Hintergrund: Am Tagestag des Solinger Brandanschlages geht es „Anne Will“ um Polarisierung

(iz). Hunderte Muslime wehren sich mit einem auf Facebook, von der Islamwissenschaftlerin Caroline Neumüller verfassten öffentlichen Brief an die Redaktion „Anne Will“ gegen die ARD-Talkshow am gestrigen Abend. Der Moderatorin wird vorgeworfen, am 20. Jahrestag der Solinger Brandanschläge auf das falsche Thema – zudem in reißerischer Aufmachung – gesetzt zu haben.

Hierbei ging es in der Sendung, wie die einseitige Auswahl der polarisierenden Gäste zeigt, nicht wirklich um eine sachliche Aufarbeitung des Themas „Extremismus“. Die Mehrheit der Muslime sehen sich in dem Format wieder einmal durch Außenseiter nicht adäquat repräsentiert.

Auch auf der IZ Facebookseite wird heftig diskutiert:
Blogger Tarek X mahnt die Muslime dabei vor zu viel Aufregung: „Der moderne Muslim ist seltsam. Er schaut sich Talkshows an mit Gästen wie grimmigen Salafis, liberalen Traumtänzern und Islamkritikern, wo er doch selbst weiß, wie sehr er sich aufregen wird.“

An anderer Stelle heißt es über das Konzept der ARD-Sendung:
„Wer nur Extreme präsentiert, stellt sicher, dass sich auch nur einige extreme Menschen für den Islam interessieren. Man sichert so die Mitte ab, sozusagen. Das allgemeine Gerede soll wohl die eigentliche Essenz des Islam verschütten, man muss ja heute beinahe Archäologe sein um noch die inhaltliche Bedeutung des Islam freizulegen.”

Viele weitere Beiträge beklagen die Präsentation extremer Muslime im Fernsehen, die die positive Realität von Millionen Muslime in Deutschland immer wieder in Frage stellen.

Wer mit diskutieren will, bitte einfach auf der FB-Seite der IZ anmelden. Hier geht's zur Facebook-Seite der Islamischen Zeitung.

Anne Wills Scheitern vor der Kamera

„Was aber in Anbetracht des jüngsten Londoner-Massakers in den deutschsprachigen Medien so gut wie nie erwähnt wurde, natürlich auch nicht bei Anne Will, ist die Tatsache, dass der 75-jähriger Mann, der äußerlich eindeutig als praktizierender Muslim erkennbar war, einige Wochen vor der Ermordung des britischen Soldaten nachts auf offener Straße massakriert wurde.“

(Emran Feroz). Am 29.05.1993 wurden in Solingen fünf Menschen türkischer Abstammung ermordet. Die Täter waren zwischen 16 und 23 Jahren alt und aus der örtlichen Neonazi-Szene. Stattdessen wurde am 20. Jahrestag dieses schrecklichen Ereignisses ein weiteres Mal über „muslimische Radikale“ diskutiert. Anne Will hat es vorgemacht.

„Allahs Krieger im Westen – wie gefährlich sind radikale Muslime?“ – darüber wollte Anne Will am vergangenen Mittwochabend diskutieren. Von sachlicher Argumentation fehlte allerdings jede Spur. Stattdessen wurde zum mittlerweile x-ten Mal dank einer deutschen Polit-Talkshow Angst geschürt, während man jegliche Fakten beiseite drängte. Wie schon ihre Kollegen Jauch und Maischberger entpuppte sich dieses Mal Moderatorin Will als Vorreitern der Islamophobie. Die stets eingespielten Sequenzen von gewalttätigen, deutschen Salafisten und den Mördern von London erfüllten ihren Zweck und verliehen der Sendung die gewollte Angst-Stimmung.

Ein Blick auf die Gästeliste hat im Vorfeld schon gereicht, um zu erkennen, dass sich das Einschalten des Fernsehers definitiv nicht lohnen wird. Die Schuld daran trug nicht nur CDU-Mann Joachim Herrmann, der es aufgrund des anstehenden Wahlkampfs vorzog, wie seine anderen Parteikollegen vor der Kamera zu polarisieren und populistische Sprüche von sich zu geben, sondern auch die allseits bekannte Necla Kelek. Diese agierte ein weiteres Mal als „Expertin“, während mittlerweile in Fachkreisen sogar bekannt ist, dass ihre zahlreichen Bücher weitestgehend darauf abzielen, antimuslimische Ressentiments zu schüren.

