Mohammed Mursi – oder das Land im Glaskäfig

Foto: Marco Verch, via flickr | Lizenz: CC BY 2.0

Berlin (iz). Kurz bevor Mohammed Mursi in dem Glaskäfig des Gerichts zusammenbrach, sagte er : „Mein Land wird mir immer noch lieb sein, egal wie sehr ich unterdrückt wurde, und mein Volk wird in meinen Augen immer noch ehrenwert sein, egal wie gemein sie für mich waren.“
Mursi, der erste demokratisch gewählte Präsident Ägypten wurde in mindestens, sechs Verfahren diverser Verbrechen beschuldigt – von Hochverrat, über Spionage bis hin zu Mord reichend. Dass es sich um „Schauprozesse“ – die nicht nur im Falle von Mursi ausgetragen werden, um Gegner des Militärregimes mundtot zu machen – war Konsens. Als Mursi am 17. Juni starb, trauerten nicht nur Mitglieder der Muslimbruderschaft.
Betrachtet man die internationalen Reaktionen in sozialen Netzwerken, so nehmen Menschen vom Maghreb bis zum Nahen Osten Anteil an dem Tod des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens. Linke, Säkulare, Künstler, Ex-Politiker, Journalisten und Fußballspieler trauerten in der Öffentlichkeit. Viele derjenigen, die ihn während seiner Präsidentschaft vehement kritisierten, ihm vorwarfen lediglich ein Präsident für die Anhänger der Muslimbruderschaft sei und sein Abdanken verlangten, sprachen von Schuld. Schuld an dem, was Ägypten in den letzten sieben Jahren widerfährt, war die Ermächtigung des ägyptischen Militärs.
Viele Menschen, die 2013 an den Protesten gegen Mursi beteiligt waren, bedauern nun die Teilnahme an der, durch das ägyptische Militär eingefädelte Inszenierung; nun, da bekannt ist, dass der Putsch durch das Einschreiten der ägyptischen Armee geplant und ausgeführt worden war. Denn nur solche, die darauf insistieren, blind zu bleiben, können die Tyrannei, die Bestialität und die Unbarmherzigkeit, die Ägypten heute regiert, negieren.
Eine tiefe Traurigkeit und Empörung über die Ungerechtigkeit, die nicht nur der Ex-Präsident ertragen musste, sondern mindestens 60.000 politische Gefangene, kristallisierte sich im Netz. Die globalen Reaktionen zu Mursis Tod, der vor seiner Regierungszeit eher als unscheinbar galt, wird zu seinem überwältigenden Vermächtnis. Sein Tod war angesichts der unbarmherzigen Haftbedingungen keine Überraschung. Während der letzten sieben Jahre wurde er in Einzelhaft gehalten, während der er von der Außenwelt völlig abgeschnitten blieb. Die Verhandlungen konnte er von einem schalldichten Glaskäfig aus wahrnehmen.
Seine Verteidiger betonten wiederholt, dass Mursi, der zuckerkrank war und an einer Lebererkrankung litt, von jeglicher medizinischen Versorgung abgeschnitten wurde. Der Aufschrei, der auch internationale Stimmen erreichte, blieb ohne Resonanz. Die Familie des Ex-Präsidenten wurde – als Spitze der Erniedrigung – die Bitte verweigert, ihn in seinem Heimatdorf zu begraben. Nur seine Kinder durften an der Beerdigung teilnehmen, während seiner Frau die Anwesenheit verboten wurde.
Mubarak hingegen, der Ägypten 30 Jahre regierte, genoss während seiner Haftzeit, von der er inzwischen befreit ist, luxuriöse und durch das ägyptische Militärregime finanzierte Konditionen.
Während seiner Prozesse war der ehemalige Diktator in bequemen Militärkrankenhäuern untergebracht, von denen aus er zu den Verhandlungen geflogen worden war. Nur die Marschmusik fehlte zur Komplettierung dieser Farce. Wie konnte das Militär, das Ägypten nun mit eiserner Hand regiert, vergessen, dass Mubarak einst der frühere Chef der Luftwaffe – also einer von ihnen – war?  Für die Ermordung von 900 Menschen in Ägypten wurde er nie zur Verantwortung gezogen.
Auch wenn Mohamed Mursi eine widersprüchliche Figur während seiner Präsidentschaft war: Selbst seine vehementesten Kritiker halten ihm heute zu Gute, dass sie ihre Redefreiheit zu seiner Regierungszeit voll in Anspruch nehmen konnten. Das Ausmaß der Ungerechtigkeit, die ihm geschah und die in Ägypten nun allgegenwärtig herrscht, ist auf menschlicher Ebene nur sehr schwer zu tolerieren – unabhängig von der ursprünglich Haltung gegenüber dem verstorbenen Ex-Präsidenten.
