Reinhard Kiefer: Weltgeschichte vom marokkanischen Schreibtisch

Ausgabe 230

Bereits seit drei Jahrzehnten hält sich der aus Westfalen stammende Schriftsteller Reinhard Kiefer mehrmals im Jahr in Marokko auf, wo er so etwas wie seine zweite Heimat gefunden hat. Die Tage in seinem Urlaubsdomizil in der Gegend von Agadir nutzt der studierte Germanist und Theologe Kiefer nicht nur als Gelegenheit, seine poetischen und prosaischen Vorhaben zu realisieren, sondern auch ausgewählte Werke aus der Weltliteratur zu lesen, philosophische und theologische Gedanken daraus zu reflektieren und hiervon animiert allabendlich die Geschehnisse des jeweiligen Tages aufzuzeichnen. Nach dreißigjähriger Tagebuchaufzeichnung hatte sich eine solche Ansammlung von Texten entwickelt, dass sich die Gelegenheit ergab, diese Notizen zu einem Buch zusammenzufügen und die Allgemeinheit daran teilhaben zu lassen.

In der Überschrift des marokkanischen Tagebuchs „Die goldene Düne“ erklingt zugleich die Nostalgie an die Anfangszeit seiner Marokkoerlebnisse heraus, denn, wie den späteren Tagebuchnotizen zu entnehmen ist, existiert die sagenumwobene goldene Düne heute nicht mehr und ist dem menschlichen Drang nach Umgestaltung der göttlichen Natur zum Opfer gefallen. Die Villa Christina, in der die ersten Tagebuchaufzeichnungen entstanden sind, gehört ebenfalls mit samt ihrer damaligen gleichnamigen deutschen Besitzerin der Historie an. Letztlich konnte auch die Stadt Agadir nicht mehr den ursprünglichen Charakter erhalten, in der Kiefer sie kennen gelernt hat und entwickelt sich sogar immer mehr zu einer eintönigen Touristenmetropole, wie sie an den Küsten Tunesiens oder Spaniens bereits zahlreich vorzufinden sind.

Seit dem 11. September 2001 scheint sogar die apokalyptisch anmutende Entwicklung zum „Weltbürgerkrieg“ unaufhaltsam fortzuschreiten. Von diesen wehmütigen, ins Pessimistische hineinreichenden Klängen im Ohr begleitet und dem auffrischenden atlantischen Küstenwind getrieben, greift Kiefer an lauen marokkanischen Abenden bis heute zur Feder, um die Ereignisse des zu Ende gehenden Tages auf dem Papier festzuhalten und dadurch seelische Kraft für den nächsten Morgen aufzutanken.

Sein theologischer Hintergrund mit unzähligen aufgenommenen Weisheiten aus dem Alten und Neuen Testament, aus dem Koran, aber auch aus profaner Gegenwartsliteratur von Ernst Jünger bis Julien Green, haben bei ihm das Bewusstsein geschärft, das alles auf dieser Erde – und damit auch wir Menschen – vergänglich sind, die Toten zugleich aber stets Platz für die Lebenden freigeben.

Dem eigenen Selbstverständnis nach handelt es bei Kiefers Tagebuchführung weniger um Literatur als mehr um eine Dokumentation. Sie verbindet Ereignisse der Weltgeschichte, vom Untergang der DDR 1989/90 über den Wechsel auf dem marokkanischen Thron 1999 bis zum Arabischen Frühling 2011, aus Kiefers eigener Erfahrungswelt, wie den sich anbahnenden Tod des noch in der Villa Christina kennen gelernten Carlheinz, mit der Verarbeitung vom Autor gelesener Literatur. Sein gesamtes bisheriges Tagebuch vor Augen gelangt dieser am 25. Mai 2013 sogar zum ernüchternden und zugleich bescheidenen Eingeständnis: „Die Literatur hat mich gar nicht so stark interessiert. Literaturgespräche haben mich immer gelangweilt.“

Nichtsdestotrotz langweilt auch die Lektüre des Tagebuchs eines Autors, der sich bislang immerhin mit Poesie, Prosa und sogar theologisch wissenschaftlichem Sachverstand bereits an die Öffentlichkeit wagte, keineswegs. Sie bietet gleichermaßen ein dokumentarisches wie literarisches Erlebnis. Man bekommt vielmehr den Eindruck, sich in einem Kosmos, der sich in den Fenstern eines beschaulichen marokkanischen Cafés widerspiegelt, zu befinden.

Jeglicher bedauernswerter Veränderungen des Landes zum Trotz, findet Kiefer in Marokko bis heute die Muße zum Schreiben und zur Aufzeichnung seiner täglichen Erlebnisse. Beim Abschluss seines Buches in der Gegenwart angelangt, keimt der innige Wunsch nach einem zweiten Tagebuchband über die künftigen dreißig Jahre des melancholischen Westfalen aus der unaufgeregten Lebendigkeit des marokkanischen Südens hervor.

Reinhard Kiefer: Die goldene Düne – Marokkanisches Tagebuch 1983-2013, Rimbaud Verlag, Aachen 2014, ISBN: 978-3-89086-434-1