Debatte: Worüber wir 2023 (noch) nicht diskutieren

debatte

Innermuslimische Debatten: Es gibt Themen, die in der Community nicht ausreichend beleuchtet werden.

(iz). Es gab eine Zeit, in der sich innermuslimische Gespräche und Debatten vorrangig um „das Tuch“, um erlaubte und verbotene Lebensmittel und um Details der Glaubensfrage drehten. Das hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten durchaus geändert.

Das heißt nicht notwendigerweise, dass sie heute ausreichend an den Prioritäten von Allahs Din und unserer Situation in diesem Ort und dieser Zeit ausgerichtet sind.

umweltbewusst moschee

Foto: W. Dechau

Debatte: Es bleiben dunkle Flecken

Immer noch beklagen Muslime den abgehobenen Charakter mancher Khutba vor dem Freitagsgebet, die nichts mit ihren konkreten Problemen vor Ort zu tun haben. Auch heute noch fokussieren gerade die Diskurse auf Bundesebene eine erhebliche Energie auf repräsentative Fragen.

Andere essenzielle Herausforderungen dieser Zeit geraten dabei immer noch in den Hintergrund. Dazu gehört beispielsweise die Frage nach der Zakat. Auch wenn hierbei mittlerweile neue Ansätze gesucht werden, gilt die dritte Säule von Allahs Din mehrheitlich weiter als verlängerte Entwicklungshilfe, Pflicht-Spende oder als Support für muslimische Strukturen. Ihr Potenzial für die innerdeutsche Transformation bleibt weiterhin unterbeleuchtet.

Genauso überlebenswichtig ist die Entwicklung, Umarmung und Förderung neuer Generationen und bisher übersehener Segmente in der Community. Für eine dynamische Zukunft brauchen Deutschlands Muslime nicht nur funktionierende Strukturen, sondern auch die Menschen dazu.

sadaqa

Foto: Sufra SW London

Wie gehen wir mit gesellschaftlicher Armut um?

Immer mehr Menschen in Deutschland sind unverschuldet von Lebensmittelhilfen und Spenden wie denen vom Netzwerk der „Tafeln“ abhängig.

Muslime und ihre Gemeinschaften haben das Potenzial und die Großzügigkeit, hier helfende Angebote zu machen. Statistiken im Westen zeigen, dass unsere Communitys durchschnittlich hilfsbereiter sind als andere.

Tanju Doğanay (Mitte) im Gespräch mit anderen Aktiven von NourEnergy. Foto: NourEnergy

Mehr Nachhaltigkeit für unsere Moscheen

Es gibt in Deutschland derzeit rund 2.800 Gebetsräume, Moscheen und andere muslimische Einrichtungen. Wie alle anderen müssen sie spätestens seit Ende 2021 mit hohen Energiekosten umgehen.

Das wird sie zukünftig zum Umstieg auf erneuerbare Energien zwingen. Initiativen wie NourEnergy e.V. bieten hier Beratung und Projektplanung an.

Foto: Young Schura Niedersachsen

Woher kommen unsere zukünftigen Eliten?

Verschiedene Elemente der Community wie Jugendliche, Frauen, Konvertiten, Juristen oder IT-Profis verfügen über enorme Potenziale. Das zeigt sich an den vielen Projekten und Vereinen, die von ihnen gegründet werden.

Bisher fehlen Mechanismen und der Wille, ihre Kompetenzen für die Gemeinschaft zu entwickeln. Was es braucht, sind konzentriertes Mentoring und der Wille, sie in bestehende Strukturen einzubinden.

Kommentar: Das Thema „Islamgesetz“ wird in vielen Foren heiß diskutiert

„Im Ergebnis besteht bis heute keine offizielle Vertretung der Muslime in Berlin. Im Hintergrund wird hinter vorgehaltener Hand schon die Auflösung des Koordinationsrates besprochen. Erklärt wird dies der staunenden Basis nicht. (…) Hier ist also beim Agenda-Setting eine klare Markierung erforderlich; also das Bekenntnis, nur für sich oder eben für die Muslime zu sprechen.“

Berlin (iz). Wie so oft im muslimischen Leben geht es bei Debatten über die Zukunft des Islam in Deutschland um die Suche nach dem Mittelweg. Dieser, so lehrt es die Tradition, bildet sich aus dem aktiven, gemeinschaftlichen Zusammenleben; immer mit dem Ziel, extreme Einzel- und Mindermeinungen im Interesse des Großen und Ganzen eher auszusondern. Natürlich werden auch Individualisten oder Vertreter kleinerer Gemeinschaften einsehen müssen, dass gegenüber dem Staat eigene Interessen am besten dadurch durchgesetzt werden können, wenn Muslime im Idealfall möglichst geschlossen auftreten.

