Keine politische Ideologie

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(iz). Der Islam ist keine politische Religion. Aber er ist eine ­Religion, die zum politischen Engagement aufruft, insbesondere in den Bereichen Frieden, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung. Durch die transformative Kraft der Nächstenliebe soll diese Welt zu einem menschenwürdigeren Ort verwandelt werden.

In einer Demokratie sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Reli­gionsgemeinschaften als zivile Akteure an der Gestaltung ihrer Gesellschaften mitwirken, in anderen Worten politisch teilhaben. Dies gilt auch für die mus­limischen Gemeinschaften.

Dieser Tage stellt das diffuse Schlagwort vom „politischen Islam“ und die Einrichtung von Dokumentationsstellen zum politischen Islam dies in Frage. 20 Jahre zielloser Islamdebatten hierzulande sollten zumindest zu der Einsicht geführt haben, dass unpräzise Begriffe in der breiten Bevölkerung die muslimischen Mitbürger im Allgemeinen unter Generalverdacht stellen. Wer Begriffe verwendet muss sich auch im Klaren darüber sein, welche Bedeutung sie entfalten können. Zwei Jahrzehnte fruchtloser Islamdebatten hätten zumindest zu der Erkenntnis führen können, dass der Islam kein handelndes Subjekt ist. Es sind Muslime, die je nach ihrem Verständnis der religiösen Quellen handeln. Das Spektrum reicht von Extremisten bis Friedensstiftern; gemeinsam ist ihnen das politische Engagement. Der Islam kann somit zum einen nicht grundsätzlich Quelle von Negativzuschreibungen sein und zum anderen ist es unsinnig vom „politischen Islam“ im Singular zu sprechen.

Ziel jener Dokumentationsstellen soll es künftig sein zu eruieren, welches poli­tische Engagement akzeptabel ist. Nicht nur, dass man fragen könnte, warum hiervon alle anderen Religionsgemeinschaften ausgenommen sind, man könnte fragen, weshalb hierüber überhaupt Unklarheit besteht. Jedes politische Engage­ment, das sich gegen die freiheitliche ­demokratische Grundordnung richtet, ist illegitim.

Und so verstärkt sich mein Verdacht, dass es hier wieder einmal um den „Ohrwurm“ von der Loyalität der Mitbürger muslimischen Glaubens geht. „Nur stille Muslime sind loyale Muslime“, so lautet der unausgesprochene Lackmustest in diesem Land. Vollwertiger Deutscher ist man erst, wenn die andersartige religiöse Identität nicht mehr sichtbar ist. Und wo dies nicht gelingt, bemühen sich Mitbürger aus der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung durch Moscheeanschläge und Gewaltakte gegen Muslime, insbesondere kopftuchtragende Mitbürgerinnen, nachzuhelfen. 824 solcher ­Gewaltverbrechen waren es offiziell allein im Jahr 2018.

Immer wieder geht es im Kern um folgende Frage: „Warum könnt ihr nicht so sein wie wir?“ Oder in anderen Worten: „Warum könnt ihr eure religiöse Identität nicht vergessen?“ Warum reagiert die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung stets dermaßen brüskiert auf die Sichtbarkeit islamischer Religiosität? Weshalb benötigt man Muslime so sehr als ­Abgrenzungsfläche dessen, was nicht Deutsch sein kann und darf? Weshalb ist man unfähig in Muslimen zu allererst einfach nur Mitbürger zu sehen? Eine Muslima sagte mir gegenüber einmal: „Ich habe kein Problem mit meinem Kopftuch, aber die Gesellschaft macht es zunehmend zu einem Problem für mich.“ Auf der einen Seite fordert man auf ­übergriffige Weise von den muslimischen Mitbürgern, sie sollen im Alltag nicht als Muslime auffallen, zugleich werden ­Muslime hierzulande ständig als Gruppe abgewertet.

Spätestens ab hier kommt der Verweis seitens der Mehrheitsbevölkerung, die hiesigen Muslime würden sich allzu gerne in eine Opferrolle begeben. An dem Vorwurf ist manchmal tatsächlich etwas Wahres dran, aber zugleich kann nicht geleugnet werden, dass es tatsächliche Opfer gibt. Nach der Kölner Silvesternacht islamisierte Alice Schwarzer die Übergriffe von alkoholisierten Männern mit mehrheitlich migrantischen Wurzeln zu einem geplanten Gewaltakt schriftgläubiger „Scharia-Muslime“, um Frauen und damit den Westen zu erniedrigen. Alkoholisierte schriftgläubige Muslime? Denkt man in Deutschland an musli­mische Männer, so denkt man nicht an liebevolle Ehemänner und gute Väter. Der Muslim ist in der hiesigen Wahrnehmung per se ein Frauenunterdrücker und Schläger. Die gleiche Strategie wenden Vertreter der Mehrheitsbevölkerung auf die Migrantenkriminalität an und blenden dabei aus, dass nicht Religion, sondern ein von Armut, Ungleichheit und Bildungsferne geprägtes Umfeld kriminelles Verhalten hervorbringen kann. Sind also Muslime nicht tatsächlich Opfer von Stereotypen, die von Vertretern der Mehrheitsbevölkerung mantraartig wiederholt werden?  Sind diese Verletzungen kein Akt von Gewalt? Werden Moscheen nicht angegriffen, muslimische Mitbürger nicht ermordet? Warum tut sich die Mehrheitsbevölkerung so schwer dies anzuerkennen und Mitgefühl zu empfinden?

