„Knacks-Welt“

Ausgabe 249

Foto: Marco Maas | Lizenz: CC-BY-ND 2.0

(iz). In Krisenzeiten sind Brückenbauer nötig, gerade in diesen Zeiten werden sie aber auch schmerzlich vermisst. Mit einiger Bestürzung hat die Redaktion der ‘Islamischen Zeitung“ den Tod von Roger Willemsen vernommen. Mit ihm verliert Deutschland nicht nur einen Meister der deutschen Sprache, sondern auch einen politischen Kopf, der jenseits der dialektischen Grabenkämpfe unserer Zeit zu denken vermochte.
Ereignisse wie der 11. September erzeugen wohl, um es in der Sprache des brillanten Schriftstellers zu formulieren, einen Knacks. Bis heute haben der Terrorismus und seine Folgen das gesellschaftliche Leben in Deutschland erschüttert. Aus dem Anschlag ergaben sich intellektuelle Herausforderungen, die Roger Willemsen wie kaum ein anderer annahm, mit Abscheu gegenüber dem Terror, mit Empathie für die Opfer und mit einem ganz eigenen Gerechtigkeitssinn. Jeder, der nach den Anschlägen von New York nicht von „grauenhaften und durchgeknallten Muslimen“ sprach, war irgendwie politisch inkorrekt, erklärte damals Roger Willemsen im Interview mit der Deutschen Welle die Ausgangslage. Er war da ganz anders.
2006 veröffentlichte Willemsen mit „Hier spricht Guantanamo“ ein beeindruckendes Dokument seiner  Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Willemsen, der in seiner Karriere Tausende Menschen interviewt hatte, scheute sich auch nicht vor den Begegnungen mit ehemaligen Lagerhäftlingen. Bevor Muslime auf die Idee kamen, den Rechtlosen und Schuldlosen eine Stimme zu geben, war Willemsen schon vor Ort. Er interviewte diese Menschen mit großer Unvoreingenommenheit und beschrieb damit für eine breite Öffentlichkeit erstmals ihr persönliches Schicksal.
Ich erlebte Willemsen im Jahr 2006, zusammen mit Eren Güvercin, im Rahmen der LitCologne in einem längeren Interview in Köln. Das Gespräch bleibt uns in unvergesslicher Erinnerung, da er wie kaum ein anderer Nachdenklichkeit, aber auch Witz und Elan, verkörperte. Er erzählte, um nur ein Beispiel zu nennen, an diesem Tag von einer Szene in Jordanien. Einer seiner Interviewten unterbrach das Gespräch, ging nach nebenan, breitete seinen Gebetsteppich aus und betete, kam zurück und sagte zu ihm: „Ich sagte vorhin, es war der 20. Juni 2000, ich muss mich korrigieren, es war der 21.“ Wir, so Willemsen zu uns, wüssten nicht einmal, ob es Juni oder Juli gewesen sei. „Die Verpflichtung auf die Wahrheit, und das aus dem Gebet zu entwickeln, empfand ich als beeindruckend“, schloss er damals diese Szene ab. Willemsen, der ein Leben lang gereist war, hatte tatsächlich einen unerschöpflichen Schatz solcher Begegnungen und Anekdoten. Bücher wie „Reisen an die Enden der Welt“ geben davon Zeugnis ab.
Natürlich hatte er auch auf dieser LitCologne in Köln wieder ein volles Programm. Er verlieh Karl May-Preise, las aus seinen Büchern vor, oder brillierte als Conferencier auf einer Literatur-Gala. Überhaupt war er ja nicht nur Buchautor, sondern Fernsehmoderator und Entertainer. Er erhielt unter anderem den Bayrischen Fernsehpreis und den Adolf Grimme Preis.
Aber Willemsen bot eben auch einen anderen Abend, in der „Kulturkirche“ an, zu dem er keine „gute Unterhaltung“ wünschen konnte. Er präsentierte auf seiner Veranstaltung ungerührt die Rechnung amerikanischer Freiheitsexportpolitik: Guantanamo. Viele Häftlinge seien unschuldig, stellt er fest. Aber, natürlich gäbe es auch wieder neunmalkluge Kommentare, so die Thüringer Allgemeine, die „Bushiger als Bush“ immer noch die Unschuld dieser entlassenen Häftlinge in Frage stellten. Wer zum Objekt des Sprachwitzes dieses Mannes wurde, musste sich immer auf etwas gefasst machen.
Der Abend lebte so von Willemsens Glaubwürdigkeit und Absichtslosigkeit. „Er habe nur einfache Fragen gestellt“ sagte er. Jeder von uns hätte sie stellen können. Nur, er hat es einfach getan. Warum? Im Nebensatz erwähnte er das Engagement von Beckett, der neben dem „Warten auf Godot“, viel Zeit und Feuer für Amnesty International verwandt habe. „Statt immer wieder neue Hitler-Poesiealben zu verfilmen, sollten wir wirklich etwas tun, um Guantanamo zu stoppen“, beschrieb Willemsen damals nüchtern das Aufgabenfeld.
