Naher Osten: Wie die Briten die Arabische Welt teilten und bis heute ein Durcheinander hinterließen

Ausgabe 220

(Lost Islamic History). Die Herausbildung des modernen Nationalstaates in der ara­bischen Welt war ein faszi­nierender und herzzerreissender Prozess. Vor einhundert Jahren waren die meisten Araber Teil des osmanischenKhalifates – einem großen, multi-ethnischen Staat mit Zentrum in Istanbul. Heute sieht die Landkarte der arabischen Welt wie ein sehr komplexes Puzzle aus. Eine unübersichtliche Reihe von Ereignissen in den 1910er und 1920er Jahren führten zum Ende der osmanischen Herrschaft und zum Aufstieg neuer ­Nationen, deren Grenzen durch den Nahen Osten liefen und die Muslime trennten.

Obwohl es viele verschiedene ­Faktoren gab, die zu dieser Entwicklung ­beitrugen, war die Rolle Großbritanniens wesentlich größer als die anderer Akteure. Drei Abkommen führten zu konkurrierenden Versprechen, welche die Briten ­einhalten mussten. Das Ergebnis war Chaos, das einen – damals – erheblichen Teil der muslimischen Welt aufteilte.

Der „Große Krieg“
Im Sommer 1914 brach Krieg in Eu­ro­pa aus. Ein komplexes Bündnissystem, Wettrüsten, koloniale Ambitionen und das allgemein ­schlechte Management auf Seiten der Eliten führten zu einem zerstö­rerischen Krieg, der zwischen 1914 und 1918 das Leben von 12 Millionen Menschen forderte. Auf alliierter Seite kämpften die Imperien Großbritanniens, Frankreichs und Russlands. Die Mittelmächte bestanden aus Deutschland und Österreich-Ungarn.

Die Rolle der Osmanen
Zu Beginn verhielt sich das Osmanische Reich neutral. Es war militärisch nicht so stark wie die anderen Mächte und wurde durch innere und äußere Einflüsse bedroht. Der osmanische Sultan und Khalif war zu diesem Punkt nichts als eine Repräsentationsfigur, nachdem der letzte mächtige Sultan, Abdulhamid II., 1908 gestürzt und durch die Militärregierung der „Drei Paschas“ ersetzt wurde. Diese gehörten zu einer säkularen, verwestlich­ten Gruppierung: den Jungtürken. Und schließlich befanden sich die Osmanen in einer ernsthaften Zwickmühle, da sie gegenüber den Großmächten stark verschuldet waren und ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten. Nachdem sie zuerst versuchten, sich den Alli­ierten anzuschließen und zurückgewiesen wurden, schlugen sie sich im Oktober 1914 auf die Seite der Mittelmächte.

Sofort entwickelten die Briten Pläne für die Zerschlagung des Osmani­schen Reiches und die Ausdehnung ihres Imperiums. Seit 1888 kontrollierten sie Ägypten, Indien seit 1857. Der osmani­sche Nahe Osten lag genau zwischen diesen beiden wichtigen Kolonien. Und die Briten waren entschlossen, ihn als Teil ihrer Kriegsziele auszulöschen.

Der Arabische Aufstand
Eine der britischen Strategien bestand in der Aufwiegelung der arabischen Untertanen gegen die Regierung. Im Hidschas fanden sie willige Helfer. Der Amir (Gouverneur) von Mekka schloss einen Vertrag mit den Briten, um einen Aufstand gegen die Regierung zu beginnen. Die Gründe für sein Bündnis mit den auswärtigen Briten gegen andere Muslime bleiben bis heute ungeklärt. Mögliche Motive für seine Revolte waren: Ablehnung der türkisch-nationalistischen Ziele der drei Paschas, eine persönliche Fehde mit der osmanischen Regierung oder einfach nur das Verlangen nach seinem eigenen Königreich.

Unabhängig von seinen Gründen entschied sich der Scharif zu einer Revolte gegen die osmanische Regierung im Bündnis mit den Briten. Im Gegenzug versprach das Empire den Rebellen Geld und Waffen, um ihnen im Kampf gegen die wesentlich organisierteren osmanischen Truppen zu helfen. Außerdem wurde ihm zugesagt, dass er nach dem Krieg sein eigenes arabisches Königreich bekommen würde, welches die gesamte Arabische Halbinsel, inklusive Syrien und Irak, beinhalten sollte. Die Briefe, in denen beide Seiten den Aufstand verhandelten und diskutierten, wurden als Hussein-McMahon-Korrespondenz bekannt. Scharif Hussein stand im Austausch mit dem britischen Hochkommissar in Ägypten, Sir Henry McMahon.