Die Schwerpunkte der Sendung lagen unter anderem auf den Bombenanschlägen von Boston und dem jüngsten Massaker in London. Diesbezüglich gab es schon im Vorfeld Kritik. Es ist nämlich mehr als fragwürdig, warum eine deutsche Talkshow sich diesem Thema widmet, während andere Schwerpunkte auf der Tagesordnung stehen. Genau vor zwanzig Jahren wurden in Solingen fünf Menschen, zwei Frauen und drei Mädchen, Opfer eines rechtsextremen Terroranschlags.

Obwohl Thomas Oppermann, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, daran erinnerte und auch sonst so ziemlich der Einzige war, der versuchte, die Diskussion ins „richtige Licht“ zu rücken, wurde der rechtsextreme Terror, der weitaus mehr Menschen in Deutschland zu Opfern gemacht hat als jeder Salafist, nicht zum Thema der Sendung.

Diese Gefahr wird weiterhin verdrängt und ignoriert, denn sie passt nicht in die politische Agenda gewisser Kreise. Es wird nicht darüber diskutiert, dass in den letzten Tagen und Wochen auf Englands Straßen nachts Muslime von Mitgliedern der rechtsextremen English Defense League gejagt wurden und dass das sogenannte „Paki-Bashing“ dort seit eh und je zur Tagesordnung gehört. Es wurde auch nicht erwähnt, dass nach dem Massaker von London erneut Moscheen angegriffen wurden.

Was aber in Anbetracht des jüngsten Londoner-Massakers in den deutschsprachigen Medien so gut wie nie erwähnt wurde, natürlich auch nicht bei Anne Will, ist die Tatsache, dass der 75-jähriger Mann, der äußerlich eindeutig als praktizierender Muslim erkennbar war, einige Wochen vor der Ermordung des britischen Soldaten nachts auf offener Straße massakriert wurde. Der mehrfache Familien- und Großvater wurde nachts kurz nach dem Verlassen einer Moschee hinterrücks ermordet. Berichten zufolge wurde ihm mehrmals in den Rücken gestochen. Der Täter wurde bis heute nicht gefasst und stammt höchstwahrscheinlich aus einem rechtsextremen Umfeld.

Bei Anne Will ging es jedoch nicht um Fakten und um eine differenzierte Auseinandersetzung. Allein der polarisierende Titel der Sendung sagte mehr als genug aus. Wie kann man davon ausgehen, dass irgendwelche verrückten Mörder tatsächlich „Allahs Krieger“ sind? Dies stellte unter anderem auch der eingeladene Dokumentarfilmer Asiem El Defraoui fest. Diese Frage blieb allerdings unbeantwortet.

Emran Feroz ist ein junger Autor und Blogger, der über den Nahen Osten, Islam und Migration schreibt. Er veröffentlichte unter anderem in renommierten Medien wie „zenith-online“, „Freitag“, der „jungen Welt“ und jetzt auch in der Islamischen Zeitung.

Kommentar: Nur Jürgen Todenhöfer stellt unangenehme Fragen in Sachen Afghanistan. Von Khalil Breuer

(iz). Es ist der wohl der langwierigste und sogleich umstrittenste Einsatz der Bundeswehr seit dem 2. Weltkrieg: Afghanistan. Der Krieg am Hindukusch und seine geopolitischen Implikationen waren ein Mittwoch-Abend lang Thema bei der ARD. In einem schlichten „Kriegsfilm“ sollte zunächst das Dilemma der Soldaten, zwischen den humanistischen Zielen des Einsatzes und der üblichen Trübsal des militärischen Alltags, verdeutlicht werden.

Auch Muslime gab es in dem Film, in zwei groben Varianten, sie waren anwesend als blutrünstig-grausame Schar der Taliban oder als das ansehnlich integrierte Individuum, dem muslimischen Helden der Bundeswehr. Der Rest der Afghanen: Arme Rückständige, die endlich aus dem Mittelalter abgeholt werden müssen, modernisiert und durch uns schnell in einem Nationalstaat zusammengefasst werden wollen.

