Nurulhuda Hajjir beschreibt ihre Sicht auf ein immer noch umstrittenes Thema

Ausgabe 213

(iz). Das Kopftuch, oder auch Hidschab, hat sich in den letzten Jahren zu einem der heißesten Themen des Islam in der so genannten „Mehrheitsgesellschaft“ entwi­ckelt. Vor allem durch die sich sträubenden Musliminnen, die am Arbeitsplatz diskriminiert oder denen ­Jobstellen gänzlich verweigert wurden und deshalb vor Gericht zogen, bekam das Tuch ­große politische Symbolkraft.

Es wurde zu einem Konfliktthema unserer Gesellschaft; wie war umzugehen mit dieser Erscheinung, die sich nicht mehr nur auf die Reinigungskräfte redu­zierte, sondern in höhere institutionelle Reihen ausbreitete? Unter dem Deckmantel des Neutralitäts­gebotes wurde das Problem „Kopftuch“ dann scheinbar beseitigt. Dass der Schein der Neutralität im Grunde genommen eine Verleugnung unserer gesellschaftlichen Zusammensetzung darstellt, birgt weitaus größere Schwierigkeiten in sich als angenommen. Denn wenn gewisse soziale Stellungen oder Arbeitsplätze nur selektierten Personen zugestanden werden, und zwar nicht nur unter Ausschluss von kopftuchtragenden Frauen (schon ein exotisch klingender Nachname bewirkt diese Auslese etwa bei Bewerbungen), dann greift diese Ausgrenzung auf weite Teile unseres Wahrnehmungsspek­trums über.

So erklärt sich der Überraschungseffekt, den wir erleben, wenn wir einer kopftuchtragenden Kassiererin, geschweige denn einer Flughafenangestellten oder Anwältin begegnen. Und so erklären sich auch die schweren Identitätskrisen von Jugendlichen, denen jegliche ­erfolgreiche Vorbilder fehlen und die sich nur schwer mit den gegebenen Autoritätspersonen identifizieren können.

Für viele junge Frauen entwickelt sich das Kopftuch zu einer nicht tragbaren emotionalen Belastung – leider. Nicht zuletzt wegen Ablehnung im Arbeitsleben entscheiden sich viele Musliminnen später dagegen oder erst gar nicht ­dafür. Aber auch das Unbehagen darüber, „in eine Schublade gesteckt zu werden“, ist nicht unerheblich. Zwar ist Individualis­mus im modernen Zeitalter eines der scheinbar größten Bestrebungen der Menschen; doch auch einmal in der großen Masse unerkannt schwinden zu können, ist das Bedürfnis eines jeden.

Mit dem Kopftuch ist das – aufgrund des ihm zugeschriebenen politischen Signums – nicht immer möglich; zu viele negative Assoziationen und Zuschreibun­gen des Gegenübers liegen in der Luft. Auch wenn diese nicht immer ausgespro­chen werden, sind sie für viele Muslimin­nen regelrecht greifbar. Deshalb fordert das Kopftuch seiner Trägerin Stärke und Selbstbewusstsein ein, aber auch Positivität, denn nicht zwischen jedem starren­den Blick oder jeder unfreundlichen ­Begegnung und dem Kopftuch besteht ein Zusammenhang. Manchmal liegt dem lediglich die Berliner Mentalität ­zugrunde.

Unglücklicherweise bringen viele musli­mische Mitmenschen sehr wenig Verständnis für das Ausmaß dieses gesellschaftlichen Drucks auf. So werden viele Frauen, die das Kopftuch ablegen oder gar nicht tragen, rasch beurteilt. Wo ­Allah der Erhabene doch der einzige Rich­ter ist. Zu schnell wird vergessen, dass ein Muslim, der sich die Richterrolle anmaßt, bei Allah auf höchste Ablehnung stößt.

Die unterdrückte Frau vom aufgezwungenen Kopftuch befreien zu wollen, ist eine arrogante Anmaßung mancher Beobachter, die für Rückständigkeit klare Symbole gefunden haben (und das Image der Weltretter für ihr Überleben als überlegen brauchen).

