Sarajevo: Die bosnische Hauptstadt ist immer noch vom Krieg gezeichnet. Von Bedrana Kaletovic

Ausgabe 203

Der Bosnienkrieg war von herausragen­der Bedeutung für die europäischen Muslime. Nicht nur, weil er sich vor unserer Haustür abspielte und mit voller Absicht gegen euro­päische Muslime geführt wurde. Anders als beispielsweise im Nahen Osten enthielten sich die Bosniaken jeglicher Terrormethoden gegen die Zivilbe­völkerung. Der Dayton-Vertrag von 1995 zementierte die Ergebnisse des Genozids und wurde in dem Moment erzwungen, als die Muslime eine erfolgreiche Offensive begannen. Das Land wurde mit den Kriegsfolgen alleine gelassen.

(SETimes). Am 6. April 1992 erkannte der Westen die Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina (BiH) an und bewaffnete Serben schossen auf Demonstranten in Sarajevo. Das war der Beginn der 43-monatigen Belage­rung Sarajevos. Sie führte zum Tod von mehr als 11.000 Menschen in der bosni­schen Hauptstadt und veranlasste unzäh­lige andere zur Flucht.

Dieser infame April 1992 lebt im ­Gedächtnis vieler Bürger der Stadt fort. Sie wussten zu dieser Zeit noch nichts vom Krieg. Die Schrecken spürten zuerst andere im südöstlichen Bosnien – an den Städten der Drina, die an Serbien grenzen.

„Die Belagerung führte damals zu enormem Leiden und Elend unter den rund 400.000 Bewohnern der bosnischen Hauptstadt. Andauernd bombardiert und im Feuer von Scharfschützen waren die Menschen von Lebensmitteln, Medi­zin, Wasser und Strom abgeschnitten“, erinnert sich Melissa Fleming. Sie ist Sprecherin von UNHCR, dem UN-Hilfswerk für Flüchtlinge. „Tausende Zivilisten wurden ermordet und ­verwundet. Während des Krieges waren die Menschen in Bosnien und Herzegowina Zeugen jeder vorstellbaren Verletzung beziehungsweise des Missbrauchs der Menschenrechte – von der ethnischen Säuberung und Vergewaltigung bis zu Massen­hinrichtungen und Aushungern.“

Der Sturm des Krieges breitete sich ­rasant vom Norden her aus. Tausende Menschen wurden binnen weniger Tage getötet, meistens Männer. Die Älteren, Frauen und Kinder suchten einen Ausweg und nach Orten, wo diese Schrecken weniger präsent waren. Mit ­Kindern in den Armen und wenigen Habseligkei­ten wurden sie in Schulen, Sport- und Kulturhallen untergebracht, die zu ihren Unterkünften wurden.

„Wir hatten wenig Essen, aber wir teilten mit den Leuten, die nichts hatten. Naiv glaubten wir, dass der Krieg nicht lange dauern würde und alles bald vorü­ber sein würde. Keiner von uns konnte sich den Hunger vorstellen, der dem folgte“, erinnert sich Munira Kurbasic, eine Hausfrau aus Vitez. „Als die Verantwortlichen der staatlichen Nachrichten sagten ‘Guten Abend, es ist Krieg!’, konnte ich die wahre Bedeutung dieser ­Worte nicht verstehen. Unglücklicherweise würde ich sie bald verstehen. Der Keller wurde unserer Heimat und Hunger etwas, mit dem man aufwachte und zu Bett ging. Bomben und Scharfschützen ­waren eine alltägliche Sache und der Tod kam näher denn je“, sagte Branko Katana aus Sarajevo. Die Belagerung Sarajevos dauerte 1.425 Tage – die längste einer Hauptstadt in der modernen Geschichte. Mehr als 11.540 Menschen starben, darunter hunderte Kinder.

Heute wird das Leben in Bosnien-Herzegowina in zwei Teilen betrachtet – ­eines vor und eines nach dem Krieg. „Zwischen April 1992 und 2012 drehte sich mein Leben darum, die Knochen meines Sohnes Samir zu finden“, sagte Aisa Omerivic aus Bratunas. Sie verlor durch den Sturm des Krieges Familie, Heim und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. „Meine Familie ist weg. Wir wurden zerstört und nach meinem Tod haben wir keine Nachkommen, die über die Schrecken des Krieges sprechen können, die wir durchleben mussten“, sagte sie. In dem gesamten Land kamen mehr als 200.000 Menschen ums Leben – Musli­me, Serben, Kroaten und Angehörige anderer Nationalitäten.

Genau wie Aisa Omerivic suchen jene, die Familienmitglieder verloren haben, nach 28.000 Vermissten in Bosnien. Sie alle hoffen den Tag zu erleben, etwas über die letzte Ruhestätte dieser ­geliebten Menschen herauszufinden. Schätzungsweise 74.000 Menschen wurden nach Angaben des UNHCR vertrieben. Die Agentur hielt am 24. April eine Geberkonferenz in Sarajevo ab, um 500 Millio­nen Euro für Flüchtlinge zu sammeln, die im Land vertrieben wurden; aber auch für die Heimkehrer.

Als der Konflikt endete, wurde Bosnien-Herzegowina mit den Folgen des Krieges alleine gelassen. Aber, anders als die anderen, ehemaligen jugoslawischen Republiken, fehlte dem Land die ethnische Einheit innerhalb seiner Grenzen. Der Friedensvertrag von Dayton (1995) beendete das Kämpfen, aber hielt die Konfliktparteien innerhalb der Staatsgrenzen gefangen. Dies führte zu jenen ethnischen Problemen, denen sich das Land heute gegenübersieht.