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Viel mehr antisemitische und islamfeindliche Straftaten

Solingen Feuer Brandstiftung islamfeindlich

Der Terror vom 7. Oktober und 30.000 getötete Zivilisten in Gaza wirken auch in Deutschland nach. Antisemitische und islamfeindliche Verbrechen nehmen zu.

Berlin (dpa). Die Zahl der antisemitisch motivierten Straftaten ist in den vergangenen Monaten enorm angestiegen. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Frage des Unionsabgeordneten Christoph de Vries (CDU) hervorgeht, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, haben sich die islamfeindlichen Straftaten im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt.

Antisemitische und islamfeindliche Straftaten als Kriegsfolge

Hintergrund für beide Entwicklungen dürften der terroristische Angriff der Hamas in Israel am 7. Oktober und der kurz darauf begonnene Krieg im palästinensischen Gazastreifen sein.

Die Polizei registrierte in Deutschland demnach im Jahr 2023 bundesweit 5154 Taten, bei denen ein antisemitisches Motiv vermutet wird – deutlich mehr als im Jahr zuvor. 2022 war die Zahl der erfassten antisemitischen Delikte um knapp 13 Prozent auf 2641 Straftaten gesunken.

Polizeischutz vor einer Synagoge in Berlin. (Foto: Tobias Arhelger, Shutterstock)

In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden den Angaben zufolge 765 antisemitische Straftaten gemeldet.

Als islamfeindlich wurden 2023 bundesweit 1464 Straftaten klassifiziert – nach 610 islamfeindlich motivierten Taten im Vorjahr. Im ersten Quartal 2024 zählte die Polizei 137 islamfeindliche Straftaten.

Statistiken haben noch vorläufigen Charakter

Die Bundesregierung wies in ihrer Antwort darauf hin, dass die Polizeistatistik zur Politisch motivierten Kriminalität für 2023 und das laufende Jahr noch vorläufigen Charakter haben, weil sich durch Nachmeldungen beziehungsweise neue Erkenntnisse noch Änderungen ergeben können.

Blickt man auf, die Zahl der Menschen, die bei antisemitisch oder islamfeindlich motivierten Straftaten verletzt wurden, zeigt sich, dass zwar deutlich mehr antisemitische als islamfeindliche Taten registriert wurden. Die Zahl der Verletzten war im vergangenen Jahr jedoch in beiden Fallkonstellationen ähnlich.

Faeser DIK Rechtsextremisten Geld

Foto: Deutscher Bundestag / Leon Kügeler / photothek

So wurden 2023 laut Statistik 56 Menschen bei antisemitischen Taten verletzt. Im ersten Quartal dieses Jahres gab es sieben Verletzte. Bei islamfeindlichen Straftaten gab es im vergangenen Jahr 53 Verletzte in Deutschland. In den ersten drei Monaten dieses Jahres zählte die Polizei hier neun Verletzte.

„Die Bekämpfung des Antisemitismus erfordert ganz konkrete Maßnahmen und nicht die ständige Wiederholung hohler Phrasen ohne jede gesetzgeberische Konsequenz“, sagte Innenpolitiker de Vries. „Unser Ziel ist ein parteiübergreifender Maßnahmenkatalog mit den Ampel-Fraktionen.“

Die Union hatte in der vergangenen Woche mehrere Anträge gestellt, die aus ihrer Sicht der Bekämpfung von Antisemitismus dienen. Unter anderem schlug die Fraktion vor, die sogenannte Sympathiewerbung für kriminelle und terroristische Vereinigungen wieder unter Strafe zu stellen.

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Kurzmeldungen Deutschland März 2024 (Nr. 345)

kurzmeldungen

Scholz ruft zu Völkerrecht auf BERLIN/MÜNCHEN (Agenturen). Angesichts der wachsenden Besorgnis über die geplante israelische Bodenoperation in der Stadt Rafah hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 17. Februar Tel Aviv zur […]

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Debatte um Rauswurf von Student nach Angriff

Streit Rauswurf Student Antisemitismus Debatte

Die Freie Universität Berlin wird dafür kritisiert, zu tolerant im Umgang mit Antisemitismus gewesen zu sein. Die Debatte über zukünftige Massnahmen bei Antisemitismus ist in vollem Gange.

