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Auch nach dem Abzug des Westens bleibt seine Ökonomie

BERLIN/KABUL (GFP.com). Nach dem Abzug des Westens aus Afghanistan suchen die Vereinten Nationen die Bevölkerung des Landes mit dem Nötigsten zu versorgen.

Eine UN-Geberkonferenz in Genf konnte am gestrigen Montag Hilfszusagen von mehr als einer Milliarde US-Dollar einwerben; die Bundesrepublik stellte 100 Millionen Euro in Aussicht. Hintergrund ist, dass es dem Westen während der 20-jährigen Besatzungszeit nicht gelungen ist, die afghanische Wirtschaft aufzubauen: Sie blieb von umfangreichen Zahlungen aus dem Ausland abhängig, die bestimmte Sektoren aufblähten – etwa Dienstleistungen für westliches und Regierungspersonal –, aber nicht für den Aufbau einer auch nur annähernd eigenständigen Produktion sorgten.

Während korrupte Regierungsfunktionäre unter den Augen des Westens Milliardensummen nach Dubai schleusten, verarmte die Bevölkerung zusehends; bereits vor dem Abzug des Westens war gut die Hälfte der Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dass die Hilfsgelder nach der Machtübernahme der Taliban nicht mehr fließen und die USA Sanktionen in Kraft gesetzt haben, versetzt der afghanischen Wirtschaft den Todesstoß.

In Abhängigkeit von Hilfsgeldern

Afghanistans wirtschaftliche Lage war bereits vor der blitzartigen Übernahme der Macht durch die Taliban katastrophal. Nach fast 20 Jahren westlicher Besatzung machten laut Berechnungen der Weltbank humanitäre Hilfe, westliche Entwicklungsgelder und westliche Ausgaben für das Militär immer noch rund 43 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus; drei Viertel der Regierungsausgaben wurden aus Unterstützungsprogrammen finanziert.

Der hohe Mittelzufluss hielt die afghanische Wirtschaft in Abhängigkeit: Er blähte diejenigen Sektoren auf, die, etwa Dienstleistungen, von westlichem Personal genutzt und vom Westen finanziert wurden, führte aber dazu, dass andere wichtige Branchen, vor allem industrielle, vernachlässigt wurden.

Zugleich war die Währung, der Afghani, wegen des stetigen Mittelzuflusses überbewertet, was sowohl Exporte verteuerte und damit erschwerte als auch Importe erleichterte; auch das schwächte die afghanische Produktion. Hinzu kam, dass die afghanische Rentenökonomie Korruption begünstigte, wogegen wiederum die westlichen Mächte nicht ernsthaft einschritten: Die Regierung in Kabul wie auch die in den Provinzen herrschenden Warlords waren in der Lage, aus den auswärtigen Hilfszahlungen stets gewaltige Summen für sich abzuzweigen.

Krasse Korruption, bittere Armut

Diese Summen haben Analysen zufolge Milliardenbeträge erreicht. Schlagzeilen machten zuletzt Berichte, Ex-Präsident Ashraf Ghani habe bei seiner Flucht aus Kabul in die Vereinigten Arabischen Emirate große Mengen an Bargeld mit sich geführt; von weit über 100 Millionen US-Dollar war die Rede. Ghani streitet dies ab.

Tatsache ist jedoch, dass bereits zuvor Fälle bekannt geworden waren, bei denen afghanische Regierungsfunktionäre mit Millionenbeträgen etwa nach Dubai einreisten. Laut einer Untersuchung, die im Juli 2020 von der Carnegie Endowment for International Peace mit Hauptsitz in Washington publiziert wurde, sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Kontext mit Korruption Milliarden US-Dollar aus Afghanistan nach Dubai abgeflossen.

Gleichzeitig nahm die Armut im Land immer mehr zu. Der Bevölkerungsanteil der Afghanen, die unterhalb der Armutsschwelle lebten, stieg von 33,7 Prozent im Jahr 2007 auf 54,5 Prozent im Jahr 2016. Bereits im Juli appellierten die Vereinten Nationen an wohlhabende Staaten, zusätzliche Mittel für Afghanistan zur Verfügung zu stellen: Rund 18 Millionen Afghanen, die Hälfte der Bevölkerung, seien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ein Drittel der Bevölkerung sei unterernährt, die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren sogar akut.

Ausbleibende Gehälter

Der Abzug des Westens trifft die afghanische Wirtschaft, die ohnehin unter einer der schlimmsten Dürrekatastrophen und der Covid-19-Pandemie leidet, in gleich mehrfacher Hinsicht schwer. Zum einen waren westliche Soldaten, Mitarbeiter von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen sowie weiteres Personal schon an sich ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, da sie Unterkünfte anmieteten, Dienstleistungen in Anspruch nahmen und anderes mehr. Unmittelbar weggefallen sind die Mittel, die der Westen für den Unterhalt der – offiziell – rund 300.000 afghanischen Soldaten zahlte; und auch wenn ein erheblicher Anteil von ihnen nur auf dem Papier existierte und ihr Sold abgezweigt wurde: Eine sechsstellige Zahl an Afghanen steht nun ohne Einkommen da.

Ähnliches gilt, dies beschreibt das Afghanistan Analysts Network (AAN) in einer umfassenden Analyse, für viele der rund 420.000 Staatsangestellten, denen die Taliban ohne ausländische Hilfe keine Löhne zahlen können. Dies hat Folgen für den gesamten Dienstleistungssektor, der sich zu erheblichen Teilen aus ihren Ausgaben finanzierte. Die AAN-Analyse zitiert eine Studie der Weltbank, der zufolge rund 2,5 Millionen Afghanen zuletzt im Dienstleistungs- oder im Baugewerbe tätig waren – gut 77 Prozent aller Beschäftigten in den Städten.

US-Sanktionen

Hinzu kommen von den Vereinigten Staaten verhängte Strafmaßnahmen sowie Sanktionen gegen die Taliban. Die Biden-Administration hat bereits im August die afghanischen Devisenreserven, soweit sie Zugriff auf sie hat, eingefroren. Von den insgesamt neun Milliarden US-Dollar liegen allein sieben – in Form von Bargeld, Gold oder Anleihen – bei der US-Zentralbank; über sie kann Kabul nun nicht mehr verfügen.

Dies gilt auch für weitere im Ausland gelagerte Gelder. Den Taliban werde es allenfalls gelingen, 0,2 Prozent der Devisenreserven anzuzapfen, heißt es. Weil Washington zudem Sanktionen gegen die Taliban aufrechterhält, sind alle Lieferungen nach Afghanistan, insbesondere auch humanitäre, durch US-Repressalien bedroht; und auch wenn die Biden-Administration bekundet hat, humanitäre Hilfe sei von den Sanktionen ausgenommen, so wird dennoch, ähnlich wie bei Hilfslieferungen nach Iran, von schwerer Verunsicherung berichtet.

Das wiegt besonders schwer, da Afghanistan aufgrund der spezifischen ökonomischen Entwicklung unter westlicher Besatzung massiv von Importen abhängig ist: Über ein Viertel des Reisbedarfs, bis zu 40 Prozent der Zutaten für Brot und mehr als drei Viertel des elektrischen Stroms müssen laut AAN durch Einfuhren gedeckt werden.

Hunger, Flucht und Terror

Die Lage ist hochbrisant – vor allem aus humanitärer, für den Westen besonders aus politischer Perspektive. Bleiben die Sanktionen gegen die Taliban in Kraft und die westlichen Zahlungen aus, droht eine humanitäre Katastrophe; die Vereinten Nationen schlossen zuletzt nicht aus, dass 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung Mitte 2022 unter die Armutsschwelle rutschen könnten. Das brächte immenses menschliches Leid.

Der Westen sucht, davon unbeeindruckt, sein Geld als Druckmittel gegen die Taliban einzusetzen. Außenminister Heiko Maas bekräftigte auf der Afghanistan-Geberkonferenz der Vereinten Nationen am gestrigen Montag in Genf, Berlin werde sich auf „reine Nothilfe“ für die Bevölkerung beschränken; sämtliche weiteren Zahlungen blieben ausgesetzt. Sollte damit die Spekulation verbunden sein, ein Ausbleiben der gewohnten Gelder werde die Bevölkerung veranlassen, den Druck auf die Taliban zu erhöhen und sie womöglich zu stürzen, dann könnte dies – darauf weist etwa das AAN hin – nicht nur zu einer Massenflucht in Richtung Europa führen, sondern auch die Bereitschaft der Taliban zunichte machen, Terroristen, etwa diejenigen des ISKP (Islamic State Khorasan Province), von Angriffen auf westliche Ziele abzuhalten.

