Nach 17 Jahren „Anti-Terror-Krieg“

Foto: Adam Mancini, US-Army | Lizenz: Public Domain

BERLIN/WASHINGTON (GFP.com). 17 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 dringen Berliner Regierungsberater auf die Überprüfung des fortdauernden „Anti-Terror-Kriegs“. Nach den Anschlägen seien in den westlichen Staaten im Namen des „Anti-Terror-Kriegs“ zahlreiche Maßnahmen wie „Inhaftierungen ohne Gerichtsurteil“ oder die massenhafte „anlasslose Überwachung“ eingeführt worden, die damals scharf kritisiert wurden, heißt es in einer aktuellen Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Viele der Maßnahmen würden bis heute durchgeführt; die Kritik daran sei allerdings weitgehend verstummt, obwohl sie eine „systematische Aushöhlung von Menschen- und Bürgerrechten“ mit sich brächten. Der Vorwurf trifft auch Deutschland. Die Bundesrepublik verschärft im Namen des „Anti-Terror-Kriegs“ die innere Repression und ist Standort für den US-Drohnenkrieg, in dem Verdächtige ohne Gerichtsurteil ermordet werden. Politiker, die ab 2001 in die Verschleppung Verdächtiger in CIA-Foltergefängnisse involviert waren, haben staatliche Spitzenposten inne.
Vom Ausnahme- zum Normalzustand
17 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 dringen Berliner Regierungsberater auf eine Überprüfung des unmittelbar nach den Anschlägen gestarteten und bis heute fortdauernden „Anti-Terror-Kriegs“. Zahlreiche Maßnahmen, die damals eingeleitet und zunächst häufig kritisiert worden seien – „Inhaftierungen ohne Gerichtsurteil, gezielte Tötungen, anlasslose Überwachung“ –, würden bis heute weitergeführt und faktisch auch in Europa längst allgemein „toleriert“, heißt es in einer aktuellen Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Vor allem in den USA seien eine „systematische Aushöhlung von Menschen- und Bürgerrechten“, eine zunehmende „Konzentration von Entscheidungsgewalt in den Händen der Exekutive“ sowie ein „Ausbau des nationalen Sicherheitsstaates“ zu konstatieren; doch unternähmen auch europäische Regierungen ähnliche Schritte und eiferten den Vereinigten Staaten „in vielem“ nach. „Aus der in einer Situation des Ausnahmezustands eingeführten Politik“ sei mittlerweile „ein Normalzustand geworden“, der kaum noch hinterfragt werde, urteilt der Autor des SWP-Papiers. Es gelte ihn auf den Prüfstand zu stellen – umso mehr, als „ein baldiges Endes des Krieges durch einen Sieg unwahrscheinlich“ sei.
Staatliche Morde
Die SWP-Studie zeichnet detailliert die Entwicklung zentraler „Anti-Terror“-Maßnahmen in den Vereinigten Staaten unter den Präsidenten George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump nach. So ist etwa, heißt es in dem Papier, die „Anwendung von Folter“ letzten Endes offiziell eingestellt worden; allerdings genießen „die für den Einsatz von Folter Verantwortlichen … vollständige Straflosigkeit“ und „konnten weiter Karriere machen“. Dies gilt beispielsweise für Gina Haspel – die ehemalige Leiterin eines CIA-Foltergefängnisses in Thailand wurde von Präsident Trump zur CIA-Direktorin ernannt. Beibehalten wurde, wie die SWP konstatiert, die Option, Personen ohne Gerichtsurteil zeitlich unbeschränkt zu inhaftieren; das Internierungslager Guantanamo ist entsprechend bis heute in Gebrauch.
Systematisch ausgebaut worden ist der gezielte Mord an Verdächtigen in zahlreichen Staaten Afrikas, des Mittleren Ostens sowie Südasiens mit Hilfe von Drohnen; die USA maßen sich an, Verdächtige in fremden Staaten nicht nur ohne Gerichtsurteil, sondern auch ohne jede öffentliche Begründung aus eigener Vollmacht umzubringen. Dabei werden auch sogenannte signature strikes durchgeführt: Mordanschläge auf Personen, die nicht einmal namentlich bekannt sind, sich aber durch ihr Verhalten aus Sicht von US-Spezialisten verdächtig gemacht haben. Wie das SWP-Papier bestätigt, sind die Drohnenangriffe zuerst unter Präsident Barack Obama und dann unter seinem Nachfolger Trump jeweils ausgeweitet worden.
Zerstörte Freiheitsrechte
Lediglich am Rande streift das SWP-Papier die Entwicklung der „Anti-Terror“-Maßnahmen in der EU. So konstatiert der Autor, in Frankreich habe nach den Terroranschlägen von 2015 „fast zwei Jahre lang ein verfassungsrechtlicher Ausnahmezustand“ gegolten; anschließend seien „viele der damals erlassenen Befugnisse für Polizei und Militär in einem Anti-Terror-Gesetz dauerhaft verankert“ worden. Großbritannien wiederum habe im Irak „einen seiner Staatsbürger durch einen Drohnenangriff töten lassen, ohne auch nur der Versuch einer juristischen Begründung zu unternehmen“.
