Am Tatarengrab von Kleinbeucha

Ausgabe 200

Foto: ICATAT, Magdeburg

(iz). Auf einem Hügel im Bornaer Land südlich von Leipzig befindet sich ein besonderes Kulturdenkmal muslimisch-deutscher Geschichte: Das Grab des Offiziers „Jussuf, Sohn des Mustafa“, der hier im Jahre 1813 begraben wurde. Angeblich kamen noch einige Jahre nach dem Begräbnis „Verwandte und Bekannte aus dem fernen Russland, um das Grab zu pflegen“. Wenn auch wahrscheinlicher ist, dass Jussuf ein Tatare aus Polen-Litauen war, steht eines jedoch fest: Die Grabstätte würde ohne die liebevolle unermüdliche Betreuung des Grabes durch die sächsischen Bürger von Kleinbeucha heute nicht mehr Zeugnis ablegen können von der bitteren Zeit der Napoleonischen Kriege. Damals kämpften auch tausende Muslime und Bud­dhisten – Tataren, Baschkiren und Kalmüken – als Soldaten der russischen, preußischen und sächsischen Armee auf allen Seiten der Kriegsgegner.
Wer war Jussuf, der Sohn des Mustafa?
Durch die Jahrhunderte fand das Grab und die Überlieferung von ­Jussuf, dem muslimischen Offizier aus dem Osten, Eingang in die Regionalgeschichte, in die sächsische Sagenwelt und die Alltagskultur der Menschen. In der Regionalgeschichte der lokalen Heimatforscher ist dieser Jussuf mal Baschkire, mal Russe, mal Türke oder ­Tatar. Er sollte aus den fernen Steppen der Mongolei stammen oder aus den südli­chen Weiten Russlands – Varianten gibt es viele. Auf den Originalgrabsteinen soll gestanden haben: „1813 roku Wachscheff – Jusuph, der Sohn des Mustafa, der Gutmütige und Tapfere“ und „Nichts ist gut außer Gott und Muhammed dem Propheten Gottes“.
Tatarische Soldaten von der Krim und aus dem Wolga-Ural-Gebiet fochten in allen Armeen der damaligen Kriegsgegner: In den diversen Kosaken- und Ulanenverbänden aller Armeen wie auch in den nach Rekrutierungs- und Stationierungsgebiet benannten Einheiten – etwa denen aus Ufa, Simferopol, Perekop usw. Das Verwenden von „roku“ für die Jahresangabe auf dem Originalstein kann ein Indiz dafür sein, dass es sich um einen Lipka-Tataren aus Polen-Litauen gehandelt hat. Das polnische rok oder das ukrainische Rik wäre nicht von Wolga- und Krim-Tataren der russischen Armee verwendet worden. Tatarische Reiter aus Polen-Litauen waren sowohl in der Napoleonischen Armee als auch in den Armeen der Alliierten zu finden. Gesichert ist etwa, dass die Schwadron der Lipka-Tataren unter Hauptmann Sultan Ulan und Leutnant Hassan Aleb-imam an den Schlachten von Großgörschen, Bautzen, Dresden und Leipzig teilnahmen und nach Beendigung des Krieges in die Dienste Alexanders I. traten. Aber auch in der sächsischen Armee dienten seit der polnisch-sächsischen Doppelmonarchie August des Starken polni­sche Tataren und sogar in der preußischen Armee dienten um 1800 einige tausend muslimische Tataren. ­Legendär ist ihr General von Günther und ­dessen enge Beziehung zu diesen muslimischen Lanzenreitern. Sicher scheint also bisher: Es war kein Baschkire, Russe oder Türke, sondern sehr wahrscheinlich ein Tatare aus Polen-Litauen. Allerdings bleiben Fragen offen: Wer war damals fähig, arabische Schrift in die Grabsteine zu meißeln, wer übersetzte die Grabin­schriften ins Deutsche und in welcher Einheit diente der Offizier Jussuf?
Gemeinsame Forschung und Gedenkfeier 2013
Diesen Fragen solle die Wissenschaft nachgehen, so der Ehrenvorsitzende des Heimatvereins Bornaer Land Helmut Hentschel. Er ist hauptsächlich verantwortlich für die Renovierung des Grabes und hatte Kontakte zur „Landsmannschaft der Krimtataren in Deutschland e.V.“ und zu Turkologen in Berlin geknüpft. Der Zufall wollte es, dass auch zwei tatarische Historiker gerade zu einem Forschungsaufenthalt in Berlin weilen: So kamen zur Neueinweihung des Tatarengrabes zusammen mit Dr. Mieste Hotopp-Riecke vom ICATAT Berlin auch Frau Prof. Dr. Dilyara Usmanova und Herr Prof. Dr. ­Iskander Gilyazov vom Institut für ­Geschichte der Föderalen Staatsuniversität in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan sowie der tatarische Journalist Nassur Juruschbaejew aus Leipzig. Zusammen mit tatarischen Philologen und Historikern von der Halbinsel Krim, aus Polen und Litauen ­wolle man das Rätsel um Offizier Jussuf lüften, so Gilyazov.