Kampf um Einfluss

Vor diesem Hintergrund haben die Vereinten Nationen gestern Zusagen für Hilfen im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar erhalten; die Bundesrepublik hat einen Beitrag von bis zu 100 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Nach UN-Schätzungen würde dies, sofern die Zahlungen tatsächlich eintreffen – das ist in vergleichbaren Fällen oft nicht geschehen –, eine Weile für das Nötigste reichen.

Alles weitere ist Gegenstand von Sondierungen und Verhandlungen, die gerade erst begonnen haben und bei denen nicht die afghanische Bevölkerung, sondern das westliche Bestreben, Einfluss auf die neue Regierung in Kabul zu nehmen, im Vordergrund steht.

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Peking ist vorsichtig: Taliban setzen voll auf Hilfe aus China

China

Die Taliban sprechen von ihren „Freunden“ in China, die Afghanistan wiederaufbauen wollten. Zwar tritt Peking in das Machtvakuum, das die USA hinterlassen haben. Aber Investitionen erfordern Sicherheit. So ist China vorsichtig. Kann es den Taliban überhaupt trauen? Von Andreas Landwehr

Peking (dpa/iz). Die Hoffnungen der Taliban auf baldige wirtschaftliche Hilfe aus China zum Wiederaufbau Afghanistans könnten enttäuscht werden. Nach ihrer Machtübernahme in Kabul setzen die Militanten auf den großen Nachbarn, der die „Gotteskrieger“ schon früh als die neuen Herrscher des Landes diplomatisch aufgewertet hatte. „China ist unser wichtigster Partner und bedeutet für uns eine grundlegende und außergewöhnliche Chance, denn es ist bereit, zu investieren und unser Land neu aufzubauen“, sagte ihr Sprecher Sabiullah Mudschahid der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“.

Mit Chinas Hilfe planen die Taliban ein Comeback des schwer angeschlagenen Afghanistans. In dem Land gebe es „reiche Kupferminen, die dank der Chinesen wieder in Betrieb genommen und modernisiert werden können“, sagte der Sprecher. Der Wert der Bodenschätze in Afghanistan wird tatsächlich auf eine Billion US-Dollar geschätzt. Nur fehlt es an Investitionen und Infrastruktur, um den Reichtum auch zu bergen – vor allem aber mangelt es an der nötigen Sicherheit.

Erstmal verspricht Peking nur humanitäre Nothilfe und Impfstoffe gegen die Pandemie in einem Wert von 200 Millionen Yuan, umgerechnet 26 Millionen Euro. China ist diplomatisch aktiv, das von den USA nach ihrem Rückzug hinterlassene Machtvakuum auszufüllen. Außenminister Wang Yi spricht mit den Nachbarländern. Afghanistan ist am Donnerstag auch wichtiges Thema des Brics-Gipfels mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, Russlands Wladimir Putin und den anderen Staats- und Regierungschefs aus Indien, Brasilien und Südafrika.

Die Erwartungen der Taliban, China könnte den Wiederaufbau maßgeblich mitfinanzieren, wirken aber unrealistisch. So hat Peking die Milliardeninvestitionen in seine Infrastrukturinitiative der „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative) zum Aufbau neuer Handelswege schon heruntergefahren. Auch verweisen Experten in China auf die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan und beäugen die Taliban misstrauisch.

Selbst früher, vor dem Ausbruch der Pandemie, als die Lage vergleichsweise stabil war, gab es keine größeren Investitionen Chinas. Zwei große chinesische Projekte in Afghanistan sind schon damals nicht ans Laufen gekommen. So erhielt 2008 ein Unternehmen aus China einen auf drei Milliarden US-Dollar geschätzten Zuschlag für die Entwicklung einer der größten Kupferlagerstätten weltweit in Mes Aynak. Und 2011 wollte ein chinesischer Konzern die Ölfelder am nördlichen Grenzfluss Amudarja erschließen. Nichts ist passiert.

„Deswegen denke ich, dass China gerade jetzt, wo es nicht nur potenziell, sondern tatsächlich Instabilität in fast allen Bereichen in Afghanistan gibt, nicht viel investieren wird“, sagt Professor Shi Yinhong von der Pekinger Volksuniversität. „Afghanistan hat jetzt drastische Veränderungen durchgemacht“, sagt der Experte. „Es gibt weder angemessene Sicherheit, noch lässt sich über nachweisliche und vergleichsweise langfristige, vernünftige Stabilität sprechen.“

Schon im befreundeten Pakistan, wo China im Rahmen der „Seidenstraße“ rund 60 Milliarden US-Dollar in Infrastruktur für den China-Pakistan Wirtschaftskorridor investiert hat, gebe es „feindliche Kräfte“, die chinesische Unternehmen und Personal attackiert haben, hebt der Professor hervor. Auch die Taliban an sich seien „komplex“, sagt Shi Yinhong auf eine Frage nach rivalisierenden Gruppen.

Ob China den Taliban überhaupt trauen kann? „Die chinesische Regierung hofft darauf, aber sie ist nicht naiv“, sagt der Professor. So haben die neuen Herrscher in Kabul versprochen, niemandem zu erlauben, vom Boden Afghanistans aus chinesische Interessen zu gefährden. Gemeint sind Extremisten und Unabhängigkeitskräfte, die China in seiner angrenzenden Region Xinjiang fürchtet – dem ehemaligen Ostturkestan. Dort gehen die Chinesen gegen muslimische Uiguren vor, haben Hunderttausende von ihnen in Umerziehungslager gesteckt.

Es hat schon eine gewisse Ironie: Während China in Xinjiang mutmaßliche Extremisten bekämpft, stellt es sich in Afghanistan an die Seite militanter Islamisten, die die Chinesen als ihre „Freunde“ preisen. Aber von echtem Vertrauen ist in Peking wenig zu spüren. „Ohne Beweise oder Prüfung über eine beträchtliche Zeit kann niemand glauben, dass die Taliban, die in der Vergangenheit untrennbar mit der ostturkestanischen Bewegung verbunden waren, so schnell und definitiv ihr Versprechen halten werden, das sie Chinas Regierung gegeben haben“, sagt Shi Yinhong.

Aber Peking ist pragmatisch. Denn es geht nicht nur um Xinjiang, sondern auch darum, dass Afghanistan ein Nährboden für Terrorismus und eine Quelle der Unsicherheit für Chinas Interessen in ganz Zentralasien und in Pakistan werden könnte. Selbst wenn China echte Sorgen über die Bereitschaft der Taliban habe, ihre Versprechen einzuhalten, seien die Beziehungen und der potenzielle Gewinn für Peking „einfach zu wichtig, um ignoriert zu werden“, glaubt der Sicherheitsexperte Derek Grossmann von der Rand Corporation. „Ähnlich wichtig ist das Risiko, die Taliban damit zu verärgern, ihnen verspätet die Anerkennung und Legitimation zu geben, die sie ersehnen, was Chinas Sicherheitsinteressen gefährden könnte.“

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Amerikas Antiterrorkrieg und das Scheitern in Afghanistan

Nach dem 11. September 2001 riefen die USA den globalen Krieg gegen den Terrorismus aus. Keine drei Jahre später verkündeten sie den ersten Sieg in diesem Krieg – ausgerechnet in Afghanistan. Das sollte nicht die einzige katastrophale Fehleinschätzung bleiben. Von Can Merey und Jan Kuhlmann

Washington (dpa). US-Präsident George W. Bush wollte die Nation aus ihrer Schockstarre erlösen, als er neun Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vor dem Kongress sprach. „Unsere Trauer hat sich in Zorn verwandelt und der Zorn in Entschlossenheit“, sagte Bush damals. „Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit Al-Kaida, aber er endet nicht dort. Er wird erst enden, wenn jede Terrorgruppe von globaler Reichweite gefunden, gestoppt und besiegt worden ist.“ Von einem Ende der internationalen Terrorbedrohung kann auch 20 Jahre später keine Rede sein. Und auf dem ersten Schlachtfeld in diesem Krieg – Afghanistan – ist der Westen gerade gescheitert.

Nachdem die Taliban sich weigerten, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden auszuliefern, begann am 7. Oktober 2001 der US-geführte Angriff auf Afghanistan. Bush machte damals deutlich, dass sich der Kampf der USA ausdrücklich auch gegen jene Regierungen richte, die Terroristen Schutz böten. Das Taliban-Regime stürzte Ende 2001, eine Zeit lang schien es, als wäre Afghanistan auf einem guten Weg. Bei einem Besuch des afghanischen Übergangspräsidenten Hamid Karsai im Weißen Haus sprach Bush im Juni 2004 vom „ersten Sieg im Krieg gegen den Terror“.