(dpa/IZ) Nach dem mutmaßlichen Angriff auf einen jüdischen Studenten in Berlin steht der Freien Universität (FU) eine Kundgebung unter dem Titel „Solidarität mit Palästina“ bevor. Eine Privatperson habe für Donnerstag 100 Teilnehmer vor der großen Unimensa angemeldet, sagte eine Polizeisprecherin am Mittwoch. Die Frage, wie die FU mit der angemeldeten Demo umgehen will, ließ die Uni auf Anfrage zunächst offen.

Die Universität steht von mehreren Seiten in der Kritik, nachdem der 30-jährige jüdische Student Lahav Shapira am Wochenende mit Knochenbrüchen im Gesicht ins Krankenhaus gekommen war. Ein 23-jähriger propalästinensischer Kommilitone soll ihn im Ausgehviertel in Berlin-Mitte geschlagen und getreten haben.

Forderung nach Exmatrikulation

Forderungen, etwa vom Zentralrat der Juden nach einer Exmatrikulation des Studenten, der seinen jüdischen Kommilitonen verprügelt haben soll, sieht Berlins Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra mit Skepsis. „Es ist ein hohes Grundrecht, das hier betroffen wäre von einer Exmatrikulation“, sagte die SPD-Politikerin dem RBB. Exmatrikulationen aus politischen Gründen lehne sie auch grundsätzlich ab. Wie die FU mitgeteilt hatte, ist nach derzeitiger Rechtslage in Berlin eine Exmatrikulation von Studierenden aus Ordnungsgründen nicht möglich.

FU-Präsident Günter Ziegler sagte: „Ich habe den Eindruck, dass wir nachschärfen müssen, zumindest in den Hilfsmitteln, die wir haben. Und dass das, was im Moment besteht, eben ein Hausverbot begrenzt auf drei Monate, möglicherweise für die Situationen, die wir haben, nicht reichen wird.“ Der wissenschaftspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Adrian Grasse, will sich für eine Wiedereinsetzung des Ordnungsrechts starkmachen. Es brauche das Instrument der Exmatrikulation, um jüdische Studentinnen und Studenten zu schützen und deutlich zu machen, dass Antisemitismus an unseren Hochschulen keinen Platz habe.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte dem „Tagesspiegel“, die Leitung der Uni sei viel zu tolerant und lasse zu viel unkommentiert. Unter anderem eine Hörsaalbesetzung einer Gruppe namens „FU Students for a Free Palestine“ hatte im Dezember für Aufsehen gesorgt. Lior Steiner von der Jüdischen Studierendenvereinigung Berlin sagte dem RBB, sobald Israel das Existenzrecht abgesprochen werde und klar antisemitische Botschaften nach außen getragen würden, habe dies mit Meinungsfreiheit nichts mehr zu tun. Mehrere Studierendenvereinigungen fordern zusammen mit der Jüdischen Studierendenunion Deutschland und dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft unter anderem den Ausschluss und das Verbot antisemitischer und extremistischer Gruppierungen am Campus.

Bundesministerin: Unis keine rechtsfreien Räume

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) rief Universitäten zu einem konsequenten Durchgreifen auf. Antisemitismus müsse klare Konsequenzen haben, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Mittwoch). „Hochschulleitungen müssen daher von allen ihnen rechtlich zustehenden Möglichkeiten Gebrauch machen.“ Unterdessen ist der verletzte Lahav Shapira im Krankenhaus bestohlen worden, wie sein Bruder, der Comedian Shahak Shapira, auf der Plattform X berichtete. Hinweise auf eine gezielt gegen ihn gerichtete Tat gibt es aber bislang offenbar nicht. „Leider ist es unbefugten Personen gelungen, auf eine eigentlich verschlossene Station zu gelangen und bei insgesamt drei Patienten Eigentum zu entwenden“, zitierte die „B.Z.“ einen Charité-Sprecher.

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Burak Yilmaz enttäuscht von der Politik

burak yilmaz

Interview mit Burak Yilmaz über Antisemitismus und seine Bemühungen in der Jugendarbeit. (KNA). Burak Yilmaz kennt die Einstellungen muslimischer Jugendlicher gut. Der Pädagoge bekämpft Antisemitismus an der Wurzel, spricht in […]

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Genozid-Klage: Südafrikas besondere Freundschaft mit Palästina

südafrika

Südafrika: Die muslimische Minderheit und die schwarze Mehrheit sind sich einig: Tel Aviv muss im Nahostkrieg Einhalt geboten werden.

