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Nicht nur Pressemitteilungen veröffentlichen

Ausgabe 260

Foto: Heinrich-Böll-Stiftung Lizenz: CC BY-SA 2.0

Volker Beck ist seit 1994 Kölner Bundestagsabgeordneter. Er ist migrations- und religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Gerade in den letzten Monaten ist er in der Öffentlichkeit mit Kritik an den muslimischen Verbänden aufgefallen, die in der muslimischen Community für Diskussionen gesorgt haben. Grund genug, um ihn zu treffen und zu aktuellen Debatten zu befragen.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Beck, es wurde in den letzten Wochen und Monaten sehr kontrovers über die muslimische Verbandslandschaft diskutiert. Sie haben sich sehr aktiv daran beteiligt. Gab es auch Nächte, an denen Sie nicht an die DITIB und Co dachten?
Volker Beck: In der Nacht denke ich nie an DITIB & Co.
Islamische Zeitung: Aber Sie haben sich sehr häufig sehr kritisch zu Wort gemeldet. Was sind Ihre konkreten Kritikpunkte? Könnten Sie das kurz zusammenfassen.
Volker Beck: Man muss zwei Diskussionen unterscheiden. Die eine betrifft die konkrete Arbeit der Verbände: Was sie tun und unterlassen. Die andere behandelt prinzipielle religionsverfassungsrechtliche Fragen. Darüber arbeite ich seit mehr als zehn Jahren. 2007 habe ich dazu das erste Mal dazu in der taz geschrieben. Ich habe auch bereits 2012 in der Fraktion eine „Roadmap zur Gleichstellung des Islam“ mit auf den Weg gebracht.
Religionsgemeinschaften müssen bei ihrer Identität und Abgrenzung grundsätzlich nach religiösen Kriterien organisiert und geprägt sein. Das sind die großen vier Verbände, die wir haben, alle nicht wirklich. Es dominieren in der Regel sprachliche, kulturelle und politische Richtungsentscheidungen. Diese erklären, warum man bei dem einen Verband ist und nicht bei dem anderen, nicht aber eine bestimmte religiöse Überzeugung. Diese Situation hat viel mit der Politik der Herkunftsländer sowie der Migrationsgeschichte zu tun. Wir können das aber im Rahmen des deutschen Religionsverfassungsrecht nicht akzeptieren. Solche politisch geprägten, religiösen Vereine können wir im Rahmen des deutschen Rechts nicht als Religionsgemeinschaften anerkennen.
Auch religiöse Vereine genießen bestimmte Rechte der kollektiven Religionsfreiheit. Sie können ihre Moscheen bauen, dürfen Sozialeinrichtungen gründen und gemeinschaftlich nach außen treten, aber können nicht als Religionsgemeinschaften im Sinne von Art. 7 Abs. 3 GG (bekenntnisorientierter Religionsunterricht) oder Art. 140 GG (Religionsgesellschaften, die die Körperschaftsrechte bekommen) agieren.
Wenn sie diese Rechte haben wollen – ich habe mich immer für die Existenz und Gleichberechtigung islamischer Religionsgemeinschaften eingesetzt –, müssen sie sich anders aufstellen. Das würde ich begrüßen, aber es ist die Entscheidung der Muslime in unserem Land und nicht der Politik. Mit islamischen Gemeinschaften, die keine nationale und politische Prägung mehr haben, würde der Islam in Deutschland wirklich ankommen.
Der andere Punkt ist eine konkrete Kritik an der Arbeit der Verbände. Gegenüber der Gesellschaft wird mit Überschriften wie „antimuslimischer Rassismus“ und – was es ja auch gibt – als teilweise ausgegrenzte und diskriminierte Minderheit agiert. Hier wird zurecht Solidarität eingefordert. Diese Solidarität wird aber nicht zurückgegeben, wenn es um die Ausgrenzung von Juden in Deutschland geht, gerade auch durch Muslime. Und gibt sie auch nicht, wenn es um die Verfolgung oder Diskriminierung von Christen in Herkunftsländern wie der Türkei geht. Dorthin unterhält die DITIB ja allein schon dem Namen nach ganz offiziell Beziehungen.
