Putsch der Fehlinformationen

Ausgabe 254

Screenshot: Son Dakika | Youtuba

(iz). An dieser Stelle würde ich wie öfters Malcolm X zitieren, lasse es aber diesmal sein. An solchen Tagen wird mir immer deutlich, wie wahr seine Worte waren. Im Zeitalter der sozialen Medien wird es sogar noch deutlicher. Was ist passiert?
Es waren nicht einmal 48 Stunden nach dem missglückten Putschversuch in der Türkei vergangen, da hieß es in einigen sozialen Medien und Schlagzeilen „Was macht Erdogan jetzt? Wie wird er seine Macht ausnutzen? Alles eine Inszenierung Erdogans.“
Dabei hatte sich das türkische Volk erst einmal Solidarität und eine Verurteilung des Putsches erhofft. Denn in der Putschnacht gingen Millionen von Menschen in der Türkei auf die Straßen. Menschen aus allen Kulturen, Religionen, Ethnien und Anhänger aller Parteien verhinderten einen Putsch, der von einer Untergruppe innerhalb des Militärs ausging. Ich weiß nicht, ob es so etwas jemals in der Geschichte gegeben hat.
Viele können dies nicht nachvollziehen. Das türkische Volk hatte Jahrzehnte an den Folgen von Militärputschen gelitten. 27.05.1960, 12.03.1971, 12.09.1980 und am 28.02.1997 wurde hier geputscht. Für viele kaum vorstellbar oder bekannt. Am 27.04.2007 ging es ebenfalls in Richtung Putsch. Nun war aber Schluss. Niemand, aber auch wirklich niemand, wollte einen Coup. Bei dem Putsch 1980 wurden 650.000 Menschen verhaftet und Tausende hingerichtet. Das durfte nicht noch einmal geschehen. So gingen Millionen Menschen auf die Straße und riskierten dabei Leib und Leben für Demokratie und Freiheit. Einige starben dabei.
Leider wurde nicht ausführlich genug darüber berichtet, wie die Putschisten vorgingen. Nur, um einiges zu nennen: Eine der Istanbuler Brücken wurde gesperrt und die Putschisten feuerten auf Zivilisten. Diese Zivilisten hatten keine Waffen, nichts, womit sie sich schützen konnten. Sie gingen aber auf die Panzer los. Einige starben dabei. In Ankara gab es eine regelrechte Schlacht. Einige Kampfjets feuerten auf Zivilisten und schließlich auf das türkische Parlament. Unfassbare Bilder. Kaum auszuhalten. Dutzende Menschen starben. Der staatliche Fernsehsender TRT wurde live gestürmt, die Moderatorin musste zitternd, mit kreidebleichem Gesicht die Putschmeldung verlesen. Die TV-Sender Kanal D und CNN Türk wurden später ebenfalls von Soldaten mit Waffen gestürmt und es gab große Panik. Zivilisten stürmten die Gebäude der besagten drei Sender und retteten die Geiseln. Das Hotel, in dem sich der türkische Staatspräsident Erdogan befand, wurde bombardiert. All dies konnte man live im Fernsehen beobachten. Es war kein Hollywood-Film. Verwandte und Freunde berichteten ebenfalls aus der Türkei. Man machte sich ernsthafte Sorgen. Die Türkei sollte wie Ägypten geputscht werden oder wenigstens wie Syrien im Chaos versinken.
Noch zur gleichen Zeit, nur wenige Stunden, nachdem der Putsch begann, berichtete eine hiesige Zeitung, Erdogan würde nach Deutschland fliehen und Asyl beantragen. Nein, das war keine Satire. Es war eine der seriösesten und bekanntesten Zeitungen Deutschlands. Obwohl kurz zuvor Erdogan live im TV sagte, dass er sofort nach Istanbul fliegen und vor das Volk treten würde, was er auch tat.
Das Erdogan-Bashing hatte also sehr früh begonnen. Unverständlich. Man kann ja für oder gegen Erdogan sein, das spielte für die Millionen Menschen in der Türkei aber keine Rolle. Es ging um eine terroristische Gruppe innerhalb des Militärs, die versuchte, die Kontrolle über das Land zu übernehmen. Ja, diese Anschläge sind nichts anderes als Terror. So galten diese feigen und unmenschlichen Anschläge der Freiheit und Demokratie des Volkes der Türkei. Das Volk, egal ob für oder gegen Erdogan, verteidigte sein Land und ja, es verteidigte damit auch den gewählten Staatspräsidenten. Es verurteilte den Putsch.