Kapstadt (KNA). Israelische Flaggen vor Tafelberg-Kulisse: An der Uferpromenade des jüdisch geprägten Kapstädter Bezirks Sea Point haben sich vor einigen Wochen Demonstranten gesammelt, um sich mit Israel solidarisch zu zeigen.

Ihnen gegenüber stehen Gegendemonstranten mit Palästina-Flaggen. „Babymörder!“, schallt es aus der Menge. Auf die Frage einer Reporterin, ob man nicht mehr Toleranz üben sollte, kennt einer der Versammelten schnell die Antwort: „Sorry, aber doch nicht gegenüber den Zionisten.“ Seine Töne sind am Kap nicht neu: Schon vor Jahren hat der Nahostkonflikt den Südzipfel Afrikas erreicht.

Südafrika: Beziehungen aus der Apartheidzeit

Mit seiner Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Israel geriet Südafrika nun in die Schlagzeilen. Pretoria wirft Israels Armee vor, beim Vordringen in den Gazastreifen gegen das Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung eines Völkermordes verstoßen zu haben.

Jeder hundertste Bewohner des Gebiets sei bereits getötet worden. „Und mit jedem weiteren Tag, an dem Israel die militärischen Angriffe fortsetzt, wird es weitere erhebliche Verluste von Leben und Eigentum geben“, argumentieren Südafrikas Anwälte in ihrem Plädoyer. Die Anhörungen vor dem Gericht in Den Haag sind für Donnerstag und Freitag geplant.

Jerusalem

Foto: Maxpixel.net Lizenz: CC0 1.0

Streit um Verhältnis zum Nahostkonflikt

Am Kap hat die Klage gegen Israel den Keil noch tiefer zwischen die verschiedenen Religionen und Volksgruppen getrieben. Überrascht reagierte aber kaum jemand. Seit vielen Jahren solidarisieren sich vor allem Vertreter der muslimischen Minderheit sowie der schwarzen Mehrheit mit den Palästinensern.

Diese würden vom „Apartheidstaat“ Israel ebenso unterjocht wie einst die Südafrikaner vom weißen Regime, meinen sie. Vor Supermärkten protestieren die Palästina-Unterstützer regelmäßig für einen Boykott israelischer Produkte.

Rückendeckung vom ANC

Rückendeckung bekommt die Anti-Israel-Lobby vom regierenden Afrikanischen Nationalkongress (ANC). Legendär sind inzwischen die Zeitdokumente der historischen Freundschaft, die Zeitungen auch heute noch drucken: Fotos, auf denen Nelson Mandela den damaligen Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Jassir Arafat, umarmt und auf die Wange küsst.

Foto: Library of Congress | Lizenz: gemeinfrei

Bisher schaffte die ANC-Regierung einen komplizierten Spagat zwischen Palästina-Solidarität und den eher pragmatischen Handels- und konsularischen Beziehungen zu Israel. Etliche jüdische, fast ausschließlich weiße Südafrikaner sind Doppelstaatsbürger.

Der Israel-Hamas-Konflikt brachte eine Wende. Im November zog Präsident Cyril Ramaphosa Südafrikas Diplomaten aus Tel Aviv ab. Kurz danach stimmte das Parlament sogar dafür, die israelische Botschaft in Pretoria zu schließen. Mit der Klage vor dem IGH will der ANC einmal mehr seine „Entschlossenheit“ unter Beweis stellen, „die Werte von Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde hochzuhalten“.

Juden berichten von wachsendem Antisemitismus

Die Zeichen stehen also auf Konfrontation. Einige der 50.000 Juden am Kap klagen über wachsenden Antisemitismus. „Außerstande, das Geschehen vor Ort zu beeinflussen, greift die Anti-Israel-Lobby darauf zurück, heimische Juden einzuschüchtern und zu bedrohen – und mit ihnen jeden, der es wagt, Israel auf irgendeine Weise zu unterstützen“, kritisiert die Direktorin der Dachorganisation Jewish Board of Deputies, Wendy Kahn

Sie verurteilt jüngste Übergriffe auf proisraelische Demonstranten vor dem Kapstädter Parlament. Auch bei den Protesten in Sea Point musste die Polizei mit Blendgranaten und Wasserwerfern eingreifen.

