Meltam Baykaner reflektiert über Verleumdung und ihre Folgen

Ausgabe 220

(Sister’s Magazine). Seitdem ich den Islam vor relativ kurzer Zeit zu praktizieren begann, beantwortete meine hilfsbereite Familie geduldig jede meiner – schrägsten und scheinbar unbedeutenden – Fragen. Gott sei Dank unterfüttern sie ihre Antworten oder Ratschläge mit dem Zitat eines anerkannten Gelehrten, eines ­verlässlichen Hadithes oder einem Qur’anvers, um mein Denken zu klären und um mein Herz zu beruhigen. Es gibt jedoch eine Frage, deren Beantwortung meine Familie satt hat.

Das Problem taucht jedes Mal auf, wenn ich ihnen von einer Begebenheit erzähle – sei es von meinem Arbeitstag, dem Kreis der Musli­minnen, dem ich angehöre, oder eine familiäre Frage. Sobald ich die Geschichte nacherzähle, stelle ich mir instinktiv die Frage: „Oh nein, war das jetzt üble Nachrede?“

Oft bemühe ich mich, die Namen der Beteiligten wegzulassen. Sollte ich sie trotzdem erwähnen, achte ich bewusst darauf, das Geschehene nicht zu übertreiben, noch bin ich über irgend jemanden rüde, grausam, unfreundlich oder sage bewusst etwas, das nicht wahr ist. Nichtsdestotrotz bin ich immer sehr ängstlich, ob ich nicht unbeabsichtigt jeman­den verleumdet habe. Vielleicht auch, weil ich weiß, wie schwerwiegend die Frage der üblen Nachrede im Islam ist.

Es gibt viele Gründe, warum meine Sorge über diese falsche Handlung oft stärker ist als bei anderen. Zuallererst bin ich ein neuer Muslim. Wenn ich über die richtigen Handlungen nachdenke die ich vorweisen kann, macht es mich traurig, dass ich nur wenige habe. Üble Nachrede ist nicht nur eine gefähr­liche Angewohnheit, für viele ist sie beinahe schon eine Notwendigkeit in alltäglichen Gesprächen. Ich sprach mit meinen Mitbewohnern über meine Kollegen, mit meiner Familie über meine Mitbewohner und mit meinen Freunden über meine Familie. Das breitete sich wie ein Flächenbrand aus. Mir war vollkommen unklar, was ich meiner ­Seele antat.

Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass nur „neue“ Muslime mit dieser Frage Schwierigkeiten haben oder dass die Tatsache, dass ich neu im Din bin, der einzige Grund ist, warum ich hier Probleme habe. Der Grund, warum es so schwierig ist, Verleumdung zu vermeiden – unabhängig von Alter, Geschlecht oder der Menge an Jahren, in denen wir Islam praktizieren –, liegt in unserer Arroganz als Menschen. Stört uns etwas, dann fühlen wir uns berechtigt es auszusprechen; es herauszulassen, bevor unsere Frustration weiter steigt.

Manchmal ist es besser, unsere Zungen im Zaum zu halten und diese unfreundlichen Worte – selbst, wenn sie wahr sind – für uns zu behalten. Selbst, wenn sich das anfühlen kann, als würden wir Gummi schlucken. Jedes Mal, wenn wir es für uns behalten, ­findet es eine neue Gelegenheit, aus unserem ­Rachen zu entspringen. Solange, bis wir nur noch einen Wunsch haben: Es herauszulassen. Aus der Fassung zu geraten. Es aus unserem System zu spülen.

Natürlich müssen wir genau das vermeiden. Wir müssen uns anstrengen, den Einflüsterungen Schaitans zu widerstehen, unsere Instinkte im Zaum zu halten und diese Worte bei uns zu lassen. Immerhin, sobald diese Worte herauskommen, könnten wir dies für unwichtig halten, „während es bei Allah eine ungeheuerliche Sache ist“. (An-Nur, 15)

Auch wenn ich Verleumdung nur als das Entweichen von Worten aus dem Mund bezeich­net habe, wird üble Nachrede im Qur’an als etwas schwerwiegendes beschrieben: „Oh, die ihr glaubt, meidet viel von den Mutmaßungen; gewiss, manche Mutmaßung ist Sünde. Und sucht nicht (andere) auszukundschaften und führt nicht üble Nachrede übereinander. Möchte denn einer von euch gern das Fleisch seines Bruders, wenn er tot sei, essen? Es wäre euch doch zuwider. Fürchtet Allah. Wahrlich, Allah ist Reue-Annehmend und Barmherzig.“ (Al-Hudschurat, 15)

Ich bin sicher, viele von uns haben diese schöne Stelle schon oft rezitiert gehört. Eine mächtige Erinnerung daran, wie abstoßend die Verleumdung ist. Ich kann nicht behaupten, ein Gelehrter zu sein oder eine Ausbildung in den schönen Worten des Qur’an zu ­haben. Allah weiß es am Besten. Möge Er mir vergeben, wenn ich mich irre, aber es muss ­viele Gründe geben, warum die Metapher des Quasi-Kannibalismus benutzt wird, um diese falsche Handlung zu beschreiben. Verständlicherweise ist das Bild vom Fleische unseres toten Bruder widerwärtig für uns. Daher sollte es unterstreichen, wie abstoßend dieses Verhalten für uns ist. Darüber hinaus: Die Aussage, dass es sich um unseren toten Bruder handelt, verweist auf sein Schweigen, seine Unfähigkeit zur Verteidigung seiner Selbst und seiner Unkenntnis dessen, was wir ihm und seiner Ehre antun.

Wir sollten dies im Hinterkopf behalten, wenn wir üble Nachrede betreiben. Wir zerreißen diesen Bruder oder diese Schwester mit unseren Worten. Scheint das nicht schrecklich grausam zu sein? Ihre Abwesenheit vom Gespräch bedeutet, dass sie oder er schutzlos ist. Und doch hacken wir auf ihren Fehlern herum wie die Geier, die das Fleisch von einem Kadaver reißen.

Wir sind trotz allem Menschen (Insan). Wir sind von Haus aus vergesslich und mit Fehlern behaftet. Immer wieder kommen wir ins Straucheln… Also sollten wir Allah bitten, uns die Stärke zur Kontrolle unserer Sprache und unseres Temperamentes zu bitten.

Meltau Baykaner schloss 2012 die Universität East Anglia mit einem Abschluss in Englischer Literatur ab. Bis vor Kurzem arbeitete sie als Lehrassistentin der Islamischen Grundschule in Südostlondon.