Willemsen war in Sachen Menschenrechte grundsätzlich respektlos gegenüber der Macht. In einem IZ-Interview aus dem Jahr 2002 empörte sich Willemsen über einen Satz des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder. „Das Ansprechen von Menschenrechten in China war ja immer nur ein Ritual“ zitierte er den Politiker. Willemsen berichte sodann von seinem Gespräch mit Wei Jingsheng, einem der wichtigsten Regimegegner Chinas, der gefoltert worden war, der dem Tod oft ins Auge geblickt hatte und ein gebrochener Mann wurde. Schonungslos verknüpfte Willemsen das Ritual des Politikers mit der menschlichen Wirklichkeit des Opfers. Wie, so Willemsen erschüttert, könne man einem solchen Mann sagen: „Weißt Du, wir haben im Westen immer nur so getan. Jetzt tun wir was für Eure Entlassung oder gegen Folter! Und dann sagen wir: Das war immer nur ein Ritual!“
Apropos Knacks. Ich erinnere mich an einen anderen typischen Abend mit Roger Willemsen. Seiner Arbeit, so las man damals im Programmheft des Bonner Beethovenfests 2010 von Insa Wilke, liege das Bedürfnis zugrunde, „die Ansicht der Welt immer wieder auf den neuesten Stand zu bringen“. In Bad Godesberg trat Willemsen zu einem dieser Versuche an. Nicht allein, sondern mit dem Komponisten Jan Müller-Wieland, der eines seiner wichtigsten Bücher, „Der Knacks“, vertont hatte.
Auf der schlichten Bühne fanden sich so ein Dirigent, ein Sprecher, achtzehn Streicher, ein Klavier und hunderte Zuschauer, die sich beinahe augenblicklich nicht mehr dem Bann der Stimme, der sprachlichen Vielfalt Willemsens entziehen konnten. Willemsen las Passagen aus seinem Buch vor und schuf eine Knacks-Welt. Der Zuhörer war einem ganzen Repertoire neuer Aussichten, Begegnungen, Unterbrechungen, Steigerungen ausgesetzt. Willemsen begegnete dem Tod, erzählte einen Kalauer, fächerte eigentlich alle existentiellen Fragen dieser und jeder Zeit auf, auch, das immer gleichzeitig drohende Ende im Auge, da es jederzeit möglich schien, dass mit einem Bruch auch der stille Blick in den Abgrund folgen könnte.
Der Knacks, so führte Willemsen zu Beginn ein, ist auch die Suche nach der Zeit, in der die Überzeugungen verloren gegangen sind, der Knacks sei unter anderem ein „Phänomen des Ausbleichens, der Materialermüdung, des Kapitulierens“. Die Finanzkrise, die draußen herrscht, gewöhne uns sogar an den Gedanken, kollektiv zu scheitern. „Der Knacks“, so Willemsen, „ist eine Annäherung an eine innere und äußere Mitte, keine Theorie“.
Sein Werk wurde so für mich und natürlich für viele andere Leser auch eine Art Sehschule, also das Lernen genau hinzuschauen, mit den Mitteln einer verfeinerten Sprache. Alle Gesten, Begegnungen, Beobachtungen, so lernte man es zumindest in seinen Büchern, sind immer auch Teil eines Prozesses. Nichts bleibt, wie es ist. Willemsen konnte so etwas meisterhaft beschreiben.
Bemerkenswert auch an diesem Abend wieder seine Abrechnung mit Guantanamo, ein Ort ohne Ordnung, der für den Schriftsteller eine stille Chronik der Verletzungen durch den Terror wurde. Der Spannungsbogen in das Hier und Jetzt war sofort spürbar: Was ist Terror? Was macht er mit uns? Das ist kein Spiel. Nicht nur theoretisch und nur einen Steinwurf weg von seiner Bonner Bühne war ja auch einige Jahre eine „radikal-islamistische“ Schulung. Bis eben der Knacks kam.
Auch die Religion kam übrigens an diesem Abend zur Sprache. Das Religiöse ist auf dem Rückzug, zurrt nur noch fest, stellt fest, wird zum System, war dabei der Tenor. Religion wird falsch, wenn sie zum Gegenüber, zum Hindernis für freie Erkenntnis und größere Erfahrung gleichermaßen wird. Die so definierte Religion hat weniger Kraft als der Knacks und muss, für den, dem es um das Ganze geht, zu Recht abgestoßen, weggeworfen werden. Symbolisch fielen dann den Musikern ihre Klangkörper, Dreiecke, die man auch als symbolische Erinnerung an die denkfeindliche Trinitätslehre verstehen könnte, aus der Hand.
Dann machte sich Willemsen auf zu den letzten Blicken, in die Welt des Offenen, Freien, der Grenzerfahrungen. Ein Sohn betrachtet den sterbenden Vater, zeichnet ihn und verliert sich im Kopieren. Als der Vater tot ist, bleibt ihm nur ein Fragment, er schließt ihm die Augen, er weint, dann regt sich Widerstand und er will dem toten Mann „wie eine Krankenschwester, die die Jalousie öffnet“, die Augen wieder öffnen. Die Frage bleibt im Raum und auf der Bühne als die Letzte zurück: Ist es wirklich das Nichts, der Blick eines Niemands, der da zurückblickt?
Im Jahr 2015 veröffentlichten wir unter dem Titel „Differenzierung schadet dem Absatz“ ein weiteres, leider das letzte Interview mit ihm. Es ging um PEGIDA, die Rolle der Muslime, das Spiel der Medien. Willemsen beklagte darin, dass er seine muslimischen Freunde dauernd in der Defensive sehe, die mit dem vorauseilenden „wir sind nicht so“ auftreten müssten. Willemsen fand das blamabel, aber nicht etwa für die Muslime, sondern für das Umfeld, das ihnen diese Form der Selbstrechtfertigung aufnötigt. Roger Willemsen fielen solche Dinge auf.