„Es ist schwer zu sagen, ob der Antisemitismus seit dem 7. Oktober wirklich zugenommen hat. Wenn man Antizionismus als Deckmantel für Antisemitismus sieht, ist das sicher der Fall“, sagt der Religionshistoriker der Uni Kapstadt, Milton Shain. Nicht zuletzt unter Südafrikas Akademikern habe die Palästina-Lobby zuletzt vermehrt Unterstützer gefunden, so der Experte.

Auch in Pretorias Amtsstuben spielt politisch aufgeladene Religion eine Rolle. Am Wochenende warf Zane Dangor, ein hoher Beamter des südafrikanischen Außenministeriums, Israel vor, „den Schmerz der jüdischen Unterdrückung über die Jahrhunderte“ auszunutzen.

Dadurch werde im Nahostkonflikt vom eigentlichen Problem abgelenkt. Dangor rechnet damit, dass sich die Beziehung zum Westen, allem voran zu den USA, wegen der IGH-Klage verschlechtert.

Foto: Photograph provided courtesy of the ICTY

Internationale Definitionen von Völkermord

Völkermorde, also die bewusste Tötung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, sind bereits in der Antike bekannt. Historiker bewerten das 20. Jahrhundert jedoch als das Zeitalter der Völkermorde. Am 9. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ als Reaktion auf den Holocaust und die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes im Zweiten Weltkrieg.

Als Völkermord oder Genozid definieren sie in dem vor 75 Jahren formulierten Dokument Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

Dazu zählt die gezielte „Tötung von Mitgliedern der Gruppe“, aber auch Handlungen, die auf schwere körperliche oder seelische Schäden zielen, unzumutbare Lebensbedingungen, Maßnahmen zur Geburtenverhinderung oder die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“. Strafbar im Sinne des Völkerrechts ist bereits die Absicht, eine andere Gruppe auszulöschen.

Den Begriff prägte der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin 1944. Das Wort setzt sich zusammen aus „genos“ (Griechisch für Herkunft, Abstammung) und „caedere“ (Lateinisch für morden, metzeln). Völkermord gilt als das Verbrechen der Verbrechen und ist laut Juristen wegen des besonderen Vorsatzes zur Vernichtung einer Gruppe schwer nachzuweisen.

Das Delikt fällt unter das Völkerstrafrecht, ebenso wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression. Es wurde zum ersten Mal bei den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio 1945 angewendet. Seitdem gab es nur zwei Urteile wegen Völkermord, das betraf einmal das Massaker in Srebrenica (ehemaliges Jugoslawien) im Juli 1995 und in Ruanda (April bis Juli 1994). Zuständig für die Verfolgung auf UN-Ebene ist der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag.

Unser Debattenklima: Vorwärts zurück ins Gestern?

Debattenklima gesellschaft Deportationsszenarien

Das derzeitige Debattenklima erinnert viele Menschen schmerzhaft an die Monate und Jahre nach 9/11. Ein Kommentar

(IZ/KNA). Der Hamas-Terror vom 7. Oktober gegen Zivilisten in Israel und der anschließende Krieg der israelischen Armee gegen sie im dicht besiedelten Gazastreifen haben hier zu Veränderungen geführt. Manche fühlen sich an die Zeit nach dem 11. September erinnert.

Debattenklima: Terror und Krieg ziehen das Gespräch in Mitleidenschaft

Öffentliche Sympathiebekundungen für den Terror, die Hamas und andere militante Gruppen sowie Demonstrationen aus dem Umfeld der Hizb ut-Tahrir führen zu öffentlicher Empörung in der Bundesrepublik.

Staatliche Stellen und NGOs berichten von einem massiven Anstieg antisemitischer Straftaten. Am 17. November meldete das BKA, es habe seit dem Angriff rund 3.300 Straftaten mit Nahostbezug erfasst. Dabei handelte es sich vor allem um Fälle von Sachbeschädigung, Volksverhetzung und Widerstandsdelikten.

Polizeischutz vor einer Synagoge in Berlin. (Foto: Tobias Arhelger, Shutterstock)

Innenministerin Faeser zog erste Konsequenzen. Sie sprach am 2. November ein Betätigungsverbot der zuvor in Deutschland und der EU untersagten Hamas aus. Darüber hinaus sprach das BMI ein Verbot des Netzwerkes „Samidoun“ aus.