Es war eine von vielen katastrophalen Fehleinschätzungen der USA. Spätestens die Abzugspläne von US-Präsident Donald Trump und seinem Nachfolger Joe Biden setzten in Afghanistan eine Dynamik in Gang, die zur erneuten Machtübernahme der Taliban geführt hat. Ursprünglich hatte Biden angekündigt, den US-Truppenabzug bis zum 11. September dieses Jahres abzuschließen. Am 20. Jahrestag der Anschläge weht nun wieder die weiße Flagge der Islamisten in Kabul. Die Nato-geführten Truppen sind im Chaos abgezogen, die afghanischen Sicherheitskräfte kollabiert. Die Taliban haben den Krieg in Afghanistan gewonnen.

Biden argumentiert, das wichtigste Ziel des Einsatzes sei dennoch erreicht worden – und zwar schon im Mai 2011, als US-Spezialkräfte Al-Kaida-Chef Osama bin Laden in Pakistan töteten. Richtig ist, dass die USA seit dem 11. September 2001 nie wieder zum Ziel eines vergleichbaren Terrorangriffs wurden. Die Gefahr ist aber nicht gebannt. In ihrem jüngsten Bericht zur Bedrohungslage schreiben die US-Geheimdienste, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Al-Kaida und der Iran mit seinen militanten Verbündeten „planen weiterhin Terroranschläge gegen Personen und Interessen der USA, einschließlich in unterschiedlichem Ausmaß in den Vereinigten Staaten“.

Bereits vor dem Abzug der internationalen Truppen war Al-Kaida nach Einschätzung der Vereinten Nationen in fast jeder zweiten afghanischen Provinz präsent. In einem Bericht des US-Sicherheitsrats vom Frühjahr hieß es: „Die Taliban sind weiterhin eng mit Al-Kaida verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen.“ Nicht verwunderlich, dass Al-Kaida den Abzug des Westens aus Afghanistan als Triumph feiert: „Gott hat uns den Sieg versprochen und Bush die Niederlage“, teilte das Terrornetz kürzlich mit. „Das afghanische Debakel Amerikas und der Nato markiert den Anfang vom Ende einer dunklen Ära westlicher Vorherrschaft und militärischer Besatzung islamischer Länder.“

Tatsächlich könnte dieses afghanische Debakel auch in Washington zu einem grundsätzlichen Umdenken führen. „Wir müssen aus unseren Fehlern lernen“, sagte Biden nach dem Ende des Einsatzes. „Bei dieser Entscheidung über Afghanistan geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.“ Die Schaffung demokratischer Strukturen könne nicht Ziel von Anti-Terror-Einsätzen sein. Biden argumentiert, für die Terrorismusbekämpfung müssten keine amerikanischen Bodentruppen in fernen Ländern stationiert werden – dafür hätten sich bereits jetzt andere Mittel wie etwa Drohnen bewährt.

Dass ein großangelegter Einsatz von Bodentruppen schwieriger zu beenden als zu beginnen ist, hat sich nicht erst in Afghanistan gezeigt. Bush nutzte den Krieg gegen den Terrorismus auch als Vorwand, um im März 2003 den Irak anzugreifen. Ende 2011 zogen die USA ihre Truppen aus dem Land ab. Keine drei Jahre später mussten sie zurückkehren, um die irakischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen den IS zu unterstützen. Die Terrormiliz ist trotz ihrer militärischen Niederlage weiter im Irak und im benachbarten Syrien aktiv.

Auch in Afghanistan unterstützten die US-Truppen die einheimischen Sicherheitskräfte, und noch eine Parallele ist im Irak zu erkennen: Eine funktionierende Demokratie, wie sie die USA nach ihrer Irak-Invasion 2003 in dem Land etablieren wollten, ist dort niemals entstanden. Zwar gibt es Wahlen zum Parlament, doch ändern diese an den realen Machtverhältnissen wenig. Die Politik des Landes ist geprägt von Misswirtschaft und Korruption. Beispielhaft dafür steht die schwache Infrastruktur des Landes. Während der Irak zu den ölreichsten Ländern der Welt zählt, leiden die Menschen dort permanent an Strommangel.

Der Frust vieler Iraker über ihre herrschende Klasse ist so groß, dass die Wahlbeteiligung 2018 auf ein historisches Tief fiel. Später zogen vor allem junge Frauen und Männer zu Massenprotesten auf die Straße, gegen die die Sicherheitskräfte mit Gewalt vorgingen.

Vor allem öffnete der US-Militäreinsatz im Irak mit dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein das Tor für massiven Einfluss des schiitischen Nachbarn Iran. Die schiitischen Muslime stellen im Irak nicht nur die Mehrheit, sondern dominieren auch die Politik. Teheran nutzt vor allem schiitische Milizen, um seine Interessen durchzusetzen. Diese bewaffneten Gruppen sind nicht nur militärisch stark, sondern auch eng mit wichtigen politischen Parteien verbunden.

Das politische Chaos im Irak nutzte auch der IS, um 2014 große Teile des Landes unter Kontrolle zu bringen. In seinen Reihen fanden sich nicht zuletzt viele Sunniten wieder, die früher in Saddams Armee gedient hatten. Als die USA nach dessen Sturz das Militär auflösten, fühlten sich viele Soldaten gedemütigt – und sannen auf Rache.

Auf die USA wächst der Druck, ihre Soldaten auch aus dem Irak abzuziehen. In den vergangenen Monaten kam es immer wieder zu Raketenangriffen auf Einrichtungen, die von Amerikanern genutzt werden. Washington sieht schiitische Milizen am Werk. Doch ein Abzug hätte weitreichende Konsequenzen: „Der Iran übernimmt dann den Irak“, prophezeit Guido Steinberg, Irak-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Und auch der IS dürfte sich im Aufwind sehen.

Das würde erst recht gelten, wenn die Biden-Regierung auch den von Trump begonnenen Abzug aus Syrien vollenden sollte. Dort unterstützen die US-Truppen die Kurden im Kampf gegen den IS. Ohne Washingtons Hilfe wäre es kaum vorstellbar, dass sie die von ihnen kontrollierten Gebiete im Norden und Osten Syriens halten könnten.

Taliban stellen Übergangskabinett vor

Die Taliban hatten betont, dass sie eine Regierung nicht nur aus ihren eigenen Mitgliedern bilden werden. Mit den ersten Besetzungen werden sie dieser Ansage nicht gerecht. Überraschend ist, wer Premierminister wird.

Kabul (dpa/iz). Die Taliban haben Teile eines Übergangskabinetts für Afghanistan vorgestellt. Demnach wird der öffentlich wenig bekannte Mullah Mohammed Hassan Achund amtierender Vorsitzender des Ministerrats, was dem Amt eines Premierministers gleichkommt. Das erklärte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Kabul.

Die Ernennung Achunds als Regierungschef gilt als Überraschung. Er ist eines der Gründungsmitglieder der Taliban, war zuletzt im Führungsrat, der Rahbari Schura, und gilt als enger Vertrauter des Taliban-Führers Haibatullah Achundsada. Achund, der in Afghanistan Mullah Hassan genannt wird, hielt bereits während der ersten Taliban-Herrschaft wichtige Posten: UN-Angaben zufolge war er Außenminister und Gouverneur der Provinz Kandahar, aus der er stammt. Achund gilt als gemäßigt. Seit 2001 steht er im Zusammenhang mit den Handlungen und Aktivitäten der Taliban auf einer UN-Sanktionsliste.

Die Taliban hatten nach massiven militärischen Gebietsgewinnen Mitte August die Macht in Afghanistan übernommen. Der bisherige Präsident Aschraf Ghani war kurz davor aus dem Land geflohen. Seit ihrer Machtübernahme bemühen sich die Islamisten um eine gemäßigtere Außendarstellung als zu Zeiten ihrer Schreckensherrschaft zwischen 1996 und 2001. Es besteht dennoch weiter die Sorge, dass die militante Gruppe ihre Herrschaft auf Unterdrückung und drakonischen Strafen gründen könnte.

Taliban-Sprecher Mudschahid sagte, man habe sich darauf geeinigt, ein Übergangskabinett zu ernennen und bekanntzugeben, „um die notwendigen Regierungsarbeiten durchführen zu können“. Insgesamt besetzten die Taliban 33 Posten. Die Besetzung der verbleibenden Führungspositionen von Ministerien und Institutionen werde man sukzessive bekanntgeben, sagte Mudschahid weiter.

