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Neutralisierung aller Werte

Ausgabe 257

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(iz). Es ist nicht allzu lange her, als die Moderne noch ihren Triumph zu feiern schien. Mit Stolz wurde darauf aufmerksam gemacht, mit der jahrhundertealten Tradition unwiderruflich gebrochen zu haben. Die Moderne markierte geradezu den Beginn einer neuen Epoche mit der verführerischen Verheißung, die Gesellschaft aus dem obskurantistischen Zeitalter zu befreien.
Die ideologische Moderne, die insbesondere von Aufklärung und Liberalismus geprägt war, griff gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort „Modernismus“ die theologische Debatte innerhalb der katholischen Kirche auf. Die theologisch neu einsetzende historisch-kritische Methode war darum bemüht, einen Ausgleich zwischen der traditionellen Lehre und der Moderne herbeizuführen. 1941 veröffentlichte der evangelische Theologe Prof. Rudolf Bultmann (gest. 1976) seinen Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“, worin er die Entmythologisierung des Neuen Testaments für unvermeidlich hielt. Danach stünden die Theologen vor der großen Herausforderung, die mythologischen Reden vom Wahrheitsgehalt der Schrift differenzierend zu entmythologisieren.
Bultmann unterstrich damit im Zusammenhang mit dem Neuen Testament, dass sich darin viele Märchen und Unwahrheiten befänden, die strengstens vom Wahrheitsgehalt zu unterscheiden wären. Unbezweifelbar stellt Muhammad Khalafallah (gest. 1991) das muslimische Pendant zu Bultmann dar. Der Ägypter war der Schüler des berühmten Literaturwissenschaftlers Amin Al-Khulis (gest. 1966), der zugleich auch sein Doktorvater war.
Als Khalafallah seine Dissertation „Al-fann al-qasasi fi’l-Qur’an Al-Karim“ (Die Erzählkunst des heiligen Qur’an) einreichte, wurde eine zuvor nicht absehbare Kontroverse im Lande ausgelöst. Das Leitmotiv seiner Doktorarbeit war, dass die geschichtlichen Erzählungen im Qur’an keineswegs historische Wahrheiten verkünden würden.
Dagegen wird aber im Qur’an unmissverständlich versichert, alle Narrative in der schriftlichen Erzählung historisch wahrheitsgetreu überliefert zu haben: „Wir berichten dir [Muhammad] ihre Geschichte der Wahrheit gemäß.“ (Al-Kahf, 13) Die alten Mekkaner waren nämlich diejenigen, die den Propheten Muhammad beschuldigten, historische Fabeln erdacht zu haben: „Und sie sagen: (Es sind) Fabeln der Früheren, die er sich aufgeschrieben hat.“ (Al-Furqan)
Primär strebt die Ideologie der Moderne im Grunde danach, eine alternative Lebensweise nach dem Grundsatz der Werteneutralität entgegen der religiösen Weltanschauung darzubieten. In seinem nach wie vor populären Buch „Der Islam“ formulierte der Theologe Hans Küng seine Vorstellung in Bezug auf das Qur’anverständnis der Muslime, in dem er unverhohlen das gleiche Schicksal, gegebenenfalls eine übereinstimmende Lesart zur Bibel, herbei wünscht.
Für den französischen Soziologen Alain Touraine bedeutet die Moderne die Sakralisierung der Gesellschaft durch Unterwerfung unter das Naturgesetz der Vernunft. Sie kann deshalb nicht bloß als ein harmloses Erscheinungsbild wahrgenommen werden, da sie normative Werte aus ihrer ideologischen Weltanschauung impliziert. In diesem Sinne soll Gott durch die Gesellschaft als Maßstab der Zulieferung von Werten abgelöst werden. Die politischen und sozialen Organisationsformen sollen nur noch dahin geführt werden, ihre Legitimation ausschließlich von der modernistischen Ideologie zu beziehen. Eine strikte Einhaltung würde automatisch den Wohlstand und die Zufriedenheit der Bürger garantieren, da sie dezidiert auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausgerichtet sei.