Was die DITIB hier an Freiheitsrechten genießt und genießen soll, davon können Christen in der Türkei nur träumen.
Und auch, dass man sich nach Vorfällen immer nur per Pressemitteilung distanziert:  wie bei Melsungen, wo es eine antisemitische Zusammenstellung von Qur’anzitaten auf der Homepage des Moscheevereins gab, oder neulich die Sharepics von Leuten der DITIB-Jugend Nord mit Gewaltdarstellungen garnierte Diffamierung von Weihnachten. Gleiches gilt für die Ausgrenzung von Aleviten oder Kurden, bei der man die AKP-Politik nach Deutschland verlängert.
Solche Sachen gehen nicht. Ich erwarte von Organisationen, die nicht nur ein paar Tausende Gläubige zählen, sondern den Anspruch haben, letztendlich die religiöse Versorgung von Millionen Leuten in Deutschland zu organisieren, dass sie ihre gesellschaftliche Verantwortung erkennen und auch wahrnehmen. Das erkenne ich gegenwärtig nicht. Aber zugegeben das ist eine Frage der Gesellschaftspolitik und nicht des Religionsverfassungsrechts.
Islamische Zeitung: In Sachen Religionsverfassungsrecht gibt es auch andere Positionen. Es gibt Verfassungsrechtler, die bei den potenziellen Religionsgemeinschaften zumindest die wichtigsten Punkte als erfüllt ansehen und anders argumentieren als Sie. Praktisch haben wir in NRW und anderswo Versuche, einen Islamischen Religionsunterricht zu organisieren. Dafür braucht es Partner, um das zu realiseren. Braucht es dafür nicht beiderseits einen differenzierteren Umgang?
Volker Beck: Die Stimmen, die meinen, man kann die Frage nicht an Hand von Satzungsgutachten und Umfragen in ein paar Gemeinden entscheiden, mehren sich.
Islamische Zeitung: Die aber von der eigenen Basis in letzter Zeit kritischer reflektiert wurde…
Volker Beck: Meine Vorschläge wurden am Ende beim Bundesparteitag fast einstimmig verabschiedet und haben Eingang in das NRW-Wahlprogramm gefunden.
Islamische Zeitung: Es gab aber aus den Länderstrukturen Kritik an der Art und Weise, wie man manche Themen anspricht…
Volker Beck: Es gab Kritik von einer Mitarbeiterin der NRW-Landtagsfraktion, die Sprecherin des AK Grüner MuslimInnen ist. Das wurde mit Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen.
Islamische Zeitung: Müsste nicht in einem wichtigen Wahljahr wie 2017, in dem die AfD durch Stimmungsmache immer mehr an Boden gewinnt, und die CDU sowie andere Parteien auf dieser Welle mitschwimmen wollen, der Ansatz der Grünen nicht ein anderer sein?
Volker Beck: Das ist eine peinliche Unterstellung: Wer die Verbände kritistiert ist AfD.
Wenn es um das Recht einer Muslimin, das Kopftuch zu tragen, geht, um Auseinandersetzungen bezüglich Moscheebauten oder um Anschläge auf Moscheen beziehungsweise Schmierereien, dann haben die Muslime die Grünen und mich immer an ihrer Seite – an ihrer Seite zu stehen, wenn es um die Verteidigung ihrer Freiheit geht, aber nicht Blindheit, wenn es sich um berechtigte Kritik handelt. Ich habe das Gefühl, manche Muslime, aber vor allem die Funktionäre der islamischen Verbände, versuchen jede Kritik mit dem Verweis wegzudrücken, dass es auch Hetze gegen Muslime gibt. Wenn wir das zulassen, lassen wir es kampflos zu, dass sich in einem Bereich unserer Gesellschaft undemokratische und nicht mit den Werten unserer Verfassung korrespondierende Verhältnisse etablieren. Diese Tabuisierung bestimmter Probleme mache ich nicht mit. Die Verbandsfunktionäre sind nicht die Muslime.