Die Moderatorin Anne Will stellte am Schluss des Themenabends der ARD die eigentliche Grundsatzfrage: „War es den Einsatz bisher wert?” In erster Linie ging es ihr dabei „theoretisch“ um eine mehr oder wenige schonungslose Kriegsbilanz. Schlimm genug: Der Einsatz hat bereits einige Dutzenden Männer der Bundeswehr das Leben gekostet. Die Frage, welche Firmen von dem langjährigen Krieg unter Anderem ökonomisch profitieren, wurde bei der Bilanz mehr oder weniger ausgespart. Natürlich gab es auch so Grund genug für eine harte „moralische“ Auseinandersetzung zwischen den Männern zu Hause: Bürger, mit und ohne Uniform, Pfarrer, Moralisten, Politiker.

Vor allem in der Person des bedächtigen Verteidigungsminister, de Maiziere, und des streitbaren Experten Todenhöfer wäre bei Anne Will so die Anlage für ein ernstes, notwendiges Wortgefecht, gegeben gewesen; dachte man zumindest zu Beginn der Sendung. Allerdings – wie immer bei dieser Art Talkshow – die Runde wurde durch die Regie bewusst „entschärft“, im Grunde verwässert, – durch ein paar Gäste zuviel und einigem planlosen Gerede. Die wesentlichen Fragen wurden so geschickt an den Rand gedrängt.

Im Kern war die Runde sich dabei ohne Ausnahme einig, dass, der im Einspieler des Reformkatholiken Drewermann geäußerte polemische Vorwurf, die Soldaten seien „bezahlte Auftragsmörder“ falsch sei. Die eigentliche Verantwortung, so war man sich einig, tragen weniger die Soldaten vor Ort, die ihren Kopf hinhalten, als die über die Ideale des Krieges schwadronierenden Politiker an der Heimatfront. Ja auch dies wurde an dem Abend klar: Der Einsatz der Bundeswehr – fern von den Schreibtischen in Berlin – ist noch immer sehr ernst. Die anwesende Frau eines Soldaten schilderte durchaus eindrucksvoll die traumatischen Folgen des Einsatzes für viele Soldaten der deutschen Armee.

Aber, die Grundfrage an den Verteidigungsminister nach der wirklichen Bilanz des Krieges und – nebenbei erwähnt – des Sinns der Traumatisierung der afghanischen Zivilbevölkerung im Namen der Terrorbekämpfung – sei es durch jahrelanges Flächenbombardement oder des Einsatzes von, per Kopfdruck gesteuerter High Tech-Drohnen, die aber, menschlich gesehen, eher an eine mittelalterlich anmutenden brutalen Strategie erinnern – stellte schlussendlich und gewohnt hartnäckig nur Jürgen Jürgen Todenhöfer. Also kein aktiver Politiker.

Eindrücklich sprach er nicht nur den Parteisoldaten und Bündnispolitiker, sondern den Verantwortung tragenden Menschen de Maiziere an. Warum wurden praktisch alle Kriegsfolgen verfehlt? Warum geht und ging es wirklich? Wie kann ein führender Bundeswehrsoldat nach seinem Befehl, der trotz evidenter Fehler durchgeführt wurde und über 100 unschuldiger Afghanen das Leben gekostet hat, sogar durch den Minister befördert werden? Unangenehme Fragen, die den Minister weiter gehörig ins Schwitzen gebracht hätten, wäre da nicht Anne Will. Immerhin es blieb noch Zeit für eine kluge Nachfrage in Sachen „Beförderung“, die de Maiziere mit einer  „so ist das eben, Basta“-Position kühl abprallen lies. 

Die von Jürgen Todenhöfer geforderte Wahrheitskommission nahm die Runde kaum ernst. Warum auch die Wahrheit ergründen? Es muss einfach weitergehen! De Maziere relativierte bereits wortkarg in Nebensätzen die Abzugspläne für das Jahr 2014, denn – ohne dass dies ausdrücklich problematisiert wurde – die profanen geopolitischen Interessen des Westens in der Region sollen langfristig bestehen bleiben.