Dass es Mädchen gibt, die tatsächlich unfreiwillig das Kopftuch tragen, stimmt. Es ist nur eine Minderheit, aber diese Zahl existiert und wir Muslime müssen uns als erste damit auseinandersetzen. Es gibt im Islam keinen Zwang im ­Glauben. Alle Gottesdienste, und das Kopftuch-Tragen ist einer, haben eine fundamentale emotionale Komponente. So ­könnte das Gebet einerseits als Durchführung einer Folge von motorischen Bewegungen gesehen werden, die es fünf Mal am Tag routinemäßig zu wiederholen gilt.

Andererseits kann es als fünfmalige Begegnung mit Allah verstanden werden, durch die ein Muslim im Gerümpel des Alltags kontinuierlich den Bund zu ­Allah sucht. Herzenssache ist auch das Kopftuch. Fehlt diese emotionale Komponente allerdings, wird den betroffenen Mädchen vielleicht die Chance genommen, ein gesundes positives Verhältnis dazu, im Extremfall zur Religion aufzubauen. Dabei ist das Kopftuch eine Empfehlung und zur religiösen Pflicht erklär­ten Schutzmaßnahme, die in erster ­Linie ein Ausdruck von höchster Würdigung der Frau ist – das Kopftuch ist nicht für den Mann, sondern für die Frau.

Hat man den echten Sinn dieser Äußerlichkeiten verinnerlicht, so verstünde man gleich viel besser, dass dies einzig und allein eines respektvollen Umgangs zwischen Mann und Frau dienlich sein soll. Ganz klar gehört dazu nicht nur die Bedeckung; es ist vielmehr eine ganze Reihe von Geboten, die insgesamt die Vervollkommnung des Charakters zum Ziel haben, genannt seien hier das Senken des lüsternen Blickes oder die klar umrissene, von Gleichberechtigung gezeichnete Ehevorstellung im Islam, die sowohl an den Muslim als auch an die Muslimin appellieren. Das muslimische Ideal der inneren und äußeren Bescheidenheit manifestiert sich eben auf sehr vielen Ebenen. Das Kopftuch oder der Bart allein lässt daher keinen Rückschluss auf den Glauben zu, daher ist jede auf Äußerlichkeiten basierende Beurteilung unhaltbar.

Die Bedeckung des Körpers, egal in welchem Grade, stellt dabei eine Art Professionalisierung des gesellschaftlichen Rahmens dar und wird auch heute noch durch ungeschriebene Kleidervorschriften in nichtmuslimischen Kontexten bekräftigt: In einem europäischen Gerichts­saal oder Parlament etwa würde einem freizügigen Dekolleté oder zu kurzen Shorts bestenfalls mit Stutzen begegnet werden. Das möchte rückschließend nichts bedeuten, hat aber dennoch große Aussagekraft. Wenn man so will, betrachtet der Islam in Bezug auf die Kleidervorschrift den gesamten öffentlichen Raum als Gerichtssaal oder Parlament, mit dem minimalen Unterschied, dass die Regeln geschrieben und etwas umfas­sender sind.

Das muslimische Kopftuch ist sowohl Teil einer Idealvorstellung von zwischen­menschlichem, auf inneren Werten fundiertem Miteinander und Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem, als auch Ausdruck eines individuellen Verzichts aus Liebe und Hingabe zu Allah und Seiner Gebote. Dieses Antlitz zeichnet sich auch in anderen Elementen ab: Die Moschee etwa als Gotteshaus im übertragenen Sinne ist von einer Aura umgeben, die dem muslimischen Besucher bestimmte Verhaltensweisen abverlangt. So werden etwa bei Eintreffen in der Moschee zwei Rak’at verrichtet; eine Reihe von speziell in einer Moschee gültigen Verhaltensnormen gelten als Adab-ul-Masdschid. Richtlinien gibt es auch im Umgang mit dem Qur’an.

Diese Ehrerbietung sind wir also auch dem Gebot der Bedeckung schuldig und dementsprechend groß ist unsere Verant­wortung, es vor einer instrumentalisierten Wahrnehmung zu schützen, die sich davon nährt, dass das Kopftuch durch marginale Randgruppen mehr als eine Fassade und weniger als ein hingebungs­voller Gottesdienst gelebt wird.