Zu einem von zwei Stellvertretern Achunds wurde Mullah Abdul Ghani Baradar ernannt, der bisherige Vizechef der Taliban. Er wurde nach seiner Freilassung aus pakistanischer Haft im Jahr 2018 das öffentliche Gesicht der Gruppierung und unterzeichnete 2020 für die Taliban das Abkommen mit den USA unter anderem über ein Ende des US-geführten Militäreinsatzes in Afghanistan. Er telefonierte auch mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump.

Die Ernennung von Achund zeige, „wie wenig wir im Westen über die Taliban wissen und ihre Entscheidungen voraussagen können“, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Vor der Bekanntgabe waren die allermeisten Beobachter davon ausgegangen, dass Mullah Baradar Regierungschef wird.

Andere Personalien sind weniger überraschend. Mullah Jakub, der älteste Sohn des langjährigen, verstorbenen Taliban-Chefs Mullah Omar, wird Verteidigungsminister. Er soll etwa Mitte 30 sein und als Taliban-Vizechef die Milizen gesteuert haben. Siradschuddin Haqqani, der dritte Vizechef der Taliban und Chef des berüchtigten Haqqani-Netzwerkes, wird Innenminister. Es wird für einige der grausamsten Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht. Die USA suchen den etwa Mitte-40-jährigen Haqqani mit einem siebenstelligen Kopfgeld.

Als Aufsteiger innerhalb der Taliban-Reihen sehen Beobachter Amir Chan Motaki. Er war Bildungs- und Informationsminister während der Taliban-Herrschaft 1996 bis 2001 und wird nun Außenminister. Er gilt als eine der versöhnlichsten Figuren innerhalb der Bewegung und leitete bislang die Aussöhnungskommission der Taliban. Mit Abdul Hak Wasik wird ein ehemaliger Guantánamo-Häftling Chef des Geheimdienstes.

Ein Frauenministerium findet sich bisher nicht auf der veröffentlichten Liste. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen.

Kritik an der Zusammensetzung des Kabinetts folgte prompt. Die Islamisten hatten zuletzt immer wieder betont, eine „inklusive Regierung“ ernennen zu wollen. Kurz nach ihrer Machtübernahme hatten sie regelmäßig andere Politiker des Landes wie etwa den Ex-Präsidenten Hamid Karsai oder den bisherigen Leiter des Hohen Versöhnungsrates, Abdullah Abdullah, zu Gesprächen getroffen. Ihrer Ankündigung wurden sie nun aber nicht gerecht: Bei allen bisher bekannten Besetzungen handelt es sich um Taliban-Mitglieder.

Auch ethnisch geht es bisher einseitig zu. Der Afghanistan-Experte der Denkfabrik International Crisis Group, Ibraheem Bahiss, schrieb auf Twitter, soweit er dies beurteilen könne, seien bis auf zwei Tadschiken und einen Usbeken alle Postenträger Paschtunen. Mitglieder der Minderheit der Hasara etwa fehlen völlig.

Die Frage der Inklusivität ist relevant, da viele westliche Regierungen davon abhängig machen, ob sie die künftige Regierung anerkennen und das Land, das massiv von ausländischen Hilfsgeldern abhängig ist, unterstützen werden. „Mit so einem Taliban-Kabinett wird die Welt Afghanistan nicht mal mit einem Dollar helfen“, schrieb ein afghanischer Journalist auf Twitter.

Der ehemalige Gouverneur von Balch, Mohammed Atta Nur, kritisierte die Zusammensetzung unter anderem für einen Mangel an Professionalität und Frauen. Sie widerspreche zudem dem Geist der gültigen Verfassung des Landes.

Die Ankündigung zur Übergangsregierung erfolgte nur Stunden, nachdem die Taliban in der Hauptstadt Kabul in die Luft feuerten, um Hunderte Demonstranten auseinanderzutreiben. Die Menschen waren gegen eine mutmaßliche Einmischung Pakistans in Afghanistan auf die Straßen gegangen. Indirekt kritisierten sie aber auch die Islamisten. Die Taliban hatten zudem mehrere Journalisten für mehrere Stunden festgenommen.

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US-Generalstabschef: Bürgerkrieg in Afghanistan ist wahrscheinlich

Washington/Ramstein (dpa/iz). US-Generalstabschef Mark Milley hat sich besorgt darüber geäußert, dass Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der internationalen Truppen in einen Bürgerkrieg abgleiten könnte.

„Ich weiß nicht, ob die Taliban in der Lage sein werden, ihre Machtstellung zu festigen und eine Regierung zu etablieren“, sagte Milley dem Sender Fox News am 4. August in einem Interview auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz. „Meine militärische Einschätzung ist, dass sich die Lage wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg auswachsen wird.“

Eine solche Entwicklung könnte wiederum dazu führen, dass Terrorgruppen das Machtvakuum in Afghanistan für sich nutzen, warnte Milley. Zu befürchten sei, dass sich Al-Qaida neu formiert, die Extremisten des Islamischen Staats (IS) ihren Einfluss ausbauen „oder eine Vielzahl anderer Terrorgruppen“ sich am Hindukusch breit machen. „Es könnte sein, dass wir binnen 12, 24 oder 36 Monaten sehen werden, wie ausgehend von dieser Region der Terrorismus aufs Neue erstarkt. Und wir werden das beobachten.“

Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul war in der Nacht zu Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz nach fast 20 Jahren zu Ende gegangen.

Als wichtigstes Argument für den Truppenabzug hatte die US-Regierung angeführt, dass das Terrornetzwerk Al-Qaida faktisch zerschlagen und nicht mehr in der Lage sei, von dort aus Ziele in den USA anzugreifen. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen war Al-Kaida bereits vor dem Abzug der internationalen Truppen in fast jeder zweiten afghanischen Provinz präsent.

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„Die Taliban haben sich monatelang auf diesen Augenblick vorbereitet“

(iz). Die rasante Übernahme Afghanistans durch die Taliban – halb Durchmarsch, halb Selbstaufgabe der bisherigen Regierung – hat Politiker, Militärs und Analysten in aller Welt geschockt. Längst ist von einem Scheitern „des Westens“ die Rede.

Hierzu sprachen wir mit dem geopolitischen Analysten D. Hurrell. Hurrell lebt in Südafrika und arbeitet derzeit als politischer Analyst und Dozent. Mit ihm sprachen wir über die enorme Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches, über das Zeitalter der Interventionen und darüber, wer nun in der Region profitieren könnte.

Islamische Zeitung: Am 15. August nahmen die Taliban nach einer enorm schnellen Kampagne, in der viele Provinzen und Städte beinahe kampflos an sie fielen, die Hauptstadt Kabul ein. Hat Sie der Verlauf der Ereignisse überrascht?

D. Hurrell: Ich denke, jeder war von der Geschwindigkeit überrascht, mit der Afghanistan überrollt wurde. Die meisten städtischen Räume des Landes wurden in einem Zeitraum von neun Tagen erobert. Das wird uns als ein Scheitern der Geheimdienste präsentiert. Die Wirklichkeit ist, dass internationale Kräfte und ihre afghanischen Verbündeten in zwanzig Jahren Kriegsführung nicht in der Lage waren, sie zu vertreiben.

Es gab keinen Zweifel darüber, dass die Gruppe Gebietsgewinne machen würden, sobald der US-Abzug begann und die Moral der afghanischen Armee (ANA) fiel. Ein frühes Anzeichen war ihre Weigerung, die Verpflichtung zur „Reduktion von Gewalt“ umzusetzen, die 2020 Teil des Vertrages mit den USA war. Viele glauben, dass die mit den USA verbündeten Warlords und Milizen gemeinsam mit Regierungskräften in der Lage gewesen wären, größere Städte wie Kandahar und Herat zu halten und zu verteidigen, sodass die Kämpfe auf das Hinterland beschränkt blieben.

Das war jedoch nicht der Fall. Afghanische Sicherheitskräfte kapitulierten im Angesicht des Vormarsches. Wir konnten zwischen Mai und Juli signifikante Geländegewinne in ländlichen Gebieten beobachten. Sie kopierten dabei ISIS/Daesh (vielleicht auch Dschingis Khan). Sie nutzten beispielsweise soziale Medien, auf denen sie Beispiele davon verbreiteten, was jenen widerfahren wird, die sich ihnen widersetzen. Ich beziehe mich dabei auf die häufig verbreitete Hinrichtung von Angehörigen der afghanischen Spezialkräfte (ANSF), wie sie sich in Malestan und Spin Boldak ergeben haben.

