Mehr bewusste Menschlichkeit

Ausgabe 287

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(iz). „Mehr liebe“, las der Schriftzug auf der Vorderseite eines Verteilerkastens auf dem Gehweg, vor dem man ungeschickt und etwas unbeholfen ein schiefes Herz gesetzt hatte. Gerade weil es eine niedlich wirkende Verschreibung und ein Verteilerkasten ein ungewöhnlicher Ort für eine solche Botschaft ist, ist der Wunsch, der hinter dieser Forderung steht, ausschlaggebend. Mehr Liebe. Das ist so einfach und kindhaft daher geschrieben, aber die Aussage so gewaltig. Mehr Liebe. Zwei Wörter, die Vieles meinen können, aus denen man die Verzweiflung ihres Autors geradezu herausliest. Die erste Assoziation, die mir in den Sinn kam, war: Menschlichkeit. Ist nicht Menschlichkeit eine Form der Liebe? Zugegeben, sie ist etwas blass geworden dieser Tage.

In diesen Zeiten strömen Menschen auf allen Kontinenten auf die Straßen, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, sei es um ein Recht zu verlangen, ein Umdenken der Machthabenden zu Klimaschutz zu erwirken, eine neue Regierung zu fordern oder eine gerechte Verteilung der Steuern zu verlangen. Man könnte meinen, eine neue Zeit wäre angebrochen. Tatsächlich sind Streiks und Demonstrationen nicht neu. Und oft führen sie auch zumindest zu einem Umdenken. Friedliche Demonstrationen haben auch in neuester Zeit zu gewaltigen Veränderungen geführt, die kurz vorher noch undenkbar und unerreichbar schienen. Man denke nur an die jüngste deutsche Geschichte. In ihnen steckt auch der Wunsch nach Besserung, sie verlangen Menschlichkeit in Form von Gerechtigkeit. Allein haben wir nur eine leise flüsternde Stimme, als Gruppe sind wir ein Orchester, das gehört wird. Der Schriftsteller Eric Hoffer schreibt in seinem Buch „The True Believer. Thoughts on the Nature of Mass Movements“, das 1951 erschienen ist, über Massenbewegungen. Welche Gruppen gehen überhaupt auf die Straßen und aus welcher Motivation heraus? Auch wenn das Buch über ein halbes Jahrhundert alt ist, hat es nichts von seiner Bedeutung verloren. Ist das nicht schade?

„Wir sterben wegen Meinungsverschiedenheiten“, heißt es in einem Lied der US-amerikanischen Gruppe Native Deen. Es ist genauso traurig wie es wahr ist. Kürzlich wurde das erste Foto eines „Schwarzen Lochs“ im All veröffentlicht. Wir haben die Meere nicht nur befahren, sondern bezwungen, die höchsten Berge bestiegen und erobert, die Welt in Länder eingeteilt, die Pole erforscht und den Flüssen und Seen Namen gegeben. Wir tippen eine Nummer in ein Telefon ein und sind ­innerhalb von Sekunden mit unserem ­Gesprächspartner verbunden, selbst wenn er oder sie sich gerade auf der anderen Seite der Welt aufhält – wir sprechen mit ihm oder ihr als stünden sie neben uns im Raum. Nach der Schande der Sklaverei, dem Untergang indigener Völker, der beinahe-Ausrottung der Herero und Nama in Namibia, dem Holocaust, dem Vietnamkrieg, den Verbrechen der Khmer Rouge am eigenen Volk, dem Völkermord in Ruanda, dem Unrecht an den ­Uighuren und der Vertreibung der Rohingya, um nur ein paar klaffende Wunden in dem Körper zu nennen, der die Gemeinschaft der Menschen formt, sollten wir nicht langsam gemerkt haben, dass es nicht um Meinungsverschiedenheiten oder Unterschiede geht? Der Wunsch nach mehr Menschlichkeit drückt sich auch in den Demonstrationen aus. Man will nicht mehr nur zusehen, Opfer sein. Man will handeln und Ergebnisse sehen, die ­nützen.

Und doch läuft noch viel falsch. Menschlichkeit fängt bei mir selbst an bei meinem ­Umgang mit meinem Gegenüber, auch mit mir selbst. Dem anderen Respekt zollen, vielleicht ist es auch Ehrfurcht vor der Schöpfung in dem Wissen, dass Gott es ist, der uns geschaf­fen hat, nicht wir unseren Gott, wen wir in dieser Zeit auch immer dafür halten. Unrecht hat viele Gesichter. Es ist allgegenwärtig in Billigflügen, billigen Klamotten, Plastikbechern, Überfischung, Rodung, Palmöl, Glyphosat, Waffenhandel und dem stillen Zusehen und Nichts-Sagen. Im Sommer 2015 sah sich Europa das erste Mal von Flüchtlingen „überrannt“, später ging eine erschreckende Nachricht fast unreflektiert an vielen vorbei: Europol war alarmiert und ­berichtete von mindestens 10.000 registrierten Flüchtlingskindern, die innerhalb Europas Grenzen „verloren gegangen“ sind. Das war’s. Wer sich für das Thema interessierte, der stieß hin und wieder auf eine neue Nachricht, nach der die gleiche Zahl an Kindern vermisst blieb. Was diesen Kindern ungeschützt und allein zustoßen könnte, kann man sich denken. Kein Jahr später ging ein Trend-Phänomen um die Welt: Pokémon Go. Sinn und Zweck dieses Zeitvertreibs ist es, ein digitales Piktogramm aufzuspüren und zu fangen. Warum ist es einfacher, ein Pokemon zu suchen als ein Kind?

Menschlichkeit hat viele Facetten, auch im islamischen Umgang miteinander: Sie steckt im Ihsan, dem Gutes tun; der Zakat, der ­Reinigung des Vermögens; der Sadaqa, dem Geben; der Weigerung Zinsen zu nehmen; dem Verwehren des Schlechten. Sie ist ein wichtiger Bestandteil des Christentums; „Liebe Deinen Nächsten“, heißt es in der Bibel. Im Buddhismus ist sie verankert. Atheisten ist sie wichtig. Wir sind keine Raubtiere mehr, wir müssten nicht mehr um unser Überleben kämpfen, nicht mehr fliehen, keine Not mehr fürchten. Als Gemeinschaft müssen wir Menschen uns einsetzen für den anderen, bewusst mehr menschlich sein. Auch wenn es gerade schwer fällt. Uns bleibt keine Wahl, weil wir sonst eben doch immer noch wegen Meinungsverschiedenheiten sterben.

Menschlichkeit kennt weder Grenzen noch Hierarchien, weder soziale noch wirtschaftliche oder geographische. Sie ist kein Hobby gelangweilter, verwitweter Älterer, die in den Himmel wollen. Nein, sie ist eine Verantwortung – sie ist die Pflicht des Einzelnen und das Recht der Gemeinschaft.