Meinung: weiterführende Überlegungen von Zeycan Çetin über den Salafismus in Deutschland und seine politischen Folgen

Ausgabe 204

„Um die Machtausübung zu bewahren, ist es notwendig, sich zu gewissen Zeiten des Terrors zu bedienen” (Machiavelli) (iz). Salafisten machen nicht erst seit der Koranverteilaktion auf sich aufmerksam. Die Bewegung existiert schon seit vielen Jahren in Deutschland. Wieso aber wird erst jetzt so ausgiebig über diese Gruppierung berichtet? Wieso stürzen sich Politiker, Behörden und Medien gerade zu diesem Zeitpunkt so öffentlichkeitswirksam auf das ­Thema?

Bereits in den 1990er Jahren, insbesondere während und nach dem Krieg in Ex-Jugoslawien bildeten sich in immer mehr deutschen Städten salafistische Zirkel. Interessanter­weise spielten auch Protagonisten auf dem Balkan (sowohl des Bosnien- als auch Kosovokriegs) keine ­unbedeutende Rollen beim Aufbau der salafistischen Gemeinden. Süddeutschland – vor allem Baden-Württemberg mit den Städten Freiburg, Heidelberg und nicht zuletzt Ulm/Neu-Ulm – scheint schon in den 1990ern als Pilotregionen ausgewählt worden zu sein.

Aus dieser Region bereitete sich die Bewegung rasch in der Republik aus. Von hier stammten auch Inspiratoren und Mentoren der Szene. Hier entstanden die konspirativen Begegnungsstätten wie der „Islamische Verein Ulm“, das „Multi-Kulturhaus“ (MKH) oder das „Islami­sche Informationszentrum“ (IIZ) – von Dritten unterstützt. Nicht zuletzt betätigten sich in diesen Zirkeln zahlreiche V-Leute und Mitarbeiter verschiedener Nachrichtendienste.

Der Journalist und Autor Jürgen Elsässer enthüllt die Donau-Doppelstadt Ulm/Neu-Ulm in seinem Werk: „Terrorziel Europa. Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste“ als Einsatzgebiet dieser Dienste: „Wer dort nach 9/11 zu Allah betete, geriet nicht nur in das Visier deutscher Staatsschützer, sondern auch ihrer US-amerikanischen Kollegen.“ Daneben sollen in Ulm auch ägyptische, saudische, marokkanische, und ­israelische Geheimdienste um „islamistische“ Infor­manten geworben haben.

Weiter schreibt Elsässer, dass die Stadt „seit Ende der neunziger Jahre vom Verfassungsschutz gezielt zu einem ‘Honigtopf’ aufgebaut wurde, um militante Islamisten anzulocken, auch als Rekruten [!] für die Dienste.“ Der Publizist zitiert in diesem Zusammenhang auch einen Informanten, der folgendes zu Protokoll gibt: „Es geht dem Verfassungsschutz schon seit Jahren darum, Verdächtige aus einem größeren Umkreis nach Ulm zu locken. Dort wurden sie einerseits radika­lisiert, andererseits als V-Leute gewonnen. Das war offensichtlich überhaupt kein Widerspruch für Staatsschützer.“

Interessant wird es, wenn man nachliest, wie wichtige Personen und „Organisator[en] des süddeutschen Islamisten-Netzes“ auf Drängen von Dritten nach Ulm und in die „Begegnungsstätten“ wie das Multi-Kulturhaus kamen. So zog beispielsweise Yehia Yousif, ehemaliger Unterstützer von muslimischen Kämpfern im Ex-Jugoslawien-Krieg und Schlüsselperson bei der Radikalisierung von vermeintlichen „Islamisten“ und von Juli 1996 bis März 2002 auch Mitarbeiter des baden-württembergischen Verfassungsschutzes, im Oktober 2000 von Freiburg nach Ulm, um die „Salafisten-Szene“ weiter zu konstruieren.