Im Juni 1916 führte Scharif Hussein seine Gruppe bewaffneter Beduinen-Krieger vom Hidschas in einer bewaffne­ten Kampagne gegen die Osmanen. Innerhalb weniger Monate gelang ihnen mit Hilfe der britischen Armee und Kriegsmarine die Einnahme wichtiger Städte in der Region (darunter ­Dschidda und Mekka). Die Briten gaben Hilfe in Form von Soldaten, Waffen, Geld, Beratern (inklusive des „legendären“ Lawrence von Arabien) – und eine Fahne. Die Briten in Ägypten entwarfen diese für die Araber, um sie in der Schlacht zu benutzen. Später wurde sie als die „Fahne des Arabischen Aufstandes“ bezeichnet. Sie wurde zum Modell für andere Fahnen von Ländern wie Jordanien, Palästina, Sudan, Syrien und Kuwait.

Während der Weltkrieg voranschritt, gelang den arabischen Rebellen in den Jahren 1917 und 1918 die Eroberung wichtiger Gebiete. Als die Briten nach Palästina und Jordanien vorstießen, halfen ihnen die Araber durch die ­Einnahme von Amman und Damaskus. Es ist wichtig anzumerken, dass die Arabische Revolte nicht die Unterstützung der arabischen Bevölkerungsmehrheit fand. Sie war eine Minderheitenbewegung, ­deren Führer an der Steigerung ihrer Macht interessiert waren. Die Mehrheit der ­Araber hielt sich zurück und unterstützte weder die Rebellen, noch die osmanische Regierung. Scharif Husseins Plan, sein eige­nes arabisches Königreich zu schaffen, wäre soweit erfolgreich gewesen, hätte es nicht die anderen Versprechen der Briten gegeben.

Sykes-Picot
Bevor die Rebellion der Araber überhaupt beginnen konnte und bevor der Scharif sein Königreich der Araber entwarf, hatten Briten und Franzosen ande­re Pläne. Im Winter 1915/16 trafen sich zwei Diplomaten, Sir Mark Sykes und Francois George-Picot, im Geheimen, um das Schicksal der nach-osmanischen, arabischen Welt zu entscheiden.

Laut dem, was später als Sykes-Picot-Abkommen bekannt wurde, einigten sich Briten und Franzosen auf die gemeinsame Aufteilung der arabischen Welt. Die Briten sollten die Kontrolle in dem Teil übernehmen, was heute Irak, Kuwait und Jordanien ist. Den Franzosen wurde das heutige Syrien, der Libanon und die südliche Türkei übertragen. Der Status von Palästina sollte später festgelegt werden, wobei zionistische Ambitionen in Betracht gezogen werden sollten. Die Einflussbereiche von Briten und Franzo­sen, erlaubten in eini­gen Zonen eine gewisse arabische Selbstverwaltung – aber mit einer europäischen Kontrolle der Monarchien. In anderen Gebieten erhielten beide die totale Kontrolle.

Auch wenn dies ein Geheimvertrag für den Nahen Osten nach dem Krieg sein sollte, wurde der Vertrag 1917 öffentlich, als er von den russischen Bolschewi­ken enthüllt wurde. Das Sykes-Picot-Abkommen widersprach direkt jenen Versprechen, welche die Briten Scharif Hussein machten. Die Enthüllung führte zu erheblichen Spannungen zwischen Briten und Arabern. Es sollte jedoch nicht die letzte widersprüchliche Abmachung bleiben, die von den Briten getrof­fen wurde.

Die Balfour-Deklaration
Eine weitere Gruppe, die in der politi­schen Landschaft des Nahen Ostens mitreden wollte, waren die Zionisten. Der Zionismus war eine politische Gruppierung, welche die Gründung eines jüdischen Staates in den Gebieten Palästinas anstrebte. Sie begann in den 1880er Jahren als Bewegung zur Schaffung einer Heimstätte für Juden (von denen die meisten in Deutschland, Polen und Russland lebten) jenseits von Europa.