Der Putsch im Jahre 2013, der durch Al-Sisi geschickt ausgeführt und als Zweite Revolution inszeniert worden war, muss heute als Putsch gegen den ersten demokratisch legitimierten Präsidenten und Verfall der „Revolution“ 2011 bezeichnet werden. Wiederholt versuchte Al-Sisi Mursi während der letzten sechs Jahre Deals zu unterbreiten: Freiheit und Entlassung aus der Haft gegen das Ablegen des Amtes als Präsident. Hierfür hätte letzterer seine Legitimität als erster demokratischer Präsident Ägyptens öffentlich aufgeben müssen. Ein lukrativer Deal, dessen Abschluss man Mohammed Mursi angesichts der verrohten Bedingungen, die ihn umgaben, nicht hätte übel nehmen können. Wiederholt muss sich Mursi geschworen haben, den Militärputsch, der ihn und damit metaphorisch gesehen die Volkssouveränität stürzte, niemals anzuerkennen. Das ist sein Vermächtnis, dessen Tod einem Epilog der ägyptischen Revolution erscheint; dem letzten Nagel im Sarg eines bestatteten Traums gleichend.
Die Realität Ägyptens gleicht einem Albtraum: Heute wütet Al-Sisi in Kairo. Kurz nach dem Putsch 2013 wurde das größte Massaker an Zivilisten in Ägyptens Geschichte verübt. Am 14. August 2013 wurden in Kairo mindestens 817 Menschen an nur einem Tag ermordet, als Soldaten und Polizei am 14. August 2013 zwei Sitzstreiks gewaltsam auflösten. Bis heute bleiben die Verantwortlichen nicht nur straflos, sie regieren das Land. Die Repressionen, die mit dem Massaker 2013 erst richtig ihren Anfang nahmen, richten sich nicht ausschließlich gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft. Sie treffen Zivilisten jeder Couleur, linke und säkulare Aktivisten der Zivilgesellschaft. Unterdrückt werden Ärzte, Journalisten, Anwälte, Künstler und Fußballer.
Mit Notstandsgesetzen und dem erlassenen Journalistengesetz sichert die Militärregierung ihre Macht und zensiert jede Kritik am Fortbestehen der unter Mubarak herrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umständen und seiner Elite.
Die Todesurteile und teilweise auch vollstreckten Hinrichtungen sind ein drastischer Beleg für die Justizwillkür und dafür, dass Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit missachtet werden.
Es ist, als hätten die Mächte, die Mursis Mikrofon in seinem Gerichtskäfig ausschalteten, das nationale aber auch das internationale Gewissen eingedämmt. Wie viele hochkarätige Besuchte durfte Al-Sisi während der letzten sechs Jahre abhalten? Er wurde weltweit auf internationaler Bühne gefeiert. Von Frankreich mit Kriegsschiffen und von Deutschland mit U-Booten versehen; die Stabilität Ägyptens wird wiederholt als Legitimierung der Unterstützung aufgeführt.
Dabei ist das Land weder wirtschaftlich noch politisch stabil. Die Unterstützung Al-Sisis unter dem Vorwand der Stabilitätssicherung ist ein Trugschluss und wird sowohl für Ägypten als auch für Deutschland weitreichende Folgen zeigen. Die finanzielle Unterstützung der Putschregierung, Hilfen und Geschäfte ohne klare Bedingungen sind nicht nur ein Verstoß gegen die Grundwerte der Bundesrepublik. Sie sind angesichts der verheerenden Menschenrechtsverletzungen ein Schlag ins Gesicht der zahlreichen zivilen Opfer des Regimes und eine Beistand für das Fortbestehen der jetzigen Ausschreitungen.
Man braucht im Grunde nur Algerien oder den Sudan in Betracht zu ziehen, um zu erkennen, dass diese vermeintliche Stabilität entweder eine Selbsttäuschung oder auch ein Vorwand für das Unterstützen der Repressionen ist.
Zu diesem Schluss kommt man, beschäftigt man sich sehr intensiv mit den deutsch-ägyptischen Beziehungen der letzten Jahre. Nicht nur Abgeklärtheit ist ein Resultat dieser Auseinandersetzung, sondern auch die Forderung: Hört auf, euch als Verfechter und Prediger der Demokratie auszugeben!