Seine Sympathisanten hatten am 7. Oktober für Aufsehen gesorgt, als sie Süßigkeiten an Passanten als Reaktion auf den Terror gegen israelische Zivilisten verteilten.

Unterscheidungsloser, öffentlicher Druck auf AraberInnen und MuslimInnen

Parallel dazu häufen sich immer neue Distanzierungsforderungen an MuslimInnen und AraberInnen – von Habeck bis Steinmeier. Derzeit lässt sich eine politisch und wirtschaftlich angeschlagene Ampel durch die verbale Radikalisierung von Union und AfD-Erfolgen treiben. Unabhängige Stimmen – von deutsch-jüdischen Intellektuellen bis zu Juristen – halten dagegen und mahnen zu Differenzierung.

In einem Interview wandte sich die bekannte jüdische Kinderbuchautorin Eva Lezzi gegen die momentane Rhetorik aus der Politik. Zweifelsohne müsse ein von Muslimen ausgehender Antisemitismus strafrechtlich verfolgt werden. Aber es gebe „auch einen politischen Diskurs, der etwas daraus schlägt, wogegen ich mich heftig wehre – nämlich ein gegeneinander Ausspielen von jüdischen und muslimischen Minderheiten und Positionen“, sagte die Autorin weiter.

Dass es unter deutschen MuslimInnen Stimmen gibt, die Antijudaismus in eigenen Reihen zurückweisen, geht im jetzigen Klima unter. Am 9. November, dieses Jahr der 85. Jahrestag der „Reichspogromnacht“, solidarisierte sich Mazyek mit JüdInnen. „Heute zum 9. November gedenken auch wir deutschen Muslime der getöteten Juden. Der barbarische Völkermord und Holocaust erwuchs aus Antisemitismus und Judenhass heraus.“ Er mahnte hiesige Muslime dazu, nicht die Augen vor Ressentiments zu verschließen.

Screenshot: ZMD, Facebook

Muslime sehen Spaltung

Zwei Tage zuvor meldete sich der KRM mit einer Stellungnahme zum bundesdeutschen Debattenklima zu Wort. Der derzeit „herrschende Diskurs in Deutschland“ spalte die Gesellschaft. Medien würden den Eindruck erzeugen, es gäbe jetzt nur ein pro-israelisches und pro-palästinensisches Lager. „Wer genau hinschaut, sieht: Die allermeisten Menschen fordern das Ende der Gewalt und Frieden – auf beiden Seiten.“

Aus diesem Grund fordert er eine „Versachlichung der Debatte“ und erklärt die Notwendigkeit für ein differenzierteres Denken. Momentan würden Vorurteile und verbale Angriffe auf JüdInnen und MuslimInnen in Deutschland geschürt. „Jüdinnen, Juden und jüdische Einrichtungen sind antisemitischen verbalen und tätlichen Angriffen ausgesetzt.

Seit der Gewalteskalation in Nahost leben sie in großer Sorge vor Übergriffen.“ Von dieser Gewalt seien hiesige MuslimInnen und Moscheen ebenfalls betroffen. So habe man seit dem 7. Oktober „Dutzende Angriffe auf Muslime und Moscheen“ verzeichnet.

Widerspruch gegen Generalverdacht

Insbesondere unter arabischstämmigen Deutschen kommt Widerspruch gegen undifferenzierte Distanzierungsforderungen auf. Während die Politik extreme Zirkel nicht erreiche, so die Kritik, würde ein personalisierter Generalverdacht andere Segmente treffen: erfolgreiche Unternehmer, IT-Spezialisten, Designer, Publizisten, Künstler oder Entertainer. Sie fragen sich in den sozialen Netzen, warum sie sich angesprochen fühlen sollten.

Die Religionsexpertin der Bertelsmann Stiftung, Yasemin El-Menouar, sieht eine Rückkehr von Diskursen, wie man sie nach 9/11 erlebt habe. „Auch damals hat man Druck aufgebaut und von Musliminnen und Muslimen in Deutschland gefordert, sich zu positionieren“, zitierte sie ein Hintergrundtext der dpa. Gesamtgesellschaftlich würden Muslime erneut mitverantwortlich gemacht. Sie erlebe da „eine große Frustration“. 