Doch darum ging es plötzlich nicht mehr. Zum Beispiel schrieb der Fox News-Politikanalyst und ehemaliger Oberstleutnant Ralph Peters, dass der Putsch die einzige Chance gewesen sei, den Islam (!) zu stoppen. Die Putschisten hätten in Wirklichkeit das Land retten (!) wollen, kommentierte er die Geschehnisse. Er erinnerte dabei auch an den Putsch von 1980. Zur Erinnerung: Noch in der Nacht des Militärputsches von 1980 sagte der damalige US-Präsident Jimmy Carter: „Unsere Jungs haben es geschafft.“
Auch Tage später ging es mit Falschinformationen weiter. In den sozialen Medien tauchten Bilder von angeblich geköpften Soldaten auf. Ein angeblich Geköpfter gab später ein Interview im Fernsehen. Er lebte noch. Nichts war passiert. David Copperfield war hier nicht im Einsatz. Ein anderer, angeblich gelynchter Soldat sprach in der türkischen Presse davon, dass ein Bild von ihm von vor Jahren aus dem Internet gezogen und bearbeitet wurde. Er war an dem Tag nicht einmal unter den Putschisten, ja war nicht einmal ein Soldat, hatte seine Wehrdienstzeit schon längst beendet. Auf einem anderen Bild hieß es, eine Menschenmasse würde Soldaten foltern. Es stellte sich heraus – auch diese Soldaten wurden interviewt –, dass die Menschenmasse die Soldaten in den Krankenwagen trug. Auch viele Bilder aus Syrien und von Terroranschlägen auf türkische Soldaten in den Jahren 2006 und 2007 kursieren noch in den sozialen Netzwerken und werden als Türkei-Putsch-Bilder verkauft.
Die angeblichen enthüllenden WikiLeaks sind ebenfalls ein totaler Reinfall. Die veröffentlichten Emails sind fast ausschließlich Mails, die an die Info-Adresse der AKP geschickt wurden. Das heißt, es sind lauter Gruppenmails, Spam, Werbung und Anfragen von Bürgern. Unter anderem auch eine Mailgruppe, die einen Aufsatz von mir an die Info-Adresse geschickt hat. Stellen Sie sich einmal vor, ihr Spamordner würde als „Enthüllung“ im Internet veröffentlicht. Was sagt das über Sie aus? Richtig: Nichts!
Die Verbreitung von Falschinformationen darf aber nicht verallgemeinernd auf die Presse zurückgeführt werden. Auch das ist fatal. Es sind nicht DIE deutschen Medien, DIE deutschen Journalisten, DIE amerikanischen Medien, DIE türkischen Medien, DIE „Lügenpresse“, die angeprangert werden können oder sollten. Es geht hierbei vielmehr um unseriöse und schlampige Arbeitsweise von bestimmten Personen – Journalisten sowie Nichtjournalisten, allen voran „Facebook-Junkies“. Meist sind es Personen, die sowieso einen Kampf der Kulturen herbei beschwören, und bewusst Falschmeldungen produzieren und verbreiten. Diese vermeintlichen Islamexperten wurden in einer Nacht zu Türkeiexperten.
Auch auf Seiten der Putschgegner nahmen Falschinformationen danach wie ein Lauffeuer zu. Da werden zum Beispiel in Deutschland Listen mit angeblichen Anhängern der Gülen Bewegung, der vorgeworfen wird, den Putschversuch unternommen zu haben, versendet. Diese soll man vermeiden, ja sogar boykottieren und anzeigen. In vielen dieser Listen befinden sich Unternehmen, Einzelhändler, Menschen, die nichts mit dieser Bewegung zu tun haben. Sie werden völlig zu Unrecht verurteilt und bloßgestellt.
Es kann nicht sein, dass aus Wut eine Legitimation für Bespitzelung, Gesinnungsschnüffelei oder sogar Gewalt entsteht. Wenn in einigen Moscheegemeinden steht „Hier dürfen die Personen XY nicht reinkommen“, dann ist diese Gemeinde alles andere als eine Moschee. Kollektive Stigmatisierungen sind ein Gift für das gesellschaftliche Zusammenleben.