Zusätzlich sah die Doha-Vereinbarung eine Garantie vor, dass US-Luftangriffe außer von „Kampfgebieten“ zu enden hätten. Das führte dazu, dass die Taliban mit größerer Bewegungsfreiheit in vielen Gebieten agieren konnten. Was nicht nur ihre logistischen und materiellen Netzwerke stärkte, sondern auch politisch den Boden für eine Umgebung nach den USA bereitete.

Islamische Zeitung: War die de facto Übernahme Afghanistans durch die Taliban die Folge des US-Abzugs, der ohne sonderliche Bedingungen durchgezogen wurde?

D. Hurrell: Die Taliban haben sich monatelang auf diesen Augenblick vorbereitet. Es scheint, sie selbst seien von der Geschwindigkeit ihrer Offensive überrascht gewesen. Aber wir wissen, dass sie den Grundstein dafür gelegt haben. Über Monate gab es Drohungen und heimliche Verhandlungen zwischen den Taliban und lokalen Brigadekommandeuren, Warlords und Gouverneuren, die in die massenhaften Kapitulationen von Regierungstruppen der letzten Woche mündeten.

Natürlich gab es in einigen Provinzen heftige Gefechte zwischen afghanischen Einheiten und den Taliban wie in Helmand, Kandahar und Herat. Aber ihnen folgten die Aufgabe oder ein ausgehandelter Rückzug der Sicherheitskräfte. Die Taliban ließen es jeden wissen, dass sie entweder bei einer Kapitulation Amnestie gewähren würden oder man die Konsequenzen auf sich nehmen müsse. Ihre Offensive wurde von einer effektiven Kampagne in den sozialen Medien begleitet, die jeden Widerstand einschüchterte.

Es scheint, dass selbst die afghanischen Streitkräfte es versäumt haben, sich strategisch so zu positionieren, dass sie Kerngebiete auf Kosten von Gebieten verteidigen, die nicht zu halten waren. Die Unterstützung und Sicherheitskoordinierung zwischen Kabul und den Provinzen war offenbar sehr gering. Es gab keine defensive Führung. Das war eine Reflexion des hochkorrupten Klientelsystems, wie es sich in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte. Auch hatten sich afghanische Einheiten seit einem Jahrzehnt stark auf die USA, das alliierte Militär, Luftunterstützung und operationale Doktrin verlassen. Das bedeutete, dass die Armee ohne diese Unterstützung unorganisiert war und moralisch zusammenbrach.

Ein beitragender Faktor war die vollkommene Korruption und Funktionsstörung des afghanischen Militärs. Kommandeure und Offiziere stahlen das Geld und bezahlten ihre Soldaten nicht. Das führte zu Desertionen und zum Verkauf von Waffen auf dem Schwarzmarkt – an die Taliban.

Islamische Zeitung: Die Afghanistankampagne von NATO, USA und anderen Kräften leitete nach Ansicht einiger Beobachter den Kreislauf im Rahmen des sogenannten Krieges gegen den Terror ein. Markieren für Sie die jüngsten Entwicklungen das Ende einer Ära?

D. Hurrell: Nun gut. Der globale Krieg gegen den Terror hatte zwei widersprüchliche strategische Eigenschaften. Einerseits großflächige militärische Einsätze (Irak und Afghanistan) und geheime Jagden auf Geister in aller Welt (Al-Qaida). Die Kriege in Irak und Afghanistan waren natürlich daheim unbeliebt, teuer und ohne klar erzielbare Ziele im Hinterkopf. Wenn wir die Nationale Sicherheitsstrategie von 2002 betrachten, dann sprach sie von Terroristen, Massenvernichtungswaffen sowie den Abschied der Vereinigten Staaten von alten Mustern der Großmächtekonkurrenz.

Interessanterweise richtete die Strategie von 2017 ihren Fokus zurück zu einem „Wettbewerb der Großmächte“. Es scheint also, dass der amorphe nichtstaatliche Feind nach dem 11. September 2001 einer Konzentration auf die konventionelleren Herausforderungen gewichen ist. Dazu zählen die Ukraine-Krise, Chinas ständig wachsende militärische Expansion sowie die iranische Penetration verschiedener militärischer Arenen. Die Ära nach 9/11 mag niemals enden, aber der Sicherheitsfokus der USA und ihrer Verbündeten passen sich neuen Umständen an. Der Wettbewerb von Großmächten wird voraussichtlich erneute umfangreiche Militäreinsätze notwendig machen. Aber diese Konfliktzonen werden nicht mehr im Mittleren Osten liegen, sondern in Ostasien. Daher wird Biden sich auch auf eine Wiederherstellung der transatlantischen Beziehungen durch die NATO fokussieren.

Trotzdem besteht der Hunger auf Anti-Terror-Operationen fort wie fortgeführte Einsätze bestimmter westlicher Mächte im Sahel gegen militante Gruppen. Interessanterweise warnt ein aktueller Bulletin von Anti-Terrorismus in USA vor einer erhöhten Bedrohung durch einheimische Terroristen. Fallen die bösen Taten auf den Übeltäter zurück?

Islamische Zeitung: Es heißt manchmal, dass die Natur kein Vakuum erträgt. Was wären Ihrer Meinung die nächsten Schritte in Afghanistan? Kehren die Taliban zu ihrer Politik – wenn es so etwas gibt – aus den 1990er Jahren zurück?

D. Hurrell: Die Taliban erklären, dass ihre Ziele vergleichbar zu denen in den 1990ern seien: die Eroberung Kabuls und die Wiederherstellung des Islamischen Emirats Afghanistan. Die Gruppe erhöht ihre Mullahs zu politischen Führern und ultrakonservative Tendenzen bestehen fort. Ich kann mir vorstellen, dass sie die Praktiken der früheren Hochburgen wiederholen werden wie die Verweigerung der Schulbildung für Frauen und Mädchen sowie andere Vorgehensweisen. Jedoch sind die heutigen Kämpfer eine Generation nach der ursprünglichen Gruppe. Hinweise deuten an, dass die konservativen und traditionellen Tendenzen natürlich – und vielleicht geschwächt – durch zwei Jahrzehnte der Begegnung mit Ideen von außen beeinflusst wurden – inklusive durch andere Afghanen. Reporter in den von den Taliban kontrollierten Gebieten sprechen von „Widersprüchen“: Während sie vor zwanzig Jahren noch Fernsehgeräte an Masten aufhingen, sehen sie jetzt offenbar gerne indische und türkische Seifenopern im Satellitenfernsehen.

Der Taliban-Sprecher Suhail Shaheen sagte, die Gruppierung befürworte eine „offene, inklusive islamische Government“. Es ist nicht vollkommen klar, ob dazu auch Elemente der früheren Regierung gehören sollen. Aber das mag ein Versuch sein, eine internationale Anerkennung zu fördern. Er meinte auch, angesichts ihrer Beliebtheit sei „Legitimität und Anerkennung unser Recht“. Die Taliban bauten ihre Unterstützung im Laufe des Jahrzehnts auf und hielten sie aufrecht, indem sie die Korruption der afghanischen Regierung, einschließlich ihres Versagens bei der Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen, zusammen mit dem Narrativ des Dschihad gegen die ausländischen Eindringlinge betonten. Dieses war Teil des Leims, der sie zusammenhielt.

Vermutlich werden sie sich um Zugang zu gewissen ausländischen Finanzmitteln bemühen, wenn wir in Betracht ziehen, dass die Staatsausgaben bei weitem die Kosten der Finanzierung einer Miliz durch Opiumgewinne überwiegen. Woher wird das Geld zur Aufrechterhaltung von Strom und Bewahrung der Infrastruktur kommen? Das Fundament ihrer Legitimität wird sich vom Kämpfen im Krieg hin zu effektiver Regierung verschieben müssen. Aus diesem Grund glaube ich, wird es keine Rückkehr zur Politik der 1990er geben, sondern einen intelligenteren Ansatz zur Förderung regionaler und später internationaler Anerkennung.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede innerhalb der Organisation. Diese hängen davon ab, welche Fraktion gerade dominiert. Darüber hinaus könnten Versuche zur Erzwingung einer abstoßenden Form von Scharia Aufstände in größeren Städten provozieren, insbesondere in Kabul. Mindestens aber könnte die Zahl von Dissidenten anwachsen, die wegen der Ablehnung ihrer Doktrin die Gruppe sabotieren werden. Gerade eben sahen wir eine kleine Demonstration von Kabuler Frauen, die den Schutz ihrer Rechte forderten. Das ist natürlich eine optimistische Sichtweise. Es kann genauso eine Rückkehr zu den dunklen Tagen der 1990er geben.