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Islamkonferenz 2023 will Zusammenhalt stärken. Einigung auf Imamausbildung

Muslimfeindlichkeit Islamkonferenz debatte

Islamkonferenz: Die derzeitige Runde der Islamkonferenz legt ihre Schwerpunkte  auf Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit.

Berlin (dpa, KNA, iz). Großer Presse-Andrang und Sicherheitskontrollen wie auf dem Flughafen: Im Bundesinnenministerium (BMI) startete die Fachtagung der Deutschen Islamkonferenz (DIK). Ursprünglich wollte Gastgeberin Nancy Faeser (SPD) das Treffen allein dem Thema Muslimfeindlichkeit widmen.

Allerdings haben die innen- und außenpolitischen Ereignisse am 7. Oktober und danach eine kurzfristige Planungsänderung bewirkt. Das Treffen, das seit gestern läuft und heute endet, stand nun unter dem Titel: „Sozialer Frieden und demokratischer Zusammenhalt: Bekämpfung von Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung.“

„Gerade in solchen schwierigen Zeiten zeigt sich, wie wichtig die DIK ist. Denn sie ist ein Forum, in dem wir aktuelle Herausforderungen offen und auf Augenhöhe miteinander diskutieren können. Hier können wir ansprechen, was uns auf der Seele liegt – in aller Offenheit und in gegenseitigem Respekt“, so die Ministerin.

Foto: Islamrat, X

Islamkonferenz gegen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit

Die Ministerin räumte in ihrer Rede dem Problem Antisemitismus unter Muslimen viel Raum ein. Besonders die muslimischen Dachverbände nahm sie dabei in die Pflicht: Es reiche nicht, Synagogen zu besuchen und sich gegen Judenhass zu erklären, wenn dies nicht auch in den islamischen Gemeinden und in Freitagspredigten kommuniziert werde, appelliert sie.

Die Verbände, die den Großteil der rund 2.800 Moscheen in Deutschland tragen, sind wegen der Art ihrer Verurteilung des Hamas-Terrors nach dem 7. Oktober unter Druck geraten. Anders als in früheren Jahren warem ihre Vertreter auf dem diesjährigen DIK-Treffen kaum sichtbar.

„Für mich persönlich hat das muslimische Leben in Deutschland eine große Bedeutung.“

Nancy Faeser, 21.11.2023

Faeser stellt klar: „Die furchtbaren Terrorattacken der Hamas kennen kein ‘Aber’. Denn dieser Terror verachtet alles, was wir an Werten haben.“ Wegen der Schoah sei Israels Sicherheit deutsche Staatsraison, bekräftigt sie. „Wer Bürger dieses Landes werden will, muss das wissen.“

Altbundespräsident Christian Wulff rief Muslime ebenfalls zur Selbstkritik auf. Aus Überzeugung wiederhole er aber seinen bekannten Satz „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“

Foto: ditibakademie

Namentlich Kritik an der DITIB – aber Einigung zur Imamausbildung

Den größten Moscheeverband, die von der türkischen Religionsbehörde Diyanet gesteuerte DITIB, erwähnte Faeser namentlich: Es sei bestürzend, dass jüngst in Räumlichkeiten einer ihrer Kölner Gemeinden ein ranghoher Taliban-Vertreter auftreten konnte. „Wie garantieren Sie uns allen, dass so etwas nicht mehr vorkommt?“

Nahezu zeitgleich mit dem Kölner Vorfall gab es laut Faeser aber just mit Diyanet/DITIB eine Übereinkunft zur Imamausbildung. Sie soll dazu führen, dass irgendwann keine Imame mehr aus der Türkei in die Gemeinden entsandt werden. Derzeit sind es noch fast 1.000, die als türkische Staatsbeamte für einige Jahre in Deutschland arbeiten und wenig zur Integration beitragen.

Wie BMI-Staatssekretärin Juliane Seifert der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erklärt, hat sich die türkische Seite bereiterklärt, ihre Gemeinden nach und nach nur noch mit Imamen aufzufüllen, die in Deutschland ausgebildet wurden. 