Yousif, der 1988 aus Ägypten nach Deutschland auswanderte, promovierte 1994 an der Universität Freiburg im Fachbereich Medizin. Er lieferte seinen Auftraggebern Indizien, die gegen das MKH, wo er selbst als Prediger tätig war, verwendet wurden, was Elsässer im Gespräch mit dem Anwalt des MKH aufdeckt. Den Anwalt Christoph Käss erin­nere die ganze Geschichte an das NPD-Verbotsverfahren, wo viele Beweise überhaupt von V-Leuten produziert worden seien. Wie widersinnig ist es, möchte man sich fragen, dass jemand im Auftrag von Dritten kriminell operiert und seine Hand­lungen den Behörden als Beweismittel für seine Bösartigkeit zur Verfügung stellt.

Heribert Prantl schrieb in der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) in einem ande­ren Bezug über Spitzel: „Der Staat geht in die Irre, wenn er sich zu sehr auf ­solche Leute verlässt.“ Prantl, selbst ehemaliger Richter und Staatsanwalt, stellt zudem die Frage, die sich auch viele andere ­Menschen stellen: „Welchen Anteil an Straftaten hat der V-Mann? Hat er die Täter verleitet? Hat er sie zu den Taten angelei­tet?“ Denn wenn dies so sein sollte, machen sich die Auftraggeber selber ­strafbar. Dann gibt es wieder viel Arbeit für Untersuchungsausschüsse und ­-kommissionen.

„Interessant“ sei für den Autor und Journalisten Eren Güvercin im Übrigen, „dass bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnung von Yehia Yousifs Sohn, Omar Yousif, Unterlagen für die Herstellung des Flüssigsprengstoffs TATP gefunden wurden, mit dem später die Sauerland-Gruppe auf dilettantische Weise experimentiert“ habe. „Seltsamerweise wurde sowohl gegen Yehia Yousif als auch seinen Sohn kein Auslieferungsantrag gestellt, nachdem sie sich 2004 nach ­Saudi-Arabien abgesetzt hatten“, schreibt Güvercin in seinem kürzlich vorgestellten Buch: „Neo-Moslems. Portrait einer deutsche Generation“. Diese dubiosen Vorgänge veranlassten Güvercin in seinem Buch zu der Frage und der danach folgenden Erkenntnis: „Wieso wird in den Mainstream-Medien bisher die Rolle des Hasspredigers Yousif, der gleichzeitig auch Informant des Verfassungsschutzes war, nicht hinterfragt? Yousif hatte entscheidend zum Erstarken salafistischer Gruppen beigetragen. Gleichzeitig war er aber auch Lohnempfänger des Verfassungsschutzes.“

Yehia Yousif, Reda Seyam und ­weitere wichtige Persönlichkeiten der salafistischen Szene haben nach diesen Feststellungen im Auftrag anderer Stellen für das Erstarken des Salafismus in Deutschland gedient. Die Personen, Organisationen und Wirkungsstätten sind ­beliebig austauschbar. Was in Ulm stattfand, kann heute genauso in Solingen, Hamburg, Bonn oder Berlin passieren. Was früher die Aufgabe von Yehia Yousif und anderen Predigern gewesen ist, ­könnten heute Gans, Vogel, Fuchs und Adler übernommen haben. Was spricht dagegen, dass die Funktion, die früher beispielsweise das MKH, IIZ oder die „Sauerland-Gruppe“ spielten, heute Organi­sationen wie die „Internationale Dschihad Union“ (IJU), „Globale Islamische Medienfront“ (GIMF), „Islamische Bewegung Usbekistan“ (IBU) oder andere kleine und lokale Gruppen ausüben könnten?

In Bewegung gesetzt
Im April 2012 wurden in zahlreichen deutschen Städten Gratisexemplare des Korans verteilt, wodurch der Salafismus (Salafiyya) urplötzlich zu einem „Mainstreamthema“ avancierte. Der zeitliche Kontext dieser Aktion ist nicht zu unter­schätzen. Die Wahlen in Nordrhein-Westfalen waren schon immer richtungs­weisend – auch für die Bundestagswahlen. Die Union benötigten jede ­einzelne Stimme, auch aus dem rechten Spektrum. Für sie ging es um alles oder nichts. Dass am Ende sogar der Spitzenkandidat und Vorsitzende seinen Hut nehmen musste und auch noch vor aller Öffentlichkeit von der Kanzlerin gedemütigt wurde, zeigt die Dramatik dieses Wahlkampfes, in der auch die rechtsgerichtete Pro NRW durch sensationslustige Provokationen auffiel. Außerdem wurde das Thema verdächtig kurz vor der Islamkon­ferenz zum Sieden gebracht. Politiker forderten – besonders von den muslimischen Verbänden – eine Distanzierung von und Verurteilung der Salafisten.