Die andere Frage ist, was jetzt mit den Taliban-Gruppen geschieht. Nach zwei Jahrzehnten Korpsgeist und Zusammenhalt, die auf der Grundlage des Widerstands gegen einen ausländischen und sehr spezifischen inländischen Feind beruhten, muss man davon ausgehen, dass die Bindung schwindet, welche die Gruppe zusammenhielt. Das gilt insbesondere, sollten regionale, stammesbedingte und politische Differenzen an Einfluss gewinnen. Ich denke, wir sollten auch in Betracht ziehen, dass es notwendigerweise zu Machtkämpfen kommen wird, wenn die Taliban mit der Regierungsbildung beginnen, um regionaler und später internationale Anerkennung zu erlangen. Sollten sich die mächtigsten politischen Fraktionen daran beteiligen, könnte das zu Machtkämpfen führen.

Islamische Zeitung: Die Blitzoffensive der Taliban wurde als eine Niederlage „des Westens“ beschrieben. Werden China, Russland, Iran und Indien von der neuen Herrschaft in Afghanistan profitieren?

D. Hurrell: Ich denke, es ist vielsagend, dass die Taliban laut Berichten seit dem 16. August die russische und chinesische Botschaft in Kabul bewachen. Diese Vertretungen wurden nicht evakuiert und arbeiten weiter – genauso die des Irans. Diese Länder haben sehr pragmatische Ansätze im Umgang mit dieser militanten Organisation an den Tag gelegt – und tun es weiterhin. Es gibt Berichte, wonach Russland schon vor Jahren seine Fühler in Richtung Taliban ausgestreckt hat. Angeblich soll Moskau Kopfprämien für die Tötung amerikanischer Soldaten gezahlt haben.

Alle Regionalmächte wussten, dass die Amerikaner eines Tages gehen und die Taliban, oder ihre Nachfolger, bleiben würden. Diese ausländischen Akteure werden sich mit den Taliban austauschen, um den Bestand ihrer Interessen zu sichern – insbesondere bei Fragen der Grenzsicherheit. China und Russland scheinen diesbezüglich Signale an die Taliban zu senden. Kürzlich organisierten beide Staaten Militärübungen in Nordwestchina, während Russland am 10. August ebenfalls Übungen mit Truppen aus Tadschikistan und Usbekistan nahe der afghanischen Grenze abhielt. Beide betrachten Afghanistan als ein sehr instabiles Land. Von beiden hört man Besorgnis über die Unsicherheit, die von Afghanistan ausgeht und in ihre Gebiete eindringt, weshalb eine präventive Diplomatie mit der Gruppe als notwendig erscheint.

Zuvor versuchte Peking, Afghanistan über den Bau der Autobahn Peschawar-Kabul zum Teil seines Projekts einer „Neuen Seidenstraße“ (BRI) zu machen. Das würde Afghanistan in das Netzwerk von Autobahnen, Eisenbahnstrecken und Energiepipelines zwischen Pakistan und China einbringen. China wird wahrscheinlich Verhandlungen mit Taliban fortführen. Diese haben angedeutet, chinesische Investitionen wären willkommen und würden beschützt. Russland hat nur geringe ökonomische Interessen im Land. Währenddessen versucht der Iran, sein „Einflussgebiet“ in Afghanistan auszubauen; inklusive unter Afghanen in der Gemeinschaft der schiitischen Hazara.

Für die meisten regionalen Staaten dürfte die nahe Zukunft eine Periode des Krisenmanagements sein und Fallout eines Regierungszusammenbruchs beinhalten. Auch die Frage von Flüchtlingsströmen wird auftreten. Eine andere Sorge ist die wachsende Präsenz des IS/Daesh im Norden. Nachbarstaaten dürften sich mit den Taliban absprechen, um diese Bedrohung zu neutralisieren.

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Die Theorie des Partisanen holt die Taliban ein

(iz). Die Bücher des, wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus verfemten, Staatsrechtlers Carl Schmitt behandeln Kernfragen moderner Ordnungsmodelle. So werden Werke wie „Nomos der Erde“, „Der Begriff des Politischen“ oder „Theorie des Partisanen“ weiterhin zitiert, wenn es um die Einordnung geopolitischer Ereignisse geht. In der letztern Schrift (1962 publiziert) drehte sich sein Denken um die weltpolitische Bedeutung des Partisanen.

In seiner Abhandlung beschreibt der Jurist das alte Paradox, das verhältnismäßig kleine Partisanengruppen unter Ausnutzung der Verhältnisse am Boden große Mengen regulärer Truppen binden. Der Fall Afghanistan sowie Sieg der Taliban zeigen, dass dieses Phänomen immer noch Aktualität beansprucht. In seiner Theorie sind es vier Kriterien, welche die spezifischen Eigenschaften jener Kämpfer aufzeigen: Irregularität, gesteigerte Mobilität, Intensität des politischen Engagements und ihr tellurischer Charakter.

Ihre Partisanentaktik erklärt den schockierenden Erfolg der Taliban. Wobei ihre religiösen (man sagt „mittelalterlich“ geprägten) Überzeugungen die Intensität ihres Kampfes begleiten, wenn auch nicht vollständig erklären können. Bereits ihre Ausrüstung und Umgang mit Kriegsmaterial der neuesten Generation, ihre Fähigkeit zum totalen Krieg und ihr Wille zur Macht ohne Rücksicht auf Verluste zeigen, dass sie Kinder der Moderne sind. Jetzt wird sich zeigen, ob sie zu einer Formensprache finden, die so etwas wie Realpolitik ermöglicht.

Nach Jahrzehnten trostloser Auseinandersetzungen muss der Frieden für alle Beteiligten das primäre Ziel sein. Am Rande könnte der Westen einige seiner eigenen Widersprüche auflösen. Die Irregularität des Taliban-Kampfes hat die Amerikaner zu einer Strategie der Luftschläge und Drohnenkriege verführt und mündete zu Recht in die Debatte, ob diese Mittel – man denke nur an zivile Opfer – vertretbar sind. Auf dem Boden war die westliche Koalition nie in der Lage, das Land nachhaltig zu befrieden.

Jetzt wird sich erweisen, ob es den Taliban gelingt, ihren Status als kämpfende Kriminelle zu überwinden und Ordnungsmacht zu werden. Bisher waren sie nur ein „Unwert“ im westlichen Wertesystem. China und Russland sind hier zu Zugeständnissen bereit. Vermutlich ebenso die Amerikaner, die sie mit ihren Geheimverhandlungen faktisch aufgewertet hatten.

Es gibt eine Passage in „Theorie des Partisanen“, die zumindest aus weltpolitischer Sicht ein wenig Hoffnung auf ein gutes Ende in der Region stiftet. Nach Schmitt hat der Partisan einen wirklichen, aber keinen absoluten Feind. Für ihn folgte daraus eine andere Grenze der Feindschaft aus dem tellurischen Charakter des Irregulären, der ein Stück Erde verteidige, zu dem er eine autochthone Beziehung habe. Nur weil dieser absolute Begriff der Gegnerschaft den ehemaligen Kämpfern fehle, sei überhaupt ein Friedensabkommen im Bereich des Möglichen.

Im Gegensatz zur Pragmatik der Taliban zeigt sich der Terrorismus der IS-Terroristen klarer. Das sind Gruppen, die ebenso irregulär kämpfen, aber keine vergleichbaren politischen Motivationen kennen, sondern ihren religiös verklärten Nihilismus global verbreiten. Der Vernichtungswille dieser Verbrecher ist seiner Natur gemäß absolut, ihr Ziel ist das Chaos, während die Taliban – zumindest rhetorisch – in Kabul so etwas wie eine Ordnung im Rahmen eines lokalen Rechtssystems etablieren. Mit der Trennung von Ordnung und Ortung definierte Schmitt im „Nomos der Erde“ den eigentlichen Wesenszug von Nihilismus. Frei von dieser nihilistischen Seite waren auch die Amerikaner nicht. Man denke nur an die geheimen Lager und rechtsfreien Zonen in der Region sowie in Guantanamo.