Für mich geht es da gar nicht um Wahlkampf. Ich vertrete das seit über einem Jahrzehnt, seitdem ich mich intensiv damit beschäftigt habe und mache auch keine Abstriche aus wahltaktischen Gründen. Dass jetzt auch einige andere Leute aufgewacht sind, ist ja schön. Zuvor waren Innenminister angefangen bei Otto Schily (SPD) und Beckstein (CSU) die besten Freunde der DITIB. Die anderen Verbände blieben hier ein bisschen unbeachtet, weil das so praktisch war mit Ankara. Jetzt merkt man, dass in Ankara ein anderer Wind weht. Nun gehen diese Parteien, insbesondere Teile der CDU, auf Distanz.
Für die Religionspolitik braucht man einen klaren Kompass: Dieser ist das Diskriminierungsverbot von Art. 3. GG, die Religionsfreiheit von Art. 4 GG und die zwei institutionellen religionsverfassungsrechtlichen Quellen von Art. 7 und 140 GG. Wenn jemand die Rechte, die Muslimen zustehen, streitig macht, dann werde ich das nicht zulassen. Ich werde aber auch nicht zulassen, dass sich eine politische Überwölbung von Religion die Privilegien für Glaubensgemeinschaften erbeutet, die unsere Verfassung nur für Religionsgemeinschaften vorsieht. Da müssen beide Seiten durch.
Wir kommen bei der Integration nicht weiter, wenn die einen sagen, alles sei wunderbar, und glauben, keine Anforderungen stellen zu müssen; oder andere Muslime verteufeln oder sagen ein Muslim könne kein Demokrat sein. Letzteres weht uns ja seit dem Sarrazin-Buch aus einem bestimmten Spektrum der Gesellschaft entgegen. Beides ist dumm und ist antiaufklärerisch.
Es gibt bei Verbandsfunktionären auch eine Weigerung, klar Position zu beziehen. Ich führe und verfolge diese Diskussion seit über zehn Jahren und werde auch schon ein bisschen ungeduldig. Denn ich nehme diese Leute erst einmal als Deutsche auf einer Augenhöhe wahr und ernst. Sie sind hier aufgewachsen und leben hier. Wenn man bestimmte Probleme anmerkt, müssen sich diese vier Großorganisationen – mit einer erheblichen Anzahl von Mitarbeitern, von der manche NGO nur träumen kann – auch mal dieser Probleme annehmen und nicht nur eine Pressemitteilung dazu machen, um alle zu beruhigen.
Islamische Zeitung: Derzeit ist eine Re-ethnisierung in der muslimischen Gemeinschaft zu beobachten. Und wir erleben derzeit eine gesteigerte Polarisierung zwischen einerseits den Erfolgen der AfD und ihrem Ausstrahlen auf andere Parteien, und andererseits auf der türkischen Seite ein Wiederaufblühen einer Mischung aus Nationalismus und Religion. Muss da nicht die Führung bestimmter Debatten hinterfragt werden? Oder anders gefragt, was meinen Sie, wie die muslimische Gemeinschaft Ihre Impulse wahrnimmt?
Volker Beck: Die Reaktionen sind ganz verschiedenen. Ich bekomme gerade von vielen türkischstämmigen Menschen über Facebook mitgeteilt, dass sie das nicht in ihrer Gemeinde sagen können und dankbar sind, das ich das ausspreche. Und ich kriege jede Menge Beschimpfungen. Dann aber von Accounts, die mich vermuten lassen, dass die AfD und die AKP mehr gemein haben, als ihnen bewusst ist. Lediglich beziehen sie sich auf eine andere Nation in ihrem Chauvinismus.
