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Mehrheit für Abschiebung

Ausgabe 252

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Die absolute Mehrheit der mehr als 70.000 Marokkaner beziehungsweise Deutsch-Marokkaner fühlt sich seit den Ereignissen der Jahreswende ungerechtfertigt in ein schlechtes Licht gerückt. Einige wenige Verbrecher haben eine ganze Gruppe und ihre Religion verunglimpft. Dabei waren Menschen aus Marokko in den gesellschaftlichen Debatten auffällig unauffällig. Die Silvesterereignisse führten zu einer intensiveren Beschäftigung mit ihrer Identität.
(iz). Im Jahre 2015 wurden 72.129 Marokkaner in Deutschland gezählt. Acht von ihnen sind vermutlich 2015 über abenteuerliche und lebensgefährliche Routen hierher gelangt und machten am Silvesterabend organisiert oder unorganisiert, betrunken oder nüchtern, unter Einfluss von Drogen oder unter Einfluss einer ungewissen Gruppendynamik so negativ auf sich aufmerksam, dass nun ihre Herkunft und ihre Religion verstärkt negativ in den Mittelpunkt geraten sind. Dabei waren Menschen aus Marokko in den gesellschaftlichen Debatten auffällig unauffällig.
Um die Geschichte der Marokkaner in Deutschland zu verstehen, muss man natürlich auch in die Vergangenheit blicken. Die ersten 200 Marokkaner wurden um das Jahr 1960 angeworben. Rund fünf Jahre später stieg die Anzahl auf 9000. Bis zum Beginn des Anwerbestopps für Marokko 1973 sind 24.200 marokkanische Einwanderer zu verzeichnen gewesen. Der Familienzuzug in den Folgejahren bewirkte, dass der Lebensmittelpunkt nun Deutschland war.
Die eingeladenen „Gastarbeiter“ brauchten eine Weile, um davon sprechen zu können, hier in Deutschland angekommen zu sein. Die zweite und dritte Generation der marokkanischen Einwanderer besitzt längst die deutsche Staatsangehörigkeit und ist hier selbstverständlich beheimatet.
Selbstverständlich gibt es unter den marokkanisch-stämmigen Deutschen und ausländischen Marokkanern Hochgebildete, einfache Arbeiter, Künstler, Musiker, politisch Interessierte, Religiöse, Atheisten, Analphabeten, Kulturinteressierte. Es ist ein Querschnitt, wie man ihn in allen gesellschaftlichen Gruppen finden kann. Das ein oder andere Merkmal mag ausgeprägter sein.
Viele der Jüngeren aus der zweiten und dritten Generation leben zwischen den Welten. Sie sind in Deutschland sozialisiert und stehen unter tradiertem Einfluss ihrer Herkunftskultur. Während das Urlaubsland Marokko für viele Touristen immer beliebter wird, ist die jüngere Generation gespalten. Innig verteidigen sie ihre Herkunft, wenn sie von anderen schlecht gemacht wird. Innig verurteilen sie Missstände, die ihnen selbst auffallen, wenn sie die eigene aber oft fremde Heimat der Eltern besuchen.
Die Silvesternacht und die anschließende Debatte um das „sichere Herkunftsland Marokko“ bewirkt ungewollt eine intensivere Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln. Die Mehrheitsgesellschaft mag es überraschen, aber geht es um straffällig gewordene Flüchtlinge aus Marokko und anderen Gebieten, sind sich die meisten marokkanisch-stämmigen Deutschen und Marokkaner einig: Abschieben!
Denn sie wissen, dass die Öffentlichkeit in Deutschland, zu der sie schließlich auch gehören, gnadenlos richtet und es auf sie zurückfällt. Denn rein juristisch gibt es zwar keine Sippenhaft, doch in der Öffentlichkeit gibt es kaum ein anderes Instrument, dass mehr in Anspruch genommen wird. Selbstverständlich spielen für sie Recht und Gesetz sowie auch religiöse Grundsätze eine tragende Rolle bei der Bewertung solcher Untaten.
Natürlich sind es nicht nur marokkanisch-stämmige Menschen, die von der Öffentlichkeit „schräg angeschaut“ werden. Von den 32 mutmaßlichen Tätern sind drei Deutsche, neun Algerier, vier Syrer, fünf Iraner, ein Iraker, ein Serbe und ein US-Amerikaner tatverdächtig. 22 von ihnen sollen Asylbewerber sein, berichtet die Bundespolizei. Wenn es auch sonst darum geht, dass Otto-Normal-Muslime (ganz gleich welcher Herkunft) sich von ISIS und Co. distanzieren und Stellung beziehen sollen, sich dem Vorwurf des Patriarchats aussetzen müssen, ist nun die Komponente des Verdachts der sexuellen Belästigung hinzugefügt worden.
Es ist anstrengend, derart in die Defensive gedrängt zu werden. Wenn man auch sonst damit beschäftigt ist, Abschlüsse zu erreichen, seine Rechnungen zu bezahlen, Gen-Food aus dem Weg zu gehen, seinen Arbeitgeber zufriedenzustellen, sich weiterzubilden, sein Familienleben intakt zu halten, ein spirituelles Leben zu führen, Spaß zu haben, seinem Lieblingsbundesligaklub und Jogis Elf die Daumen zu drücken, als Konsument Preise zu vergleichen, seine Gesundheit beizubehalten, Verluste zu verarbeiten, so wird man auch noch mit den oben genannten Vorwürfen konfrontiert.
Nicht darauf einzugehen und Stellung zu beziehen kann als stillschweigende Zustimmung verstanden werden. Und so reiht sich eine kaum zu bewältigende Baustelle in das Leben der Otto-Normal-Migranten mit muslimischem Hintergrund ein. Von der Öffentlichkeit gezwungen, Experten für Islamfragen, Terrorismus und sexuelle Belästigung zu sein. Eine Zumutung!