Die kostenlose Verteilung von Koran­exemplaren war bis heute in Deutschland weniger üblich. In der Regel ­haben Vereine oder Gruppen religiöse ­Literatur zum Kauf angeboten. Hinter der PR-trächtigen Aktion steht der Kölner Prediger und Ex-Geschäftsmann, der zur Zeit, so berichtete eine ­große Boulevardzeitung, angeblich von Hartz-IV lebt. Der Mann heißt Ibrahim Abou-Nagie. Doch wer ist der neue Hauptdarsteller in diesem schlechten Film?

Das Ziel Abou-Nagies soll es sein, Millionen Exemplare des Korans in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu verschenken. Bis jetzt seien etwa 300.000 Exemplare verteilt. Die Behörden ­hielten die Übersetzungen für neutral beziehungsweise nicht verfassungsfeindlich. Dennoch stellte die Ulmer Druckerei Ebner & Spiegel die Auslieferung der Korane aufgrund der medialen Kritik ein. Der Initiator der Verteilaktion Abou-Nagie betreibt zudem die Internetplattform „Die wahre Religion“ (DWR), die im Bundesverfassungsschutzbericht 2010 dem „politischen Salafismus“ ­zugeordnet wird.

Debatte breitet sich aus
Die Verteilaktion hatte sich nach Ostern 2012 anfänglich zu einer Debatte über das heilige Buch der Muslime ausgeweitet. Im Zusammenhang mit den Mai-Kundgebungen, den Attacken auf Polizeibeamte in Solingen (1.Mai) sowie Bonn (5.Mai), Provokationen der rechtsradikalen Gruppierung Pro NRW und den Drohungen von „Islamisten“ auf der Videoplattform Youtube, werden die Anhänger der Salafiyya und damit instinktiv auch die übrigen Muslime pausenlos mit Gewalt, Radikalismus und einem Sicherheitsrisiko in Verbindung gebracht.

So wurde wenige Wochen nach der Verteilaktion die Dosis der Nachrichten stetig erhöht. Zunächst gerieten Pro-NRW-Aktivisten und die ­gewaltbereiten Salafisten in Solingen aneinander. Ähnliches ereignete sich ein paar Tage ­später in Bonn. Dabei griffen Gewalttätige auch Polizisten an und verletzen diese – zum Teil schwer. Kurz darauf folgte diese kuriose Meldung: Ein 31 Jahre alter Essener Polizei­kommissar ist unter besonderen Umstän­den als Salafist aufgefallen und wurde Anfang Mai aus dem Polizeidienst suspendiert. Gegen Ali K. sei ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel eingeleitet worden, ihn aus dem Staatsdienst zu entlassen. Heinz Tutt vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ berichtet, dass der Beamte im Jahr 2009 für sechs Monate auch für den NRW-Verfassungsschutz gearbeitet habe. Er sei bei einem mobilen Observationskommando eingesetzt gewesen und habe Extremisten ausspähen sollen.

Der Beamte mit Migrationshintergrund soll sich in seiner Freizeit für „radi­kale Islamisten“ engagiert haben. So habe er Infostände für salafistische Vereine angemeldet und sich an deren Aktivitäten beteiligt, bestätigte die Polizei. Ein „Salafist“ in den Reihen der Polizei und des Verfassungsschutzes: Ein Einzelfall? Es vergeht kein Tag, an dem nicht über Salafisten und „Islamisten“ gesprochen wird. Zudem haben sich zahlreiche Poli­tiker, muslimische Funktionäre und Kirchenvertreter in die Debatte eingeschaltet. Fast täglich wenden sich Journalisten mit Fragen an muslimische ­Verbände und verlangen Statements von Repräsen­tanten. Damit werden auch die islamischen Organisationen – bewusst oder unbewusst – mit in die Debatte um Extremismus, Gewalt und Terror eingespannt. Wissentlich?

