Pariser Projekt in der Levante

Vor 100 Jahren wurde der Großlibanon ausgerufen. Die von westlichen Mächten ausgedachte Neuordnung brachte einen Konfessionalismus mit sich, der das Land der Zedern heute zunehmend lähmt – bis an den Rand des Kollaps.

Beirut (KNA). Auf den Stufen der französischen „Residence des Pins“, am Rande des Hippodroms im Herzen Beiruts, verkündete ein französischer Militär am 1. September 1920 eine folgenschwere Erklärung. Nach dem Sieg gegen syrische Truppen in Maysalun bei Damaskus proklamierte General Henri Joseph Eugne Gouraud den Staat Großlibanon unter französischer Ägide. Die ehemals osmanischen Distrikte von Tripoli, Sidon und der Bekaa-Ebene wurden in das seit 1861 existierende Autonomiegebiet des Libanonberg eingegliedert. Aus einem christlich dominierten Vorposten des Westens im Orient wurde ein Religions- und Konfessionsgemenge, an dem sich das Land bis heute aufreibt.

Seit den Kreuzzügen verstand sich Frankreich als Schutzmacht der Orientchristen. Als solches pflegte es Beziehungen zu den Maroniten, die vor allem im schwer kontrollierbaren Libanongebirge lebten. Als im Frühjahr 1860 bewaffnete Drusen christliche Orte überfielen und deren Bewohner grausam ermordeten, setzte Frankreich durch, dass das historische Siedlungsgebiet der Maroniten zur autonomen osmanischen Provinz unter einem christlichen Gouverneur wurde. Das kurz darauf eingeführte konfessionelle Proporzsystem wurde zur wegweisenden Keimzelle libanesischer Politik – auch wenn die Demografie heute längst nicht mehr mit dem Verteilungsschlüssel übereinstimmt.

Weichen für die Neuordnung wurden viele gestellt in einer Zeit, in der sich westliche Großmächte den Nahen Osten aufteilten. Am 16. Mai 1916 unterzeichneten Frankreich und Großbritannien ein durch Mark Sykes und Francois Georges-Picot verhandeltes geheimes Abkommen, wie die Region nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches unter den beiden Ländern aufzuteilen sei – eine Teilung, die in der Konferenz von San Remo im April 1920 durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs umgesetzt werden sollte.

Großbritannien erhielt die Völkerbundmandate für den heutigen Irak sowie für Palästina einschließlich der Gebiete östlich des Jordanflusses. Auf Frankreich entfiel das Gebiet Syrien, zu dem der heutige Libanon zählte. Übergangen wurden dabei andere Zusagen, etwa gegenüber dem Scherifen von Mekka, Hussein Ben Ali und seinem Sohn Faisal I., denen die Briten im Gegenzug für die militärische Unterstützung im Krieg gegen die Türken einen unabhängigen arabischen Staat versprachen.

Im neuen Staat Großlibanon, der 1943 als Republik Libanon seine Unabhängigkeit erlangte, behielten Christen eine knappe Bevölkerungsmehrheit von 52 Prozent, die zum maßgeblichen Verteilungsschlüssel für die Ämtervergabe wurden. Einige sicherheitsrelevante Posten wie das Oberkommando des Geheimdienstes oder der Armee kamen dank französischer Protektion hinzu.

Großlibanon erhielt ein Parlament, eine Regierung aus Präsident und Ministerpräsident und eine Verfassung (1926), die bis heute gilt. Er wurde aber auch zu einem religiösen Gemisch – Drusen und Christen im Libanongebirge, Sunniten entlang der Küste, Schiiten in der Bekaa-Ebene -, das zu zahlreichen Konflikten, einem 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg (1975-1990) und schließlich zur Reformunfähigkeit führte, die das Land der Zedern heute an den Rand eines vollständigen Zusammenbruchs gebracht hat. Fast die Hälfte der Bewohner des neuen Staates waren Muslime. Und die Idee, Teil einer nationalen Heimat für Maroniten zu werden, stieß vor allem bei der zweitstärksten Konfession des Gebildes, den Sunniten, auf harsche Ablehnung.

Die 18 anerkannten Konfessionen spielten in der Geschichte des Libanon zunehmend eine eskalierende Rolle. Klientelismus, Verteilungsungerechtigkeit und die Anfälligkeit für externe Einflüsse etwa aus Syrien und Iran, der Schutzmacht der schiitischen Hisbollah-Miliz, sind das Resultat. Bis heute ist die im Taif-Abkommen (1989) zum Ende des Bürgerkriegs beschlossene Abschaffung des Konfessionalismus nicht gelungen.

Einer, der die Gefahren früh erkannte, war der maronitische Patriarch Elias Hoyek. Hatte er 1919 als einer der Gründerväter des modernen Libanon an der Pariser Friedenskonferenz in Versailles für eine libanesische Unabhängigkeit gekämpft, warnte er die Führer des Landes 1931: „Sie sind in Ihrer offiziellen Eigenschaft und gemäß Ihrer Verantwortung verpflichtet, das beste Interesse der Öffentlichkeit zu suchen. Ihre Zeit sollte nicht darauf verwendet werden, Ihren eigenen Gewinn zu erzielen. Ihr Handeln ist nicht für Sie, sondern für den Staat und das Heimatland, das Sie vertreten.“ Es sind Warnungen, die Hoyeks fünfter Nachfolger im Patriarchenamt, Kardinal Bechara Rai, bis heute nicht müde wird zu wiederholen.