Die Einrichtungen dafür seien das verbandseigene Seminar bei Köln und das vom Land Niedersachsen finanzierte Islamkolleg Deutschland in Osnabrück. Das ist zweifellos ein Durchbruch, auf den die DIK lange hingearbeitet hat. Allerdings dürfte das Endergebnis Jahre dauern, räumt Seifert ein.

Die DITIB-Einrichtung in Dahlem bei Köln zur Ausbildung islamischer Religionsbeauftragter wurde 2020 gegründet. Laut dem Dachverband sollten bis Ende 2023 die ersten rund 30 AbsolventInnen, davon gut zwei Drittel Frauen, ihre Prüfungen abschließen und damit ihre Arbeit in Gemeinden des Verbands beginnen können. 

Als Imame, die etwa das Freitagsgebet leiten und als Geistliche bei Hochzeiten und Beerdigungen wirken sowie in der Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge tätig sind, können bei Ditib nur Männer fungieren.

Als kleinen Schritt nach vorn hat die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Lamya Kaddor, die Vereinbarung zur Imam-Ausbildung bezeichnet. Dennoch seien die großen Fragen im Verhältnis des Staates zu den Verbänden weiter ungelöst, sagte sie am Mittwoch im Deutschlandfunk.

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Foto: Prostock-studio, Shutterstock

Anlaufstellen für Muslimfeindlichkeit

Zur Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit kündigt Faeser für 2024 neue Initiativen an, etwa eine genauere Dokumentation und Anlaufstellen für Betroffene. Die Antwort auf Antisemitismus darf nach ihren Worten kein Islamhass sein. Die meisten der mehr als 5,5 Millionen Muslime in Deutschland seien in der demokratischen Gesellschaft verwurzelt. „Wir dürfen uns nicht spalten lassen.“

Anlass für den Schwerpunkt war im Juni der Bericht eines „Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit“ im Auftrag des BMI. Antimuslimischer Rassismus und Diskriminierung sind demnach in der Gesellschaft weit verbreitet und alltägliche Realität, etwa gegen Kopftuchträgerinnen, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt.

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Faeser ruft zum Kampf gegen Antisemitismus auf. Warnungen vor Generalverdacht

Faeser DIK Rechtsextremisten Geld

Faeser: Innenministerin rief muslimische Verbände zu „mehr Klarheit gegen Antisemitismus“ auf. Der ZMD warnt vor Marginalisierung.

Berlin (dpa, KNA, iz). Vor der Deutschen Islamkonferenz (DIK) hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die muslimischen Verbände zu mehr Klarheit gegen Antisemitismus aufgerufen. Die DIK nimmt am Dienstag und Mittwoch die gesellschaftlichen Auswirkungen des Nahostkrieges in den Blick.

Unter dem Titel „Sozialer Frieden und demokratischer Zusammenhalt: Bekämpfung von Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung“ diskutieren neben muslimischen Vertreterinnen und Vertretern Akteure aus dem jüdischen Leben, Repräsentanten der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, der Kirchen, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft.

Anders als in früheren Jahren nehmen an den insgesamt drei Gesprächsforen keine Vertreterinnen und Vertreter der großen muslimischen Verbände teil.

Foto: thauwald-pictures, Adobe Stock

Faeser will von Muslimen mehr Einsatz gegen Antisemitismus

„Es ist auch die Verantwortung der großen islamischen Verbände in Deutschland, sich laut und deutlich gegen Judenhass und Israelfeindlichkeit auszusprechen – in den Freitagsgebeten, in den Gemeinden oder auf den eigenen Social-Media-Kanälen“, sagte die SPD-Politikerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag).

„Die großen islamischen Verbände müssen mit dafür sorgen, dass sich antisemitische Ressentiments nicht weiter verbreiten. Hier wünschen wir uns von einigen Verbänden mehr Deutlichkeit und mehr Klarheit, nach innen wie nach außen“, so die Ministerin. Gerade jetzt müsse der steigende Antisemitismus zum Thema der Konferenz gemacht werden.

islamkonferenz muslimische faeser

Pressefoto: © Henning Schacht / Bundesinnenministerium

Ministerin warnt vor Generalverdacht

Zugleich warnte Faeser vor einem Generalverdacht gegen Muslime: „Wir gehen hart gegen Islamisten vor, nicht gegen den Islam. Diese Differenzierung ist von größter Bedeutung. Auf keinen Fall dürfen Muslime in Deutschland für islamistischen Terror in Haftung genommen werden.“

Die meisten MuslimInnen seien tief verwurzelt in der demokratischen Gesellschaft und von der barbarischen Gewalt der Hamas entsetzt. „Deshalb ist jede Verallgemeinerung falsch – und führt nur zu Spaltung und Ausgrenzung“, sagte die Ministerin. Das müsse bei der Islamkonferenz ebenso thematisiert werden.