Auf genau die gleiche Art und Weise werden im Moment Tausende von Menschen aus den verschiedensten Ministerien der Türkei entlassen, weil ihnen vorgeworfen wird, Gülen-Anhänger zu sein. Es gibt jedoch hierzu keine Transparenz, keine bekannten Kriterien. Wer sagt, dass diese Menschen der Bewegung angehören und/oder den Putsch mit verursacht haben? Hier bewegt man sich auf sehr dünnem Eis. Die Verurteilung von Putschisten muss auf dem Grundgesetz des Rechtsstaates erfolgen und nicht auf der Grundlage von Bespitzelung. Ja, Putschisten müssen verurteilt werden – auf die härteste Art und Weise; aber nein, Menschen können nicht nur aufgrund von Verdacht vom Dienst genommen oder bestraft werden. Dies kann fatale Folgen haben, wenn beispielsweise jeder jeden bespitzelt. Bei den oben genannten Listen ist das schon der Fall.
Auch die Forderung nach der Todesstrafe ist nicht realitätsbezogen. In der Türkei wurde diese 2001 abgeschafft und ist zudem rückwirkend überhaupt nicht möglich. Selbstverständlich sind die Menschen emotional geladen, wenn Teile des eigenen Militärs auf die Bevölkerung schießen, das heißt aber auch in diesem Fall nicht, dass man den Boden des Rechtsstaates verlassen darf.
Noch einige abschließende, kurze Worte zur Gülen Bewegung. Ausführliches hierzu findet sich in meinem Buch „Die Nurculuk Bewegung.“ Fethullah Gülen war in den 1970ern Teil der Nurculuk Bewegung, trennte sich aber schnell von ihr und gründete seine eigene. Weder Fethullah Gülen noch die Gülen Bewegung haben einen Bezug zur Nurculuk Bewegung oder sind Teil dieser. Fethullah Gülen hatte von Anfang an das Ziel, den Staat zu unterwandern, um ihn besser kontrollieren zu können. Dies führte dazu, dass in der Türkei ein Staat im Staat aufgebaut wurde, was konsequenterweise zu einem großen Konflikt führte. Daher ist die Gülen-Bewegung nicht zu verharmlosen. Seine Anhänger gehen davon aus, dass Gülen der erwartete Mahdi ist, und zeigen ihm daher kritiklos Gehorsam. Sie sind bereit, alles für ihn zu tun. Die Aussagen der Putschisten belegen, dass es legitim ist, diese Bewegung zu verbieten. Auch in Deutschland stand die Bewegung vor einigen Jahren unter großer Kritik. Diese ist jedoch vorerst auf Eis gelegt, wird aber mit Sicherheit in einigen Jahren wieder aufleben.
Angesichts dieser vielen Falschinformationen ist es umso wichtiger, dass zu Einigkeit und Besonnenheit aufgerufen wird. Menschen mit Gewissen müssen dazu beitragen, dass in der Türkei nun die Menschen zusammenhalten und das Land in Einigkeit aufgebaut wird. Das Volk, das einen Putsch verhindert hat, darf sich nun nicht gegenseitig bekämpfen.
In Deutschland müssen Brücken zwischen den Menschen wieder aufgebaut werden. Die sowieso politisch angespannten türkisch-deutschen Beziehungen dürfen sich nicht auf den Alltag der hier lebenden Menschen übertragen. Türken und Deutsche verbindet eine lange Tradition und Geschichte. Man kann immer verschiedener Meinungen sein, doch gegenseitige Beschuldigungen und Generalisierungen sind das Letzte, was unsere Gesellschaft gebraucht.
Kriege und Gewalt in vielen Ländern der Welt machen mehr als deutlich, dass nur eine Politik der Herzen und der Liebe erfolgreich sein kann. Je mehr sich bestimmte Volksgruppen gegenseitig denunzieren, desto mehr vertieft man sich im Schlamm. Polarisierungen spalten. Rassismus und Hetze führen zu Elend. Gegenseitiges Verstehen und emotionale Verbundenheit sind wichtiger als je zuvor. Kein Kampf der Kulturen, sondern eine Freundschaft der Kulturen muss wieder verstärkt ins Blickfeld rücken.