Neuseeland trauert mit seinen Muslimen

Christchurch (dpa/iz). Es sind die Tage der Blumensträuße, der Kerzen, der Plüschtiere, der handgeschriebenen Zettel. So wie das die Leute in Christchurch von früheren Gelegenheiten aus dem Fernsehen kannten – nach all den schrecklichen Terroranschlägen in europäischen oder amerikanischen Metropolen. Nur dass sie jetzt, auf ihrer eigentlich so friedlichen neuseeländischen Insel, weit entfernt im Pazifik, selbst betroffen sind. Es wird noch lange dauern, bis die Menschen in Neuseeland verkraftet haben, was geschehen ist.
An vielen Orten in der 350 000-Einwohner-Stadt Christchurch wird jetzt der mittlerweile 50 Todesopfer des rechtsextremistischen Anschlags auf zwei Moscheen gedacht: vor den Gotteshäusern selbst; an den Absperrungen, die die Polizei immer noch nicht freigeben will; vor den Krankenhäusern, wo immer noch Dutzende wegen teils schlimmer Schussverletzungen in Behandlung sind.
Viele zieht es zur Al-Nur-Moschee, wo der Attentäter am Freitag die meisten Menschen erschoss: 42 Tote allein hier. An einem Gitter hängt nun eine Zeichnung: eine Frau mit Dutt und eine Frau mit Kopftuch, die sich umarmen. Darunter steht: „Das ist Eure Heimat. Ihr hättet hier sicher sein sollen. Mit Liebe für unsere muslimische Gemeinschaft.“ Dazu viele Namen und ein Dutzend selbstgemalte Herzchen.
Mohammed Lidon Biswas, vor sieben Jahren aus Bangladesch nach Neuseeland gekommen war selbst auf dem Weg zum Freitagsgebet in die Moschee. Er war etwas später dran als sonst. Als er die Schüsse hörte, blieb er stehen. Dann sah er die ersten Leichen. Was geschehen ist, begreift er bis jetzt nicht. Noch nie habe er in Neuseeland so etwas wie Hass auf Muslime erlebt. „Bis gestern haben wir gedacht, Neuseeland sei der Himmel auf Erden.“
Die Opfer kommen aus Einwandererfamilien. Viele Flüchtlinge sind darunter. Die Familie von Khaled Mustafa aus Syrien zum Beispiel hatte gehofft, nach all dem Leid zu Hause eine sichere neue Heimat gefunden zu haben. Am Freitag war die Familie in der Al-Nur-Moschee. Jetzt ist der Vater tot. Hamza, einer der Söhne, gilt offiziell als vermisst. Zaid, ein anderer Sohn, musste wegen seiner schlimmen Schusswunden sechs Stunden lang operiert werden.
Zu den Toten gehört auch Hadschi-Daud Nabi, der schon vor vier Jahrzehnten aus Afghanistan kam. Er wurde 71. Nabi ist jetzt einer der Helden, die es bei solchen Anlässen meistens auch gibt: Nach Berichten von Überlebenden warf sich der alte Mann in die Schusslinie, um andere zu retten. Oder Atta Elayyan (33), geborener Palästinenser, aber mit neuseeländischem Pass. Er war Torwart von Neuseelands Futsal-Nationalmannschaft, einer Fußball-Variante. Ein Teamkollege sagt nun: „In unseren Herzen ist eine große Leere.“
Nach einer – noch inoffiziellen – Liste der Behörden ist das jüngste Todesopfer drei Jahre alt, das älteste 77. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind alle muslimischen Glaubens. Noch aber sind nicht alle identifiziert. Bis Mittwoch wird es vermutlich dauern, bis die Polizei die Leichname freigegeben hat. Die ersten Toten sollten noch am Sonntag an die Familien übergeben werden. Damit kann dann auch mit den Beerdigungen begonnen werden.
