Kriegsverbrechen ahnden

Ausgabe 231

(Junge Welt). Es ist offensichtlich: Israels Regierung (…) wird die Blockade gegen Gaza nicht aufheben. Es wird keinen Seehafen, der schon im Oslo-Abkommen 1993 versprochen war, geben, die Fischereizone wird nicht auf das internationale Maß erweitert werden, jeder Sack Zement und jede Palette Material zum Wiederaufbau wird zeitraubend inspiziert und eventuell zurückgewiesen werden.

Gaza bleibt für die überlebenden Palästinenserinnen und Palästinenser ein Gefängnis wie bisher und Israel ihr gnadenloser Wärter. Das nur deswegen, weil die Regierungen der USA und der EU-Staaten ihre Werte von Freiheit und Menschenwürde zwar um jede Ecke der Welt tragen, aber nicht wagen, sie auch nach Israel zu bringen.

Welches Attribut man dafür auch wählt, ob Doppelmoral, Zynismus, Feigheit oder kriminelle Kumpanei, das jahrzehntelange Versagen der Regierungen, in dieser uns so naheliegenden Region auch nur einfache Bedingungen des Friedens und der Menschlichkeit einzurichten, muss offensichtlich etwas mit der verkommenen Verfassung dieser Wertegesellschaft selbst zu tun haben.

Doch was bleibt den Palästinensern? Wenn von den mächtigen Staaten nur Geld zur Renovierung des Gefängnisses zu bekommen ist, dürften die Erwartungen gegenüber der UNO und der internationalen Rechtsordnung nicht viel größer sein. Nun hat jedoch der Präsident des UN-Menschenrechtsrats, Baudelaire Ndong Ella, den Beschluss des Rats vom 23. Juli 2014 umgesetzt und eine dreiköpfige Kommission unter Leitung des kanadischen Völkerrechtlers William Schabas eingesetzt. Ihr Auftrag lautet, „alle Verletzungen von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten in den besetzten Gebieten inklusive Ost-Jerusalem, insbesondere im besetzten Gazastreifen, im Kontext der militärischen Operationen seit dem 13. Juni zu untersuchen“.

Das allein bewirkt noch nichts, wie wir aus den Erfahrungen mit dem Bericht der Goldstone-Kommission 2009 wissen. (…) Dennoch hat sich sofort danach in Israel und bei den zahlreichen ausländischen Lobbygesellschaften ein Sturm der Empörung gegen den Vorsitzenden und das ganze Unternehmen erhoben. Die Kommission wird ihre Arbeit allerdings aufnehmen und bis zum 15. März 2015 ihren Bericht vorlegen.

Aber auch dieser wird den Palästinensern nur helfen, wenn sie ihre Sache selbst in die Hände nehmen. Seit Monaten drängen internationale und palästinensische Initiativen Präsident Mahmud Abbas und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), dem IStGH beizutreten, das Römische Statut zu unterzeichnen und die Verantwortlichen der israelischen Regierung und Armee vor Gericht zu ziehen.

Die Indizien für schwere Kriegsverbrechen sind unübersehbar. Die UNO zählt über 2.000 Tote, darunter mehr als 440 Kinder und 300 Frauen. Bei den Angriffen in den vergangenen Wochen wurden ganze Familien getötet. Mehr als 10.000 Palästinenser sind verwundet worden, davon über 1.500 Kinder. Drei Viertel der Opfer sollen Zivilisten sein. Unter den Trümmerfeldern verschwanden über 16.000 Wohnungen, 76 Moscheen, zwei Kirchen, 25 Krankenhäuser und -stationen, nicht zu zählen die Schulen, Universitäten, Büchereien, Spielplätze Friedhöfe etc., die Ziele von Angriffen mit Raketen und Artillerie geworden sind. Das wird man nicht einfach als „Kollateralschäden“ abtun können. Ein klarer Fall für den hohen Strafgerichtshof.

Unter den Organisationen, die den Beitritt zum IStGH fordern, befinden sich Amnesty International, Human Rights Watch, Al-Haq und die Internationale Juristenkommission – keine Leichtgewichte im Feld der Menschenrechte. Doch die USA stehen auch hier hinter Israel, das diesen Schritt vehement ablehnt. Denn sie wissen, dass der IStGH „wirklich eine echte Bedrohung für Israel ist“, wie es die UN-Botschafterin der USA, Samantha Power, ausdrückte.

Deutschland und Frankreich begründen ihre Ablehnung mit dem albernen Argument, dass die Einschaltung des Gerichts die „Verhandlungen über den endgültigen Status“ Palästinas im Rahmen einer Zweistaatenlösung torpedieren könnte, als wenn dieses Wahngebilde überhaupt noch einen Realitätsgehalt hätte.

Die Anerkennung Palästinas als „Beobachterstaat ohne Mitgliedsstatus“ durch die UN-Generalversammlung am 29. November 2012 änderte die Situation jedoch, sodass der damalige Chefankläger Moreno-Ocampo – heute nicht mehr beim IStGH – die Chancen für Palästina, dem Statut beizutreten, jetzt positiv einschätzt. Viele vertreten sogar die Meinung, dass die neue Anklägerin, Fatou Bensouda, die Untersuchungen auch ohne erneuten Antrag der Palästinenser aufnehmen könnte.

Der Autor ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke. Der Text erschien in voller Länger in der Ausgabe der „Jungen Welt“ vom 21. August.