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„Philosophie lehrt in ihrer besten Form, wie man lernt“

Ausgabe 269

Foto: Ed Mengendes, flickr | Lizenz: CC BY-SA 2.0

(iz). Islamische Zeitung: Lieber Kamran Ahmed, Sie lehren Philosophie an einer kanadischen Universität. Wie kann sie heute wichtig sein?
Kamran Ahmed: Im heutigen „digitalen Zeitalter“ drängt das Globale in zunehmendem Maße in das Lokale ein. Wir diskutieren das Weltgeschehen mit unseren Kollegen und Freunden. „Weltkultur“ formt unsere Interessen und weltweite Nachrichten sind Teil unseres Alltags.
Und doch: Das Globale ist NICHT das Lokale. Trotz der Sprache von Kontakt, Verflechtung und Verbundenheit, die zur Beschreibung des „globalen Dorfes“ benutzt wird, bleiben diese Vernetzungen kategorisch und nachdrücklich unpersönlich.
Was sollen wir aus diesem Trend der Flucht in das Globale ableiten? Und was sind die Konsequenzen der Auslagerung unserer heimisch-lokalen Wissensstrukturen in diese digitale Erkenntnistheorie?
Die Herausforderung der Philosophie heute ist es, nicht-idealistisch und nicht-ideologisch zu denken. Das heißt, in all ihren Komplexitäten und Eventualitäten auf das Lokale und das Besondere zu bestehen. Wir müssen dem Drang widerstehen, in absoluten oder universalistischen Begriffen zu denken. Mit anderen Worten, es geht hier um die Annullierung vom Spektakel des „globalen Denkens“.
Islamische Zeitung: Gibt es eine Leseliste für Leute, die sich mehr mit Philosophie beschäftigen möchten?
Kamran Ahmed: Man muss einfach lesen – umfangreich, kritisch und ausgreifend. Und vor allem Bücher, deren Inhalte man ablehnt.
Islamische Zeitung: Oft wird von einem Gegensatz zwischen „Handeln“ und „Denken“ ausgegangen. Manche weisen Philosophie daher zurück. Was können die Philosophen Ihrer Meinung nach zur gegenwärtigen Lage des Menschen beitragen?
Kamran Ahmed: Philosophie ist ein Durst nach dem Lernen. Und das Lernen ist etwas, was die Menschen für sich tun – nicht, was an ihnen getan wird.
Die Trennung zwischen Handeln und Denken ist eine falsche. Bekräftigt wird sie a) durch eine Theorie des Lernens als eine (ausschließlich) „akademische Übung“ und b) durch eine verengte Sicht, wonach Wissen etwas sei, das von einer Person, die Autorität hat (dem Wissenden), auf den übertragen wird, der sie nicht hat (den Lernenden).
Lernen ist zu etwas geworden, das auf Schulen beschränkt wird. Als etwas, das sich zwischen den Wänden eines Klassenzimmers ereignet, wo Raum und Zeit von der Welt entzogen sind. Das ist kategorisch falsch.
Islamische Zeitung: Lässt sich Philosophie ins Leben übertragen und gibt es ein philosophisches Leben?
Kamran Ahmed: Nur, weil etwas möglich ist, bedeutet das nicht, dass es wünschenswert ist. Philosophisch zu denken heißt, in dieser Spannung zwischen dem Möglichen und dem Wünschenswerten zu wohnen. Philosophisch zu leben heißt, dies kreativ zu tun.
Islamische Zeitung: Auf globaler Ebene ist eine der Fragen, die unter Muslimen am häufigsten diskutiert wird, die nach der Identität – insbesondere unter Muslimen, die im Westen leben. Wie sehen Sie diesen Diskurs, der natürlich eine der Kernfragen in der Moderne darstellt?
Kamran Ahmed: In Nordamerika ist der Diskurs über „Identität“ Teil eines kritischen Gesprächs, das im Zusammenhang mit Fragen nach systematischer Ungleichheit und Aspekten von Ungleichheit steht. Für Muslime und Nichtmuslime gilt: Der Ruf nach Gleichheit ist die Aufforderung, über das Eigeninteresse hinaus zu denken. Täuschen wir uns nicht: Was als „Identitätspolitik“ abgetan wird, ist (in den USA) nichts weniger als der Kampf um Bürgerrechte.
Islamische Zeitung: Manch einflussreiche muslimische Stimme in der akademischen Welt tritt derzeit für eine „Ent-Kolonisierung“ des muslimischen Denkens ein. Ist das ohne einen unabhängigen Bezugsrahmen, eine eigene Terminologie und neue Denkweisen überhaupt möglich? Oder, um es krasser zu formulieren, kann man „entkolonisierter“ Denker sein und gleichzeitig die Machtmittel des mutmaßlichen Kolonialherren benutzen, wie beispielsweise sein monetäres System?
Kamran Ahmed: Das de-koloniale Denken ist dann wertvoll, wenn es anti-imperial ist. Das heißt, indem es ein Denken ist, das nicht auf seinen eigenen Vorrang beziehungsweise Überlegenheit über den Rest besteht. Ist der Endzweck dieses „de-kolonialen Denkens“ einfach der Ersatz von einem Herren-Narrativ durch ein anderes, dann fürchte ich, dass es weder de-kolonial, noch Denken ist.
Islamische Zeitung: Lieber Kamran Ahmed, haben Sie einen Ratschlag für jene, die Philosophie studieren oder sich ernsthaft mit ihr beschäftigen wollen?
Kamran Ahmed: Nichts vortäuschen, was man nicht weiß. Philosophie lehrt in ihrer besten Form, wie man lernt. Sie ist die Kunst der nicht-urteilenden Neugierigkeit. Wesentlich für diese Disziplin sind Demut, Großzügigkeit und (vielleicht am wichtigsten) Falsifizierbarkeit. Die Fähigkeit zur Veränderung der eigenen Position, das Einräumen der eigenen Unwissenheit und der Wandel des eigenen Verstandes sind wesentliche Eigenschaften im Geist des Anfängers.
Islamische Zeitung: Lieber Kamran Ahmed, wir bedanken uns für das Gespräch.