Populistische Forde­run­gen sind destruktiv
Die Probleme, mit denen sich die Politiker, die jetzt nach harten Strafen, Verboten oder Abschiebungen rufen, sind nicht so klar und einfach, um sie mit Untersagungen oder Ausweisungen zu ­lösen. Zum Teil sind sie sogar hausgemacht. Die „Panikmacher“ (Patrick Bahners, FAZ) sind wieder im Scheinwerferlicht. Christian Bommarius von der „Frankfurter Rundschau“ (FR) spricht in ­dieser Hinsicht von „großmäuligen Forderungen“ und „schlechter Rhetorik“. Er sagt, dass Vereinsverbote „nicht nur das ­letzte Mittel im Kampf gegen extremistische Gruppen“, sondern im Fall der ­Salafisten auch „wirkungslos“ seien. „Deren Vereine lösen sich schneller auf, als ein Innenminister sie verbieten kann. Und was den Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft betrifft, so verbietet ihn das Grundgesetz (Art. 16 Abs. 1).“ Da viele Salafis­ten in losen Strukturen oder in gar keinem Verein organisiert sind, bringen Verbote bedauerlicherweise wenig.

Außerdem: Eine Ausweisung, Ausbür­gerung oder der Entzug der Staatsbürgerschaft hört sich zwar spannend an, erin­nert aber eher an totalitäre und menschenverachtende Staatssysteme. Oder möchte ein Innenminister einen deutschen Salafisten von Bayern nach Mecklenburg-Vorpommern ausweisen? Bommarius hält es überdies für „gefährlich“, dass Politiker zwar von Salafisten reden, die deutsche Öffentlichkeit aber „Moslems“ versteht. So wird die große Mehrheit der Muslime – wieder einmal – ­unter Generalverdacht gestellt.

Der „Anti-Koran-Reflex“
Lucas Wiegelmann von der Tageszeitung „Die Welt“ bezeichnet das, was nach der Koranverteilung passierte, als einen „Reflex“. Er nennt es einen ­“Anti-Koran-Reflex“, das es in Teilen der deutschen Gesellschaft gebe. Er schreibt: „Jede Sekunde [!] verteilt der evangelische Gide­onbund weltweit zwei Bibeln.“ Wiegelmann gibt zudem den Christen einen beschwichtigenden Rat mit auf den Weg: „Für Christen gibt es keinen Grund, die Konkurrenz der heiligen Bücher zu scheuen. Jeder wirkliche Gläubige geht ohnehin davon aus, dass seine ­Ansichten überzeugender sind als andere.“

Auch die Meinungsfreiheit garantiert den Menschen, Literatur zu drucken und zu verteilen, deren Inhalt sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegen. Für Muslime ist es eine Pflicht, sich an die Verfassung und Normen der Gesellschaft zu halten, in denen sie leben. Demokra­tie, Rechtstaat und Grundrechte stehen nicht zur Debatte. Die islamischen Verbände, die im „Koordinierungsrat der Mus­lime“ (KRM) organisiert sind, haben das des Öfteren klar und deutlich verkündet.

Unglücklicherweise wurden diese, dem Frieden, gegenseitigem Respekt und der Toleranz dienenden Botschaften – im Gegensatz zu den jetzigen Negativereig­nissen – von den Medien nicht genügend registriert. Bibel- und Koranverteilungen sind das gleiche, solange sie nicht gegen die Verfassung verstoßen. Daher ist es schwer verständlich, dass es demokra­tische Politiker sind, die eine Verteilung als Akt verboten sehen möchten. Die Initiatoren der Aktion zu überwachen, zu kontrollieren und zu zähmen, ist eine ganz andere Frage als die der Verbreitung des heiligen Buches der Muslime.