Stattdessen bekommt man einen perversen Umkehrschluss zu hören: „Weil ihr so seid…“, der aus Opfern Tätern macht. Hätte die Frau kein Kopftuch getragen, so wäre ihr nicht Gewalt ­angetan worden. Mit wenigen Worten ist das Opfer Schuld an der Gewalt, die es erlitten hat, während der Täter, stellvertretend für die Mehrheitsbevölkerung, aus der Schuld genommen und entlastet wird. Muslimische Mitbürger provozieren halt, so einfach ist das.

Die Mehrheitsbevölkerung hat in den vergangenen Jahrzehnten ihren muslimischen Mitbürger einen Diskurs nach dem anderen aufgezwungen, sich aber gescheut selber in den Spiegel zu schauen. Ein nicht geringer Teil unserer nichtmuslimischen Mitbürger sind ­Rassisten. Selbst wenn sie es nicht sein wollen und anders sehen, sie zeigen ihren Rassismus in ihrem Fühlen, ihrem ­Denken, ihren Worten und ihren Handlungen. Wer Seite an Seite mit Neonazis demonstriert, ob in Dresden bei ­PEGIDA oder bei Corona-Demos ist nicht Teil der demokratischen Gesellschaft dieses Landes, sondern stärkt die Herausbildung und Verfestigung rassistischer Strukturen, angefangen in den Köpfen der Menschen über Hetzjagden in Chemnitz bis hin zum Anschlag auf die Synagoge in Halle. Statt sich als ­Gesellschaft hierfür zu schämen und zu distanzieren, verharmlost man in der Mehrheitsbevölkerung diese Entwicklung, indem man von „besorgten Bürgern“ spricht.

Ein weiterer Evergreen der Mehrheitsbevölkerung lautet, Muslime würden ständig ihr Muslim sein zum Thema ­machen und Sonderrechte einfordern. Interessant, denn die Diskurshoheit liegt bei der Mehrheitsbevölkerung, die den Islam seit zwei Jahrzehnten als ihr Fetisch entdeckt hat. Der Islam wurde nicht von Muslimen zur Tagesordnung gemacht. Muslime spielen das Spiel zwar mit, sie haben es aber nicht entworfen. Und je mehr die Sichtbarkeit des Islam zu einem Marker wird, desto mehr betonen muslimische Mitbürger in ihrem Auftreten ihre religiöse Identität als Zeichen ihres mutigen Widerstandes gegen dieses grundgesetzwidrige Diktat.

All die Stereotypen zusammen ergeben ein wirkmächtiges Bild von den Mus­limen, dem sich auch die Betroffenen nicht entziehen können. Ein Muslim erklärte mir kürzlich: „Als Muslim bin ich aufgrund der Zuschreibungen ständig gezwungen mir Gedanken zu machen, wie ich auf Nichtmuslime wirken könnte, und muss mich ihnen daher als friedfertig beweisen. Ich muss darauf achten, was, und vor allem, wie ich etwas sage, damit ich nicht mit dem fiktiven Bild des jungen, männlichen und aggressiven Muslims assoziiert werde.“ Wenn man zum nichtmuslimischen ­Bevölkerungsteil gehört, ist es eines der Privilegien, sich über diesen Status keine Gedanken ­machen zu müssen.

Tatsache ist, dass Deutschsein wird als weiß und (kulturell) christlich oder atheistisch konstruiert. Dass diese Vorstellung seit längerem erodiert und der Deutsche vom Phänotyp her heute auch braun oder schwarz und religiös mus­limisch sein kann, löst ein tiefes Unbehagen in der bisher als selbstverständlich erachteten Selbstwahrnehmung der Mehrheitsbevölkerung aus.

Die Loyalität der muslimischen Mitbürger sollte niemals infrage gestellt ­werden. Aber Loyalität ist nicht gleich­zusetzen mit Schweigen oder Unterwerfung. Dieses Land braucht dringend poli­tisch denkende Muslime, die eine Umwälzung der destruktiven, menschenverachtenden Werte und Strukturen anstreben. Martin Luther King forderte das Gleiche 1967 in seiner Rede „Why I Oppose the War in Vietnam“. Dass Muslime dies also aus ihrem Glauben heraus tun, ist nicht von Belang. Wichtig ist für die demokratische ­Gesellschaft, ob und wie sie bereit ist, mitzuwirken an einer menschenwürdigeren Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor bei der Stiftung ­Weltethos. Zuletzt erschien von ihm: „Worte für ein inklusives Wir: Klartext zur „Muslimfrage“.