Darüber hinaus forderten Polizeien und Geheimdienste 2in nahezu allen europäischen Ländern … immer neue Kompetenzen zur Überwachung der Kommunikation“. Letzteres trifft nicht zuletzt auf Deutschland zu. Aktuell sind neue Polizeigesetze in mehreren Bundesländern in Arbeit oder bereits verabschiedet worden, die, wie etwa die niedersächsische Datenschutzbeauftragte Barbara Thiel moniert, „unter dem Deckmantel, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, … die Freiheitsrechte der Bürger bis zur Unkenntlichkeit“ reduzieren.
Darüber hinaus haben auch deutsche Stellen zur Tötung deutscher Staatsbürger durch US-Drohnen beigetragen – indem sie beispielsweise Mobilfunkdaten an US-Behörden übermittelten; dies sei gesetzeskonform, sofern der Betroffene „einer organisierten bewaffneten Gruppe” angehöre, erklärte schon vor mehreren Jahren der Generalbundesanwalt. Nicht zuletzt wird der US-Drohnenkrieg auch mit Hilfe militärischer Einrichtungen in Deutschland geführt, darunter vor allem die US-Militärbasis Ramstein. Die Basis unterstütze „die Planung, Überwachung und Auswertung“ entsprechender „Luftoperationen“, teilte im Januar 2017 die Bundesregierung mit.
In Guantanamo festgesetzt
Hinzu kommt, dass die Verwicklung deutscher Stellen in die Verschleppung von Verdächtigen durch die CIA und in ihre Internierung in Foltergefängnissen nie wirklich aufgeklärt und schon gar nicht sanktioniert worden ist. Davon profitieren auch Politiker, die heute staatliche Spitzenämter bekleiden. Dies zeigt etwa der Fall des Bremers Murat Kurnaz. Kurnaz, der im November 2001 in Pakistan unter falschen Verdächtigungen festgenommen, anschließend von US-Stellen in ein Folterlager in Afghanistan und dann in das US-Lager Guantanamo verschleppt worden war, hätte bereits 2002 in die Bundesrepublik zurückkehren können.
Die Bundesregierung lehnte ein entsprechendes US-Angebot allerdings ab – offiziell, weil Kurnaz, der keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, seine Aufenthaltserlaubnis nicht wie erforderlich vor dem Ablauf von sechs Monaten verlängert hatte, was er, widerrechtlich in Guantanamo festgehalten, gar nicht konnte. Die infame Begründung dafür, ihm die Einreise nach Deutschland zu verweigern, lieferte damals der Leiter des Referats für Ausländerrecht im Bundesinnenministerium, Hans-Georg Maaßen. Dem heutigen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz verdankt Kurnaz vier weitere Jahre Internierung in Guantanamo bis zu seiner Freilassung im August 2006. Maaßen hat seine damalige Begründung für die Einreisesperre gegen Kurnaz später stets verteidigt.
„Sicherheitsrunden“ im Kanzleramt
Formell getroffen wurde die Entscheidung, Kurnaz wegen des – schuldlosen – Verlusts seiner Aufenthaltserlaubnis in Guantanamo leiden zu lassen, bei einer Besprechung im Bundeskanzleramt am 29. Oktober 2002. Beteiligt war der damalige Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier (SPD). Der heutige Bundespräsident war seit Herbst 2001 als Teilnehmer der „Sicherheitsrunden“ im Kanzleramt in diverse Entscheidungen involviert, mit denen zum Beispiel die Entsendung mehrerer Mitarbeiter deutscher Geheimdienste – BND, Bundesamt für Verfassungsschutz – und des BKA in Foltergefängnisse im Libanon, in Syrien und in Afghanistan sowie nach Guantanamo in die Wege geleitet wurde.
Dort nahmen die deutschen Beamten persönlich an Verhören teil oder stellten zumindest indirekt die von den Gefangenen zu beantwortenden Fragen. Über die deutsche Kollaboration mit der CIA bei Verschleppung und Folter von Terrorverdächtigen hat sich später der liberale Schweizer Politiker Dick Marty – in seiner Funktion als Sonderermittler des Europarats zu den kriminellen transatlantischen Machenschaften – bitter beklagt. Im Jahr 2007 warf er außerdem der Bundesregierung vor, „die Suche nach der Wahrheit“ im „Anti-Terror-Krieg“ hartnäckig zu „behindern“. Damals amtierte Steinmeier als Außenminister unter Kanzlerin Angela Merkel.
Gescheitert
Der Appell aus der SWP, den „Anti-Terror-Krieg“ endlich zu überprüfen, erfolgt zu einer Zeit, zu der sich die Erfolglosigkeit der Maßnahmen deutlicher zeigt denn je. Ging es im Herbst 2001 noch darum, Al Qaida den Garaus zu machen, so ist der globale Jihadismus seitdem gewachsen: Heute richtet sich der „Anti-Terror-Krieg“ auch gegen den IS, der eine Zeitlang sogar einen eigenen Staat unterhalten konnte. Al Qaida ist gleichfalls erstarkt: Allein der syrische Ableger der Organisation zählt heute laut Angaben des Syrian Observatory for Human Rights gut 30.000 Kämpfer.