Andererseits beschränkte sich die historisch-kritische Methode keinesfalls auf die Katholiken. Bekanntermaßen traten bereits im 17. Jahrhundert Gelehrte aller Konfessionen in den Diskurs, mithilfe dieser neuen Methode „die Geschichten der Religion rein historisch“ durch die Emanzipationswissenschaft erklären zu können. In diesem Zusammenhang wird im Übrigen zum Ausdruck gebracht, dass weder im geschichtlichen Verlauf noch in der Gegenwart ideologiefreie Staatswesen vorhanden waren und sind, ja dass selbst Säkularismus und Werteneutralität schlussendlich Weltanschauungen sind.
Gleichwohl kann im Zeichen der Anforderungen der Modernität der Münsteraner Religionspädagoge Prof. Mouhanad Khorchide angeführt werden, der im Zentrum für Islamische Theologie Hunderte Religionslehrer in Deutschland ausgebildet hat. Er vertritt öffentlich die Ansicht, der Islam habe nicht einmal eine Anleitung zur Spiritualität vorzuweisen: „Der Islam gibt keine Instruktionen, wie genau das Herz geläutert wird, wie das Leben auf Gott hin ausgerichtet werden kann (…)“
Hierbei fällt allerdings auf, dass Khorchide – bewusst oder unbewusst – sämtliche Qur’anverse ignoriert, die genau das Gegenteil ausdrücken. Die Muslime sind durch den Qur’an dazu angehalten, den Propheten Muhammad für ihre Lebensgestaltung als Vorbild zu nehmen: „Es ist schon für euch im Gesandten Allahs ein gutes Beispiel für den, der auf Allah hofft und den Letzten Tag und Allahs viel gedenkt.“ (Al-Ahzab, 21)
Dementsprechend erläutert Allah im Qur’an am Vorbild und der Lebensweise von Muhammad, dass eine Läuterung des Herzens ausnahmslos durch die vorbildliche Befolgung der Sunna zu realisieren ist: „Wir haben euch sogar einen Gesandten aus eurer Mitte erstehen lassen, der euch Unsere Botschaften vorträgt und euch läutert und euch das Buch und die Weisheit lehrt und euch lehrt, was ihr nicht wusstet.“ (Al-Baqara, 151)
Bemerkenswerterweise wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts in Indien die Reformbewegung der „Qur’aniten“ verstärkt durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Grundeinstellung dieser Gruppierung bestand unter anderem darin, beweisen zu wollen, dass die Sunna im Leben der Muslime nicht verbindlich sei und somit im Zeitalter der Moderne überholt sei. Deshalb sei für die muslimische Lebensweise nur der Qur’an als Bezugsquelle verbindlich, womit alles andere nachdrücklich zurückzuweisen wäre.
Derweil versuchen in der Gegenwart gewisse Buchtitel mit der Überschrift „Islam ist einzig der Qur’an“ die vermeintliche Unwichtigkeit der Sunna anklingen zu lassen. Der erste Schritt verläuft dabei so, die Überlieferungen des Propheten als nicht authentisch zu klassifizieren. Den wichtigsten Anstoß hierfür gewährten die beiden westlichen Orientalisten Ignaz Goldzieher (gest. 1921) und Joseph Schacht (gest. 1969).
Im Gegensatz dazu hält die übergroße Mehrheit der Muslime die tradierten Überlieferungen (Hadith-Sammlungen) für authentisch. Für Neugierige sind die wissenschaftlichen Arbeiten insbesondere von Prof. Harald Motzki, „Wie glaubwürdig sind die Hadithe?“, und die Dissertation von Prof. Fuat Sezgin, „Die Quellen von Al-Buchhari“, vorzugsweise zu empfehlen.
Wahrscheinlich brach keine Moderne politische Bewegung radikaler mit ihrer Tradition, als die Ideologie des Kemalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Anfang stand der Gründer der neuen Republik der Türkei, Mustafa Kemal (gest. 1938), der Religion neutral gegenüber. Vereinzelte Historiker wie der türkische Schriftsteller Sinan Meydan attestieren sogar, in Mustafa Kemal einen religiösen Führer zu sehen.
Der deutsche Historiker und Publizist Bernd Rill widerspricht Sinan Meydan, wonach Mustafa Kemal dem Islam nicht den geringsten Respekt gezollt haben soll. Der britische Religionsphilosoph Dr. Martin Lings zog einen vernichtenden Vergleich zum Thema: „Die schlechtesten Päpste im Mittelalter und die schlechtesten Kalifen des Islam haben weit weniger Schaden angerichtet als Männer wie Atatürk und andere, die die finstere Trostlosigkeit des Säkularismus verbreiteten.“