Ich habe es ja zehn Jahre versucht im Guten und im Stillen. Das leise Anmerken in persönlichen Gesprächen hat niemanden beeindruckt. Dann muss man es lauter artikulieren. Gerade bei der DITIB sehe ich keine echte Bereitschaft zum Dialog, wenn man mit ihr über Probleme sprechen will. Man führt einen die Gebäude vor und wird zum Iftar eingeladen, aber der offenen Aussprache zu Problemen wird ausgewichen.
Unbearbeitet bleiben Probleme bei Jugendlichen, die sich wieder eine türkisch-chauvinistische Identität aufbauen. Dieser Prozess hat zwei Seiten. Einerseits spielt dabei die mangelnde Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft zur Integration sowie die Erfahrung, dass man mit dem gleichen Schulabschluss viel mehr Bewerbungen schreiben muss, weniger Chancen hat, wenn man „Schwarzkopf“ ist, eine Rolle. Zum anderen liegt das auch an einer gezielten ideologischen, nationalistischen Einflussnahme durch die DITIB und die AKP-Tochter UETD als Organisationen aus der Türkei auf diese Türkischstämmigen sowie Organisationen wie die Milli Görüs-Leute der IGMG, die grauen Wölfe der ATIB und andere, die hier ohne direkte Verbindungen zum türkischen Staat nationalistisch unterwegs sind.
Islamische Zeitung: Andererseits fällt vielen, gerade jungen Leuten, auf, dass man hier bei anderen Gruppierungen, die in Deutschland aktiv und verboten sind wie die PKK, einen anderen Maßstab anlegt…
Volker Beck: Nein, das stimmt nicht: Die PKK ist verboten und das Verbot wird auch durchgesetzt. Würde die PKK 30.000 Leute auf die Straße stellen, gäbe es auch eine entsprechende Diskussion. Aber wenn irgendeine linke Kleinstgruppe mit 100 oder 200 Leuten und Free-Öcalan-Fahnen, die nicht generell verboten sind,  durch die Straßen zieht, was in Berlin dauernd geschieht, nimmt man das so ernst wie die Aluhüte-Fraktion und andere. Das heißt aber nicht, dass man es gutheißt.
Islamische Zeitung: Das ist nunmal die Wahrnehmung der Menschen. Wenn man sich die Teilnehmerzahl bei der letzten Demo in Köln betrachtet…
Volker Beck: Das war eine Demonstration der alevitischen Gemeinde. Und diese Diffamierung ist gefährlich angesichts des Angriffs auf die alevitische Gemeinde von Müllheim in Baden mit türkisch-nationalistischen Schmierereien.
Islamische Zeitung: Aber viele Fahnen von der PKK.
Volker Beck: Dass es auch PKK-Fahnen bei einer Erdogan-kritischen Demonstration gibt, heißt nicht, dass der Organisator etwas mit der PKK zu tun hat. Die Kölner Organisatoren haben sich davon distanziert und erst mit ihrer Kundgebung angefangen, nachdem die Öcalan-Fahnen vor dem Podium verschwunden waren.
Das ist alles nicht ganz einfach: Es gab Urteile, durch die sich die NPD bei Ostermärschen der linken Friedensbewegung einklagen konnte. Es gab kürzlich die Auseinandersetzung, dass ProKöln beim CSD mitlaufen wollte. Das kann man dem Veranstalter nicht zurechnen.
Wenn über solche Vorgänge gestritten wird, möchte ich auch die Ansicht über den Auftritt eines HAMAS-Führers auf dem AKP-Parteitag hören. Das ist eine Terrororganisation, die in Deutschland verboten ist. Hierzu war keine Kritik und keine Distanzierung von UETD oder DITIB zu hören. Um die Dimensionen klar zu machen:  Ich habe nicht gehört, dass Herr Öcalan auf dem Parteitag der CDU aufgetreten wäre. Das wäre nämlich das Äquivalent.