Die Renovierung umfasste das Erstellen eines neuen Grabsteines, die Aufstellung einer Stahlstele mit Informationen zur Geschichte des ­Grabes und eine Gedenkplakette am ehemaligen Siechenhaus des Ortes, wo der Tatarenoffizier verstarb. Möglich wurde dies vor allem durch das Engagement der deutschen Vereine vor Ort und der finanziellen Unterstützung von Seiten der „Kultur- und Umwelt-Stiftung Leipziger Land“ der Sparkasse ­Leipzig. Der Festverein Beucha, das Kultursekretariat des Zweckverbandes „Kulturraum Leipziger Raum“ und der Heimatverein Bornaer Land für wollen auch in Zukunft dem Gedenken an die muslimischen Soldaten der Napoleoni­schen Kriege Raum geben, indem sie sich um das Tatarengrab kümmern. Wie die Wirtin des Gasthofs Beucha betonte sei dies eine schon längst völlig normale Tradition der Anwohner: „Für uns ist die Pflege des Tatarengrabes schon immer Teil unseres Alltags. Schon meine Mutter schrieb 1943 ­einen Schüleraufsatz über das Grab. Lehrer wie Herr Thomalla motivierten ihre Schüler immer zu Respekt und Pflegearbeiten dort.“ Unter der Bevölkerung hat sich schon seit Dutzenden Jahren eingebürgert „bei Jussuf“ einen Kaffee zu trinken und wenn ein Liebespaar spazieren geht, heißt es „wir gehen mal zum Jussuf“. Der lichte Waldessaum auf der Anhöhe mit Blick über Felder und Wiesen als auch der exotische Hintergrund des Ortes stimme eben melancholisch…
Wie der Direktor der Stiftungen der Sparkasse Leipzig und geschäftsführen­de Vorstand der „Kultur- und Umwelt-Stiftung Leipziger Land“, Stephan Seeger, in seiner Festrede bekannt gab, wird auch für die Jahre 2012 und 2013 ein Budget für die Förderung von ­Aktionen im Zusammenhang mit dem Tatarengrab im Kontext der Gedenkfeiern zum 200. Jubiläum der Völkerschlacht Leipzig bereit gestellt. Für das Jahr 2012 war an ein Symposium zur multiethnischen Militärgeschichte am Beispiel des Tatarengrabes und eine ­entsprechende Publikation gedacht. Die Wissenschaft­ler aus Berlin und Tatarstan erklärten sich freudig bereit, an diesem Projekt mitzutun. Für das große Jubiläum am 11.-20. Oktober 2013 fand ein großer Festakt statt. Eingeladen wurden dazu die jeweiligen Nachkommen der kriegsteilnehmenden Herrscherhäuser, also die entsprechenden Prinzen und Fürsten aus den Linien der ­Habsburger, Romanows, Hohenzollern, Wittelsbacher und anderer europäischer Adelsfamilien. Auch die Mitglieder der tatarischen Adelshäuser von der Krim, aus Tatarstan und von der Szlachta ­Polen-Litauens, deren Vorfahren an den Schlachten von 1813 teilnahmen, konnten ausfindig gemacht werden. Ihre Unterstützung sagten die entsprechenden ­Vereine aus Deutschland zu, die in die alte Heimat gute Verbindungen pflegen und zur Neueinweihung ihre Grußworte schickten: Die „Landsmannschaft der Krimtataren in Deutschland e.V.“ sendete Grüße aus Bayern, die Union „Tatarlar Deutschland e.V.“ aus Frankfurt am Main, der deutsch-tatarische Integrationsverein „TAMGA e.V.“ aus Berlin-Brandenburg, der Tatarisch-Baschkirische Kulturverein aus Weiler am Rhein und Berlin sowie die Gesellschaft für Osteuropa-Förderung und das ICATAT Berlin schickten herzliche Dankesgrüße an die sächsischen Vereine und Sponsoren.
Einigkeit herrschte darüber, dass die Menschen in Kleinbeucha eine hervorragende Arbeit leisten und die Zusammenarbeit zwischen den Muslimen, Atheisten und Christen weitergehen sollte, denn diese zeige „dass ein vorurteilsfreier Umgang mit anderen Religionen möglich ist. Gerade in unserer heutigen Zeit aufgeheizter Auseinandersetzungen ist dies ein beispielhaftes Signal“ so Stephan Seeger. Dementspre­chend hieß es auch im Grußwort der krimtatarischen Landsmannschaft, der ältesten Migrantenorganisation von Muslimen in Deutschland überhaupt: „Möge das Grab unseres vor 200 ­Jahren hier ums Leben gekommenen Landsmanns zum Keim einer neuen deutsch-tatarischen Freundschaft werden“.