Aber nicht nur für Neuseelands Muslime, für das ganze Land markiert der letzte Freitag einen tiefen Einschnitt. Bislang war der Fünf-Millionen-Einwohner-Staat von Amokläufen und Terrorangriffen weitgehend verschont geblieben. Das heile Image „stolze Nation mit 200 Ethnien und 160 Sprachen“ ist nun dahin. Premierministerin Jacinda Ardern, die mit ihrem Lebensgefährten und der kleinen Tochter nach Christchurch gekommen ist, sagt: „Neuseeland ist in Trauer vereint.“ Sie trägt schwarz – und auch ein Kopftuch.
Fast zur gleichen Zeit wird der mutmaßliche Täter zum ersten Mal einem Richter vorgeführt. Der 28-jährige Australier, seit ein paar Jahren in Neuseeland zu Hause, hat weiße Häftlingskleidung an und Handschellen um die Gelenke. Er ist barfuß.
Mit der Hand macht er das „Okay“-Zeichen, wie es im englischsprachigen Raum verbreitet ist: Daumen und Finger zusammen, die anderen Finger abgespreizt. Manche sehen darin auch einen rechten Gruß: „White Power“ – wie ihn Leute machen, die glauben, dass Menschen mit weißer Hautfarbe anderen überlegen sind.
Nach allem, was man inzwischen weiß, war der Attentäter bei seinem extrem brutalen Werk in den beiden Gotteshäusern allein zugange. Fünf Schusswaffen hatte er dabei, halbautomatische Waffen und Schrotflinten. Das Video seiner Helmkamera, mit der das Geschehen live ins Internet übertragen wurde, dauert 17 Minuten. Er sitzt jetzt in einem Hochsicherheitsgefängnis, es erwartet ihn ein Prozess wegen vielfachen Mordes mit dem absehbaren Urteil lebenslange Haft.
Am Sonntag stellt die Premierministerin klar, dass er in Neuseeland vor Gericht kommen wird – und nicht etwa in seiner Heimat Australien, wie spekuliert wurde. Das ist man den Opfern wohl auch schuldig. Ardern bestätigt auch, dass in ihrem Büro neun Minuten vor der Tat eine E-Mail des ehemaligen Fitnesstrainers einging, mit einer rechtsextremistischen Kampfschrift von 74 Seiten im Anhang. Sie wertet den Angriff als „Terrorakt“. In der Mail habe es aber keine Hinweise auf den Tatort gegeben.
Der erste Anruf auf der Notrufnummer 111 ging um 13.41 Uhr Ortszeit ein. Um 13.47 Uhr, so Neuseelands Polizeichef Mike Bush, war die erste Streife an der Al-Nur-Moschee. Binnen zehn Minuten sei dann auch die erste bewaffnete Spezial-Einheit eingetroffen. Überwältigt wurde der Mann aber erst, als er in der zweiten Moschee acht weitere Menschen umgebracht hatte und mit dem Auto auf der Flucht war. Ein Polizeiauto rammte seinen SUV, zwei Beamte zerrten ihn heraus und zwangen ihn auf den Boden. Dies geschah laut Polizei 36 Minuten nach dem ersten Anruf.
Die 18-jährige Hannah, eine Deutsche aus der Nähe von Duisburg, war zu diesem Zeitpunkt ganz in der Nähe. Mit einer Freundin fuhr sie an der Szene vorbei, wunderte sich, dass sich die Räder noch drehten und dachte an einen Unfall. „Erst als wir später ganz allein auf der Straße waren und eine Frau uns anschrie, wir sollten uns in Sicherheit bringen, haben wir kapiert.“ Sie rettete sich dann für ein paar Stunden in ein Café, bis der Alarm aufgehoben wurde.
Die Abiturientin, die seit August durch Neuseeland tourt, wagte sie sich am Wochenende wieder zurück in die Innenstadt. Es waren kaum Leute unterwegs. „Die Neuseeländer sind immer noch sehr hilfsbereit», meint Hannah. «Aber sie sind jetzt auch sehr in sich gekehrt.“