Bei aller Vorsicht angesichts der tatsächlichen Ambitionen der Taliban streben sie zumindest bisher kein weltumspannendes Machtsystem unter ihrer Führung an. Es wäre sogar denkbar, dass ironischerweise ausgerechnet die neuen Machthaber in Kabul am internationalen Kampf gegen den Terrorismus teilnehmen könnten. Wenn auch nur, um ihre lokale Macht abzusichern. Zumindest in dieser Hinsicht und aus dem Sicherheitsinteresse Europas heraus betrachtet, wäre dies ein Fortschritt und eine Eindämmung in der Produktion neuer Terroristen.

Ihre Ankündigung, ein „Emirat“ auf Grundlage einer souveränen Nation zu formen, steht zunächst für die Hoffnung, die eigene Irregularität zu verlassen. Sie wären nicht die ersten Kämpfer in der Weltgeschichte, denen die Verwandlung zu Politikern gelingt. Dabei werden sie die Geister, die sie riefen, nicht loslassen. Schon jetzt bilden sich am Hindukusch neue Partisanengruppen gegen ihre Macht. Da jeder Partisan meist mit Hilfe Dritter handelt, wird man hier genau hinsehen müssen, wer diesen Terror von Außen unterstützt.

Bald werden die Talibantruppen offizielle Uniformen anziehen müssen, um von anderen Partisanen unterscheidbar zu werden. Zweifellos werden sie nicht mehr im Schutz der Berge und der Dunkelheit operieren. Ihre Taten im Rahmen einer Regierungsverantwortung werden durch die Macht der sozialen Medien transparent sein. Ihre Souveränität wird eingeschränkt sein. Sie beherrschen nicht den Luftraum. Vermutlich bleiben sie auf den Zugang zu internationalen Finanzsystemen angewiesen, ohne den heute kein Staat zu herrschen vermag. Bisher verfügen die Afghanen nicht einmal über die Ressourcen ihrer Nationalbank, deren Geld in den Vereinigten Staaten lagert.

Man muss allerdings befürchten, dass durch den US-Abzug aus der Region sowie der Ankündigung, mit der Welt in Frieden leben zu wollen, ein Vakuum entsteht, das mit intensiven Freund-Feind-Definitionen in der afghanischen Innenpolitik besetzt wird. Bisher war die politische Dynamik alleine von Feindbildern geprägt. Bleibt dies so, wäre ein Bürgerkrieg keine Überraschung. Der Umgang mit Minderheiten, Frauen und ethnischen Gruppen wird eine Friedensfähigkeit beweisen. 

Der eigene Anspruch, eine „islamische“ Ordnung zu sein, wird ebenso auf dem Prüfstand stehen. Bisher hat kein religiös geprägter Staat der Welt diese Forderung im Feld von Ökonomie und Wirtschaftsrecht umgesetzt. Durchaus möglich, dass die Taliban – wie an anderen Stellen gesehen – alle ökonomischen und sozialen Einrichtungen moderner Staaten nur mit dem Adjektiv „islamisch“ ergänzen und ihre religiöse Seite sich ausschließlich in einem rigiden Kontroll- und Moralsystem über die eigene verarmte Bevölkerung zeigt. Sicher ist nur: Frieden wird sich nicht ohne Gerechtigkeit einstellen.

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Taliban an der Macht verstärken uigurische Befürchtungen

China

(iz). Gerade eben verkündeten die siegreichen Taliban nach dem Abzug des letzten US-amerikanischen Soldaten, Afghanistan sei nun wieder eine „souveräne Nation“. Ihre Übernahme des Landes hat nicht nur zu Fragen geführt, wie die Gruppierung ihre Macht im Inland nutzen wird. Trotz verschiedener Signale an das Umfeld bleibt es offen, wie seine direkten und indirekten Nachbarn auf den jetzigen Sieg reagieren  oder wie die Machthaber in Kabul verfahren werden.

Das erste Mal seit 2001 steht die Hauptstadt unter ihrer Kontrolle. Momentan sind die verschiedenen Kommandoebenen – in Doha, Pakistan sowie Kommandeure im Land – im Prozess einer Regierungsbildung. Jenseits von Ankündigungen in Pressekonferenzen und -gesprächen.

Bisher richtet sich der weltweite Fokus vorrangig – und verständlich – auf die Perspektive von Afghanen in Hinblick auf die neuen Herren in Kabul. Immerhin sind sie direkt von ihrer Politik und ihrem konkreten Verhalten als erste und am stärksten betroffen. Von der deutschen Öffentlichkeit unbeachtet sehen Exiluiguren eine angedeutete Annäherung zwischen Kabul und Peking mit Sorge.

In einem Fachreader der International Crisis Group (ICG) vom 26. August zu Reaktionen und Optionen von Nachbarländern beschäftigt sich die China-Expertin Amanda Hsiao mit einem zukünftigen Verhältnis Pekings zu den Taliban.

Nach Ansicht verschiedener Beobachter und Medien liegen seine Interessen in drei Bereichen: afghanische Rohstoffe, seine Integration in die Road-and-Belt-Initiative (Projekt Neue Seidenstraße) sowie Sorgen um die regionale und innere Sicherheit Chinas. Hsiao betont in ihrem Text vor allem die chinesische Angst vor einem Übergreifen der Unsicherheit – sowohl auf das eigene Gebiet als auch Drohungen gegenüber eigenen Bürgern und Projekten in Pakistan. China setze „vor allem durch diplomatischen und ökonomischen Austausch“ auf die Förderung von Stabilität in Afghanistan.

Darüber hinaus hinterlasse der westliche Rückzug vom Hindukusch ein Vakuum. Das gäbe China mehr Freiraum in Zentralasien. Für Peking könne sich das als zweischneidiges Schwert erweisen. Die Abwesenheit der USA in Afghanistan mache regional Platz. Allerdings stünden Washington nun neue Ressourcen im indopazifischen Raum zur Verfügung, um dort Druck auf China ausüben zu können.

Für Uiguren, insbesondere Exilanten in Zentralasien, ist relevanter, dass Peking  auch in Afghanistan unter dem Deckmantel eines „Kampfes gegen den Terror“ Druck auf die verfolgte Minderheit ausüben werde. Nach Ansichten von Hsiao hätten die Taliban hier beschwichtigende Signale bezüglich der kleinen Extremistenbewegung ETIM (die auf einige hundert Uiguren geschätzt wird) in Afghanistan gesendet.

„Peking wird die Taliban-Regierung anerkennen wollen, wahrscheinlich nachdem oder gleichzeitig mit Pakistan, aber bevor ein westliches Land dies tut, obwohl der Zeitpunkt dieses Schrittes zum Teil davon abhängen könnte, ob es gelingt, von den Taliban zusätzliche Zusicherungen in den beiden Fragen zu erhalten, die ihm am wichtigsten sind“, lautet die Einschätzung der ICG-Expertin.

Am 24. August berichtete der US-amerikanische Sender Radio Free Asia, wie Exiluiguren in Afghanistan auf den Erfolg der Taliban reagieren. Sie seien „voller Schrecken“. Diese Machtübernahme könne bedeuten, dass sie nach China ausgeliefert würden, wo ihnen „harte Strafen“ drohten. Menschenrechtsgruppen befürchteten „das Schlimmste“ für die geschätzten 2.000 Uiguren, die derzeit leben würden.

Nach Angaben eines Mannes, dessen Eltern bereits in Afghanistan geboren wurden, seien die rund 80 uigurischen Familien in der Hauptstadt verwirrt und fürchteten um ihr Leben. Er selbst sei bei einem Gang zum Bäcker von einzelnen Taliban geschlagen worden. Exiluiguren in der Türkei hätten mittlerweile von Kontakten in der nördlichen Stadt Mazar-e-Sharif berichtet, wonach Taliban in Privatwohnungen eindringen und Mädchen entführen würden. „Kasachstan fliegt Kasachen aus Afghanistan, Usbekistan nimmt Usbeken, die Türkei und alle anderen Länder nehmen ihre Bürger mit, aber niemand (…) hilft unst“, sagte ein Kabuler Uigure.

Bereits am 11. August veröffentlichte das Uyghur Human Rights Project (UHRP) einen neuen Bericht, wonach Pakistan und die nun gestürzte afghanische Regierung „Komplizen“ Pekings in der grenzübergreifenden Unterdrückung von Uiguren seien. Das chinesische Vorgehen gegen Exilgemeinschaften in den beiden Ländern würde die Menschenrechte und weltweite Standards verletzen, so die Autoren.

