigkeit ist daher für Europäer ein schwer einzuschätzendes Phänomen. Charakteristische Beispiele sind das Gebot im Qur’an, die Eltern zu ehren und höflich zu ihnen zu sprechen (Al-Isra, 23); oder nicht fremde Häuser ohne Erlaubnis zu betreten (An-Nur, 27), die solche Selbstverständlichkeiten sind, dass den meisten Muslimen gar nicht bewußt ist, dass es Glaubensgebote sind. Dies gilt auch andere Gebote im Qur’an und für das beispielhafte Benehmen des ehrwürdigen Propheten ebenso. Aufgrund der bei vielen Muslimen geringen islamischen Bildung sind sie meist nicht in der Lage, bei Nachfragen auf die qur’anische Offenbarung zu verweisen, das heißt, korrekt zu antworten. In der Regel heißt es: „Das ist eben bei uns so.“
Da das schlichte orthopraktische Verhalten nur selten Gegenstand theologisch akademischen Diskurses ist und in der westeuropäischen Öffentlichkeit unter den diskreditierten Begriff der Schari’a subsummiert wird, wurde es im Laufe der Jahre zur Aufgabe des Unterrichtes in den Moscheen und des schulischen Religionsunterrichtes. In den ersten Klassen der Grundschulen mag es relativ einfach sein, hingegen wird die islamische Orthopraxie in der Oberstufe der weiterführenden Schulen zu einer pädagogischen, didaktischen und theologischen (Kalam) Herausforderung, die von den Moscheevereinen häufig nicht akzeptiert wird.
Zudem müsste die Variationsbreite des alltäglichen Verhaltens offen und ehrlich angesprochen werden. Sie wird im Allgemeinen mit dem Schlagwort der Säkularität verdrängt. Wer den orthopraktischen Gewohnheiten nur bedingt nachkommt, der gilt den Frommen als säkular und damit an die Gesellschaft angepasst. Manche akademisch ausgebildeten Lehrkräfte ziehen sich in diesem Konflikt auf das zurück, was sie im Studium als Ethik kennengelernt haben, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Örtliche und regionale Arbeitskreise engagierter muslimischer Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich, die Diskurslücke in der Weise zu schließen, dass sie sich nicht nur zum offenen Gespräch treffen, sondern auch ihre Unterrichtsentwürfe frei austauschen. In Nordrhein-Westfalen gelingt dies vor allem dem Suffa.
Wenn man den hier nur in Umrissen dargestellten Sachverhalt in einen juristischen Kontext bringen möchte, um den muslimisch gläubigen Staatsbürgern einen (schul-)rechtlichen Rahmen zu geben, dann stoßen die Sprecher der Muslime auf massive Probleme; während die Frommen in den Moscheen und den Tariqas rasch behaupten: „Die wollen gar nicht.“ Hingegen verweisen selbst wohlwollende säkulare Gesprächspartner darauf, dass eine allgemeine, universelle Glaubensethik nicht in juristische Normen zu fassen ist. Hier ist die islamische Tugend der Geduld gefragt. Aber zugleich auch das, was die Psychologie unter „Frustrationstoleranz“ versteht, welche die Mehrheit der gläubigen Minderheit mit Rückzug aus dem gesellschaftlichen Diskurs bewältigt.