Dass wir Positionen, die wir ablehnen, im Rahmen unseres Versammlungsrechts ertragen müssen, ist eine andere Sache. Wir ertragen die NPD, die AfD, die UETD und wir ertragen bestimmte PKK-nahe Organisationen. Die PKK ist verboten, aber „Freiheit für Öcalan“ ist nicht verboten. Wenn Leute nicht verstehen, dass es in einer freiheitlichen Gesellschaft möglich sein kann, über das Verbot von verbotenen Organisationen zu streiten, dann haben sie die Prinzipien der Demokratie nicht verstanden.
Islamische Zeitung: Erlauben Sie uns die Rückkehr zur Islamdebatte. Bei aller berechtigten Kritik an dem Phänomen, dass sehr schwammig als „politischer Islam“ bezeichnet wird, gibt es Befürchtungen, wonach derzeit ein politisch korrekter „politischer Islam“ geschaffen werden soll. Ein Beispiel wäre die öffentliche Reaktion auf eine „Freiburger Erklärung“, die nur von einer Handvoll Leute stammte.
Volker Beck: Es gibt nicht „die“ Muslime. Was sie glauben wollen, müssen sie genauso wie die Christen, Juden usw. entscheiden. Da kann ich Ihnen auch nichts vorschreiben. Diskussionen wie die über den Reformationsbedarf des Islam finde ich als jemand, der Geschichte studiert hat, einfach albern. Geschichte wiederholt sich nicht, auch nicht Aufklärung oder Reformation. Aber: Der Islam muss, wenn er in demokratischen Gesellschaften als integraler Bestandteil verstanden werden will, über die historische Genese seiner Religion reflektieren. Er muss bei manchen Dingen, die im 7. Jahrhundert relevant oder zeittypisch waren, den Mut haben, zu ihnen einen anderen Zugang im 21. Jahrhundert zu finden. Ansonsten entwickelt er sich zum gesellschaftlichen Fremdkörper, der womöglich trotzdem im Rahmen der Religionsfreiheit grundrechtlich geschützt ist.
Als religiöser Mensch, der auch andere Religionsauffassungen respektiert, steckt für mich in Religionen so etwas wie Halt und tiefe Weisheit von Generationen, die in gemeinsamen Vorstellungen geronnen sind. Aber es ist eben nur weise, wenn man um das Geronnensein dieser Vorstellungen weiß, das Zeitbedingte in die Zeit zurückschickt, aus der es kommt und den geistigen Gehalt freilegt. Im Iran legt man beispielsweise Qur’anstellen aus, um die Steingröße bei Steinigungen festzulegen. Das ist nicht demokratiekompatibel. Das ist pervers. Da müssen islamische Organisationen, die positiv als Teil unserer Gesellschaft wahrgenommen werden wollen, sich theologisch klar positionieren: Nicht  per Pressemitteilung just for show, sondern theologisch und mit aktiver Vermittlung an ihre Gläubigen. Das ist eine viel tiefere Arbeit erforderlich. Das sehe ich aber leider überhaupt nicht. Ich sehe eher, dass Leute auf der akademischen Ebene, die das versuchen, angefeindet werden, weil sie exegetische Fragen an die Tradition stellen und diese nicht einfach abschreiben.
Islamische Zeitung: Dabei ist die Einbettung von Qur’anstellen in ihren historischen Kontext nichts Neues. Das findet seit Jahrhunderten statt. Manche mögen das als „revolutionär“ verkaufen. Inwiefern sind Politiker wie Sie in der Tiefe informiert und gibt es „Experten“ mit einem klaren ideologischen Bezug, die die Politik unterfüttern?