Seit 1990 gab es 60 Ausweisungen von Uiguren durch pakistanische Sicherheitskräfte im Windschatten des internationalen Antiterror-Kriegs. China hält den Druck auf Exiluiguren aufrecht, die über Pakistan, Afghanistan und andere Staaten in den Westen fliehen. In den letzten 10-15 Jahren soll sich die Stärke der dortigen Gemeinschaft von rund 3.000 Menschen auf bloß 100 Personen reduziert haben.

„Pakistan und Afghanistan werden zu chinesischen Klientenstaaten“, sagte UHRP-Direktor Ömer Kanat. „Auf Geheiß der chinesischen Behörden werden in Islamabad und Kabul gefährdete Uiguren schikaniert, inhaftiert und deportiert. Einige der ins Visier genommenen Uiguren sind in China gefoltert und hingerichtet worden, während andere die Zerschlagung ihrer Familien und die rigorose Überwachung ihrer Gemeinschaften erlebt haben. Chinas wirtschaftliche Großzügigkeit kann jede Art von Komplizenschaft bei der Gewalt gegen Uiguren erkaufen.“

Für das Fachmedium „Bitterwinter“ beschäftigte sich die Analystin Ruth Ingram mit den Auswirkungen der Machtübernahme für Uiguren in der Region. Bereits vor ihrem Sieg hätten die Taliban gegenüber Peking versprochen, dass sie keinen antichinesischen Terror auf ihrem Gebiet zulassen würden. Sie würden bei der Abschiebung von „problematischen“ Uiguren kooperieren. Damit hätten sie der Kommunistischen Partei eine weitere Waffe für ihr Arsenal im sogenannten Krieg gegen den Terror gegeben. Dieser verlasse sich auf die Zusammenarbeit mit engsten Nachbarn und „dem Schweigen der muslimischen Staaten“.

Exiluigurische Organisationen sowie westliche Forscher hätten seit Jahren dokumentiert, dass der Verweis auf die Terrororganisation ETIM, wenn es sie denn überhaupt gäbe, keine faire Repräsentation von Uiguren insgesamt sei. Und Uiguren sollten nicht durch Aktionen geschmäht werden, welch die ETIM in ihrem Namen beginge.

Die Uiguren seien zu den Opferlämmern auf dem Altar von Pekings unaufhaltsamem wirtschaftlichen und politischen Marsch nach Westen geworden. Die KPCh habe sich Loyalität, Schweigen und Komplizenschaft mit Versprechungen für Hilfe, Wohlstand und Schutz erkauft. „Pakistans unerschütterlicher chinesischer Verbündeter Imran Khan leugnet jede Kenntnis von der Notlage der Uiguren vor seiner Haustür, und das neue Taliban-Emirat ist bereit, seinen Stolz zugunsten von Bergen von Geld für Bau- und Schürfrechte herunterzuschlucken“, so Ingram.

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Weltweite Hilfsappelle für Menschen in Afghanistan

Auch am Wochenende haben Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und der Kirche weiter Hilfe für die Menschen in Afghanistan gefordert. Der Blick richtete sich insbesondere auf Frauen und Kinder. Zudem wurden Rufe zu einer Erleichterung von Asylverfahren laut. Amnesty International und Reporter ohne Grenzen forderten Visa für Gefährdete.

Bonn (KNA). „Wir können in historischen Momenten wie diesen nicht gleichgültig bleiben“, mahnte Papst Franziskus beim Mittagsgebet auf dem Petersplatz am 29. August. Die leidgeprüfte Bevölkerung benötige dringend Unterstützung – vor allem Frauen und Kinder. Er nehme großen Anteil am Schicksal der Menschen und gedenke der Opfer des verheerenden Terroranschlags in Kabul vom Donnerstag.

Die von Franziskus angestoßene Solidaritätsinitiative „Economy of Francesco“ rief zudem einen internationalen „Marsch für die Rechte afghanischer Frauen“ ins Leben. Laut Vatican News beteiligten sich am Samstag Aktivisten in mehreren Städten und Ländern. Das Vorrücken der militant-islamistischen Taliban habe laut UN nicht nur zu willkürlichen Tötungen geführt, erläuterte Olena Komisarenko, Mitglied von „Economy of Francesco“. Viele Frauen seien plötzlich verschwunden oder eingesperrt worden.

Das UN-Flüchtlingshilfwerk rief die Nachbarstaaten von Afghanistan zu Solidarität auf. Mehr als eine halbe Million Afghanen, die Mehrheit davon Frauen und Kinder, seien aufgrund der in den vergangenen Wochen gestiegenen Gewalt und Unsicherheit auf der Flucht, twitterte das UNHCR am gleichen Tag. Die Nachbarländer sollten deswegen die Grenzen offenhalten. „Die Möglichkeit, Sicherheit zu suchen, kann das Leben unzähliger Zivilisten retten.“

Die UNHCR-Vertreterin in Deutschland, Katharina Lumpp forderte, die Bundesregierung müsse mit Blick auf Flüchtlinge aus Afghanistan Asylverfahren und den Familiennachzug erleichtern. Asyl für afghanische Flüchtlinge treffe derzeit vor allem die Nachbarländer des asiatischen Staates, in denen schon seit Jahrzehnten 90 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge lebten, sagte Lumpp der „Augsburger Allgemeinen“ (Montag). „Daher ist es auch so wichtig, sich solidarisch zu zeigen, in Worten und Taten.“

Ein Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am 28. August nach einem Telefonat der Kanzlerin mit dem britischen Premierminister Boris Johnson und dem niederländischen Premierminister Mark Rutte, dass sich alle einig seien, „dass der Ausreise von Staatsangehörigen, Ortskräften und schutzbedürftigen Menschen aus Afghanistan auch weiterhin höchste Priorität zukommt, ebenso wie der humanitären Versorgung der Bevölkerung und der Flüchtlinge in der Region.“

Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärte am 20. August anlässlich seiner Reise in die Region um Afghanistan: „Deutschlands Engagement endet nicht mit dem Abschluss der militärischen Evakuierungsmission. Wir konnten in den vergangenen Wochen auf internationale Zusammenarbeit und Unterstützung zählen.“ Man wollte sich mit den Nachbarstaaten Afghanistans darüber verständigen, „wie Deutsche, unsere Ortskräfte und weitere schutzbedürftige Afghaninnen und Afghanen schnell und sicher nach Deutschland gelangen können“.

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Tausende Afghanen stehen auf Wartelisten für Familiennachzug

Berlin (KNA). Mehr als 4.000 afghanische Staatsbürger haben vor Beginn der Luftbrücke in Kabul auf einen Termin in deutschen Auslandsvertretungen für ein Visum zum Familiennachzug gewartet. Mit Stand 16. August hätten sich „auf den Terminlisten der Botschaften für den Familiennachzug insgesamt für die Beantragung in Islamabad 2.775 Personen (davon 791 zu subsidiär Schutzberechtigten) und für Neu Delhi 1.388 Personen (davon 196 zu subsidiär Schutzberechtigten) registriert“, hieß es auf Nachfrage der Zeitungen der Funke Mediengruppe aus dem Auswärtigen Amt.

Insgesamt warteten demnach Mitte August noch 4.163 afghanische Staatsbürger auf einen Termin zur Familienzusammenführung. Das ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu Anfang Mai 2021. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion warteten damals in Islamabad knapp 1.879 Afghanen auf einen Termin für den Familiennachzug, in Neu Delhi waren es 1.138.

Unklar ist, wie viele dieser Menschen in den vergangenen Tagen mit Hilfe von internationalen Rettungsfliegern aus Afghanistan ausgeflogen worden sind. In Deutschland anerkannte Flüchtlinge haben grundsätzlich das Recht, ihre engsten Angehörigen, etwa Ehegatten und Kinder, über das Verfahren zum Familiennachzug nach Deutschland zu holen.

Seit dem Terroranschlag auf die deutsche Botschaft 2017 in Kabul laufen die Visaverfahren für afghanische Staatsangehörige zum Familiennachzug in den deutschen Auslandsvertretungen in Pakistan und Indien. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion beträgt die Wartezeit für einen Termin zur Familienzusammenführung etwa im pakistanischen Islamabad sowie im indischen Neu Delhi „über ein Jahr“.

Außenminister Heiko Maas (SPD) hat angekündigt, in den kommenden Tagen in die Region zu reisen. Maas hatte unlängst mit Blick auf die dramatische Lage in Afghanistan zudem versprochen, die „Kapazitäten unserer Visastellen in Islamabad, Neu Delhi, Taschkent“ aufzustocken und die „Möglichkeiten der zentralen Visabearbeitung im Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten voll zu nutzen“.a