Schließlich entschied sich die Gruppe, während des Weltkrieges Druck auf die Briten auszuüben, um ihnen die Ansiedlung in Palästina zu erlauben, sobald der Krieg zu Ende war. Innerhalb der britischen Regierung gab es viele, die der politischen Bewegung freundlich gesinnt waren. Einer von ihnen war Arthur Balfour, der britische Außenminister. Am 2. November 1917 schickte er einem Führer der zionistischen Bewegung ­einen Brief. Dieser beinhaltete die offizielle Unterstützung der britischen Regierung für das Ziel der Zionisten, einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religi­ösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.“

Drei widersprüchliche Vertragswerke
1917 schlossen die Briten drei unterschiedliche Abkommen mit drei verschie­denen Gruppen ab. Sie versprachen drei unterschiedliche Entwürfe für die arabische Welt. Die Araber bestanden darauf, dass ihnen immer noch – durch Hussein – das arabische Königreich gegeben wurde. Franzosen (und Briten) erwarteten, das gleiche Land unter sich aufzuteilen. Und die Zionisten erwarteten, dass ihnen, wie in der Balfour-Deklaration, Palästina übertragen wird.

Wer hat gewonnen?
Keine Seite erreichte alle angestrebten Ziele. Nach dem Weltkrieg wurde der Völkerbund (ein Vorläufer der ­Vereinten Nationen) gegründet. Einer seiner Aufgaben war die Aufteilung der eroberten osmanischen Gebiete. Hier wurden „Mandate“ für die arabische Welt geschaffen. Jedes Mandat sollte entweder durch die Briten oder durch die Franzo­sen regiert werden, „bis zu einer solchen Zeit, wenn sie in der Lage sind, auf eigenen Füßen zu stehen“. Der Bund zog die Grenzen, die wir auf den modernen politischen Landkarten des Nahen Ostens sehen. Ihr Verlauf nahm keine Rücksicht auf die Wünsche der dort lebenden Menschen, noch entsprachen sie tatsächlichen ethnischen, geografischen oder religiösen Grenzen – sie waren vollkom­men willkürlich. Es ist wichtig anzumer­ken, dass die jetzigen politischen Grenzen im Nahen Osten kein Verweis auf unterschiedliche Volksgruppen sind. Die Unterschiede zwischen Irakern, Syrern, Jordaniern etc. wurden von den europä­ischen Besatzern als Methode zur Teilung der Araber geschaffen.

Mit Hilfe des Systems der Mandate erlangten Briten und Franzosen die gewünschte Kontrolle über den Nahen Osten. Soweit es Scharif Hussein betraf, wurde seinen Söhnen erlaubt, in den Mandaten unter britischem „Schutz“ zu regieren. Prinz Faisal wurde zum König von Iraq und Syrien gemacht, Prinz Abdullah durfte König von Jordanien sein. In der Praxis lag die reale Kontrolle dieser Gebiete aber bei London und Paris.

Den Zionisten wurde von der britischen Regierung die Ansiedlung in Paläs­tina erlaubt, auch wenn es ­Begrenzungen gab. Die Briten wollten die bereits in Palästina lebenden Araber nicht verärgern, also wurde die Anzahl der jüdischen Neueinwanderer eingeschränkt. Dies verärgerte die zionistische Bewegung, die von den 1920er bis in die 1940er Jahre nach illegalen Wegen der Einwanderung suchte; es verärgerte aber auch die Araber, die die Beeinträchtigung des Landes betrachteten, das ihres war, seit es 1187 von Salah Ad-Din befreit wurde.

Das von den Briten geschaffene politi­sche Durcheinander nach dem 1. Weltkrieg dauert an. Widerstrebende Abmachungen und in Folge entstandene Länder führten im ganzen Nahen Osten zu politischer Instabilität. Dies, die regiona­le Uneinigkeit der Muslime, führte zu korrupten Regierungen und einem ­wirtschaftlichen Niedergang im Nahen Osten insgesamt. Obwohl sie vor fast 100 Jahren geschaffen wurden, halten die von den Briten geschaffenen Spaltungen im Nahen Osten an.