Volker Beck: Ich bin kein Religionswissenschaftler, kein Theologe und kein Muslim. Ich bin Religionspolitiker. Für mich ist die entscheidende Quelle hierzu unsere Verfassung und die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das ist meine Expertise. Die Fragen, die sich religionspolitisch stellen, muss ich beantworten, egal ob Muslime, Juden, orthodoxe Christen, Baha’i, Sikhs oder Atheisten und Agnostiker zu mir kommen. Im letzten Jahr war ich bei allen. Sie haben alle bestimmte politische Anfragen.
Ich muss mich nicht theologisch damit beschäftigen. Ich weigere mich auch, mich immer mit Leuten von Rechts auseinanderzusetzen, die einem bestimmte Qur’anverse an den Kopf werfen. Ich besitze zwar ein paar Koran-Ausgaben, maße mir da aber überhaupt keine Expertise an. Die brauche ich auch gar nicht. Relevant sind die gesellschaftspolitischen Anforderungen an eine Organisation sowie die religionsverfassungsrechtlichen Befunde. Das andere muss an Universitäten geklärt werden. Ich wünsche mir nur, dass bestimmte Fragezeichen im gesellschaftlichen Diskurs bei den Verantwortlichen ankommen.
Es kommt der Politik gar nicht zu, über die richtige oder falsche Auslegung einer Religion zu entscheiden. Darüber hat die Politik nicht zu entscheiden. Sie hat die verschiedenen, geglaubten Wahrheiten ernstzunehmen. Bei religiösen Fragen sich der Staat herauszuhalten, er darf keinen Wahrheitsanspruch. Es gibt kein Wahrheitsministerium und das soll auch so bleiben. Es gibt nur unsere Verfassung und die Grundrechte anderer, die der Religionsfreiheit auch Grenzen setzen.
Islamische Zeitung: 2017 wird ein sehr wichtiges Jahr wegen der Wahlen sowie der politischen Herausforderungen werden. Was können die Muslime, ihre Organisationen, Gesellschaft und Politik tun, um gemeinsam diese Herausforderungen anzunehmen?
Volker Beck: Die Politik muss wahrnehmen, dass es innerhalb des Islam und der Muslime in Deutschland ganz unterschiedliche Positionen gibt, zum Verhältnis zwischen Religion und Politik sowie zur Auslegung der eigenen Religion. Die Verbände müssen sich den Anfragen aus der Gesellschaft stellen und sie als ihre Aufgabe betrachten. Nicht nur, dass die Leute nicht „in den Dschihad“ ziehen. Das setze ich als selbstverständliches Anliegen aller voraus. Sondern auch, dass es in den Gemeinden keinen Antisemitismus, keine Homophobie und keine Frauenfeindlichkeit gibt. Letztlich müssen sie durcharbeiten, was Freiheit und Demokratie für ihre Religion in unserem Land bedeuten. Das sehe ich leider nicht.
Die Angriffe auf Weihnachten, der Märtyrercomic, das kann man nicht hinnehmen.  Oder wenn ich mir die Predigten anschaue – und hier muss ich die DITIB ein Stück weit loben, weil es immerhin eine gewisse Transparenz auf ihrer Homepage gibt – und an die Märtyrerpredigt von 2014 denke, dann mag das theologisch verstehbar sein, dass es ungefährlich gemeint war. Wenn ich das nicht verstehe, dann versteht es der Junge, der mit seinen Eltern nicht über seine Religion sprechen kann, womöglich auch falsch. Womöglich ist er dann genauso naiv wie ich und begreift es als Aufruf, als Märtyrer im „Dschihad“ zu sterben. So etwas nicht zu bedenken und solche Traktatliteratur einfach in die Welt hinauszuschicken, ist eine Katastrophe. Hier muss die Politik auch klar sagen: Das hat Auswirkungen auf die Zusammenarbeit. Die Anerkennung der DITIB als Religionsgemeinschaft in Hessen muss vor dem Hintergrund der eingestandenen Spitzelvorwürfen auf den Prüfstand!
Islamische Zeitung: Lieber Volker Beck, wir danken Ihnen für das ­Gespräch.