Nach dieser Logik ist ein Koordinationsrat der Muslime, der unsere Position nach außen hin vertritt, eine gute Sache. Soweit die Theorie. In der Praxis ist er an den Machtambitionen von Verbänden bisher kläglich gescheitert. Man ist sich nicht grün; zum einen, weil sich große Verbände ein Veto ausbedingen; zum anderen, weil kleinere so tun könnten, als seien sie befugt, für die Muslime insgesamt zu sprechen oder zu handeln.

Als Folge besteht bis heute keine offizielle Vertretung der Muslime in Berlin. Im Hintergrund wird hinter vorgehaltener Hand schon die Auflösung des Koordinationsrates besprochen. Erklärt wird dies der staunenden Basis aber bisher nicht.

Die konkrete Debatte über ein mögliches Islamgesetz nach österreichischem Vorbild demonstriert ein anderes Dilemma. Es geht hier zunächst und in erster Linie um die innerislamische Meinungsfindung. Vertreter, die über entsprechenden Zugang zu Medien verfügen, neigen an diesem Punkt dazu, Positionen öffentlich zu definieren, ohne überhaupt die Basis bei der Meinungsfindung einzubeziehen. Hier ist also beim „Agenda-Setting“ eine deutliche Markierung erforderlich; also das Bekenntnis, nur für sich, oder eben für die Muslime, zu sprechen. In Sachen Islamgesetz gibt es wohl noch keinen muslimischen Verband, der hier eine Mehrheit seiner Mitglieder überhaupt befragt hätte.

Fakt ist, dass die Verbände noch immer keine zeitgemäße Organisationsstruktur gefunden haben. Im Moment funktionieren sie weder eindeutig nach demokratischen, noch nach islamischen Kriterien; sind sie doch ein Ergebnis des Vereinsrechts der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie haben kein effektives Verfahren anzubieten, das Wissen der Mitglieder einzubeziehen. Noch verfügen sie – um ein anderes Beispiel anzuführen – über eine klare Linie zur Erhebung und Verteilung der Zakat.

Viele junge Muslime diskutieren zu Recht über die Quintessenz, die sich aus dieser Lage ergibt. Sie stellen sich dem Fakt, dass sie hier in Deutschland Bürger sind und dem Eingeständnis, dass die romantische Rückbindung an andere Kulturen kaum noch überzeugt. Sie leben hier, wollen mitreden und können mit der „hemdsärmeligen“ Art mancher Führungskader wenig anfangen. Sie suchen nach einem Mittelweg, der weder den Individualismus als die letzte Lösung verherrlicht, aber auch nicht die muslimische Organisationen per se verurteilt.

Seien wir ehrlich: Noch wurde der beste Weg nicht gefunden. Wir wissen im Moment nur, dass im Endergebnis unsere Struktur aus Moscheegemeinden, der NGOs, der Zivilgesellschaft weder eine „Kirche“, noch ein kaltes „Verwaltungsgebäude“ sein darf. Es gibt gute Gründe, die Dezentralisierung der Muslime dem Modell starrer Zentralisierung vorzuziehen. Es gilt, den Kern der muslimischen Infrastruktur aufzubauen, aber auch die Politisierung der Religion zu verhindern.

Wichtig wird nu eine ehrliche innermuslimische Debatte – nicht die Frequenz von Interviews oder das peinliche Kalkül der Medienreichweite. Die Frage nach der Imam-Ausbildung ist ein Test für diese Debattenkultur. Sie sollen künftig Deutsch sprechen, möglichst auch Arabisch. Aber vor allem sollen sie die islamische Lehre glaubwürdig vertreten und in keiner Abhängigkeit zu irgendeinem Staat stehen. Im Ergebnis aber sollte jede Moscheegemeinde natürlich völlig frei und ohne Bevormundung entscheiden können, welchem Imam sie am Ende vertraut.

Die Fragen sind auf dem Tisch: Wie organisieren wir uns – modern aber nicht traditionslos? Wie kommen wir zusammen und stärken die Wahrung unserer Rechte? Was sind innermuslimische Angelegenheiten, die den Staat nichts angehen? An welcher Stelle aber können wir mit Behörden aktiv, besser und effektiver zusammenarbeiten? Und – auch nicht unwichtig: Warum scheuen sich eigentlich so viele Verbandsvertreter, die muslimische Basis zu befragen?

Die IZ wird sich in ihrer kommenden Ausgabe (April 2015) mit mehreren Beiträgen diesem Thema widmen.