Radikalisierung: „Religion“ spielt nicht die Hauptrolle

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Berlin (dpa). Wenn sich ein junger Muslim plötzlich für radikale Ideen begeistert, gibt es für die betroffene Familie nicht immer genügend Hilfe aus der eigenen Religionsgemeinschaft. „Wir erleben leider oft, dass sich Imame und muslimische Sozialarbeiter abwenden, wenn sich andeutet, dass sich in einer Familie in ihrem weiteren Umfeld ein junger Mensch radikalisiert“, sagte die Extremismusforscherin Michaela Köttig der Deutschen Presse-Agentur. Grund sei meist die Angst, ebenfalls unter Extremismusverdacht zu geraten. Auf Distanz zu gehen, sei aber eine fatale Fehlentscheidung, denn dadurch werde es für radikale Gruppen dann noch leichter, „diese Menschen einzufangen“.
Köttig ist Professorin für Grundlagen der Gesprächsführung, Kommunikation und Konfliktbewältigung an der Frankfurter Fachhochschule (UAS). Die Soziologin und Politikwissenschaftlerin hat sich in den vergangenen Jahren viel mit Rechtsextremismus beschäftigt.
Ihrer Ansicht nach müsste bei den laufenden Programmen zur Prävention von Radikalisierung im islamischen Kontext viel genauer hingeschaut werden, welche Ansätze „uns weiterbringen und welche nicht“. Die vom Bund für das kommende Jahr veranschlagten 100 Millionen Euro für die Prävention islamistischer Radikalisierung seien zwar eine große Summe, die Förderung von Projekten in diesem Bereich sei aber zu kurzfristig angelegt.
„Immerhin gibt es jetzt eine bundesweite Strategie“, sagte der Terrorismus-Experte Peter Neumann am Rande einer Fachtagung zur „Radikalisierungsprävention“ in Berlin. Auch einige Bundesländer seien inzwischen viel aktiver als noch vor Jahren. Auf die Frage, welche Rolle die muslimischen Verbände spielen könnten, antwortete er: „Das Problem mit den Islam-Verbänden ist, dass sie oft wenig Zugang zu Jugendlichen haben“, auch weil in der Verbandsarbeit meist ältere Männer den Ton angäben.
Religiöse Inhalte spielen seiner Ansicht nach als Auslöser von islamistischer Radikalisierung ohnehin nicht die Hauptrolle. Ähnlich wie bei Rechtsextremisten seien auch hier die „emotionalen Bedürfnisse“ des Betroffenen wichtig, sagte Neumann, etwa die Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Nicht selten handele es sich um Menschen, die sich selbst als „Verlierer“ empfänden und in der neuen Ideologie einen Ausweg sähen.