Wie man richtig lesen muss

Ausgabe 225

„Oh, die ihr glaubt, wenn ein Frevler zu euch mit einer Kunde kommt, dann schafft Klarheit, damit ihr (nicht einige) Leute in Unwissenheit (mit einer Anschuldigung) trefft und dann über das, was ihr getan habt, Reue empfinden werdet.“ (Al-Hudschurat, 6)
„Wie schnell die Leute doch dabei sind, Dinge zu verdammen, die sie nicht verstehen.“ ‘Aischa, Ehefrau des Propheten (Sahih Muslim)
Wir müssen verstehen, dass Mehrdeutigkeit ein Aspekt von Sprache ist – selbst in ihrem einfachsten Gebrauch. Jeder, der einmal ein Wörterbuch benutzt hat, wird wissen, dass Worte oft mehrere Bedeutungen haben können.
Zu den Vorbedingungen für eine Debatte zählen in der islamischen Tradition Kenntnis von Grammatik, Rhetorik und Logik. Diejenigen, die hier nicht vorbereitet sind, werden leicht Opfer von allgemein verbreiteten Missverständnissen. In der Vergangenheit forderten solche Menschen nicht die Aussagen von anerkannten ­Gelehrten heraus, weil sie die Aussage dieses Qur’anverses zur Genüge kannten: „Sprich: ‘Sind etwa diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen, gleich?’„ (Az-Zumar) Das ist eine rhetorische Frage, die keine Antwort benötigt.
Lesen ist im Wesentlichen eine Handlung des Geistes. Gutes Lesen ist aber eine herausfordernde Anstrengungen der eigenen geistigen Fähigkeiten. Einer meiner Lehrer sagte, dass Lesen vier Stufen habe: Die Umrisse des Textes zu verstehen, die Begriffe mit den Begriffen des Autors zu meistern (das heißt, dass man die Worte so versteht, wie sie der Autor beabsichtigte), das Verstehen der Aussagen, ihrer Argumente und der ihnen zugrunde liegenden Beweise und schließlich das Antworten in einer angemessenen Weise.
Beim letzteren Punkt handelt es sich um den schwierigsten Aspekt des Lesens: Es beinhaltet die Fähigkeit zur verständigen Kritik, der Anführung der Gründe für einen Widerspruch und ihre Unterfütterung mit Gegenargumenten. Aber diese letzte und schwierigste Phase des Lesens basiert auf der Meisterung der ersten drei.
Die Tatsache, dass Sprache so viele Bedeutungen und verschiedene Möglichkeiten enthält, offenbart ihren Reichtum. Leser können angesichts der verschiedenen Möglichkeiten der Worte – für sich selbst genommen oder in ihrer Reihenfolge – nur verwundert sein. Das Entdecken der Vielfalt an Bedeutungen und ihrer Ausschöpfung war die Gewohnheit muslimischer Gelehrter.
Man kann auch missverstehen und in Folge Opfer von Wut und Konfusion werden. Einige gehen sogar weiter und reagieren mit verächtlichen Schmähreden. Solche Leute werden im Internet freundlich als „Trolle“ bezeichnet. Eigentlich offenbart ihr mangelndes Verständnis, obwohl sie lesen können, nur ihre eigene Unwissenheit, da Lesen und Verstehen zwei unterschiedliche Dinge sind. Im Qur’an werden diejenigen, welche die Thora wörtlich kennen, aber nicht verstehen, als „Bücher tragende Esel“ beschrieben.