Foto: Zentralrat der Muslime in Deutschland | Facebook

Laut dem Zentralrat seien viele „verunsichert“

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, hat davor gewarnt, im Kampf gegen Antisemitismus Gruppen wie Muslime zu marginalisieren. „Ich mache mir große Sorgen über unsere Lage in unserem Land. Das Auseinanderdriften von Gruppen, die Sprachlosigkeit, auch Hass und die Bereitschaft, nicht einander zuzuhören, ist leider sehr groß geworden“, so Mazyek am Dienstag im RBB-Inforadio.

„Viele Muslime sind in unserem Land verunsichert, haben Angst, sich überhaupt zu Wort zu melden, sie fühlen sich eingeschüchtert durch die Debatte“, sagte Mazyek vor dem DIK-Treffen.

Der ZMD war zu der vom BMI initiierten Tagung nach seinen Worten nicht eingeladen worden. Er kenne den Grund dafür nicht, aber das sei auch angesichts der aktuellen Situation nicht entscheidend. „Wir brauchen den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir brauchen den ganz klaren Schulterschluss.“

Auf die Frage, ob er sich von Nancy Faesers Aufruf angesprochen fühle, sagte Mazyek: „Eigentlich sind wir genau an diesem Weg, dass wir das umsetzen und tun.“ Der Zentralrat der Muslime engagiere sich im Kampf gegen Antisemitismus und arbeite seit vielen Jahren mit Gruppen, auch mit muslimischen zusammen, indem man Gedenkstätten besuche.

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USA: Der Hass im Netz eskaliert

USA

In den USA schwappt seit dem Angriff der Hamas eine Welle von Hass durch das Internet. In Netzwerken erreichen Antisemitismus und Muslimfeindschaft Rekordhöhen. Bürgerrechtler sind alarmiert.

Washington (KNA) Sacha Baron Cohen hält mit seiner Empörung nicht hinter dem Berg. „Schämt Euch“, rief er in einer Video-Konferenz vergangene Woche führenden TikTok-Mitarbeitern zu. Der bekannte Komiker und Schauspieler meinte das in diesem Fall sehr ernst. Von Bernd Tenhage

Zusammen mit mehreren jüdischen US-Prominenten hatte er in dem virtuellen Gruppengespräch TikTok aufgefordert, mehr gegen den inflationären Antisemitismus im Netz zu tun. „Was bei TikTok passiert, ist die größte antisemitische Bewegung seit den Nazis.“

Der Hass in den USA ist online auf dem Vormarsch

Und nicht nur dort. Seit Wochen sind Hassparolen auf Social-Media-Plattformen wie X, dem früheren Twitter, Facebook und Instagram auf dem Vormarsch. Das gilt auch für antimuslimische Attacken.

Den Hashtag #HitlerWasRight übernahmen innerhalb eines Monats X-User in mehr als 46.000 Beiträgen, oft in Verbindung mit Aufrufen, gewaltsam gegen Juden vorzugehen. Im gleichen Zeitraum teilten zehntausende Islamfeinde den Hashtag #DeathtoMuslims bei X.

Das Ausmaß des gegenüber Juden und Muslimen im Netz zum Ausdruck gebrachten Hasses nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober hat selbst Kenner der Szene, wie die Experten der gemeinnützigen Organisation „Global Project Against Hate and Extremism“, überrascht. 

Millionen gewalttätige Posts markieren einen noch nie da gewesenen Anstieg von Hetze. Auf Plattformen wie „4chan“, „Gab“ und „BitChute“ schnellten in den ersten 48 Stunden nach den Anschlägen antisemitische und islamfeindliche Beiträge um fast 500 Prozent in die Höhe.

Foto: Voyagerix, Adobe Stock

Vervielfachung hasserfüllter Postings

Laut der jüdischen Bürgerrechtsorganisation „Anti-Defamation League“ verzehnfachten sich seit dem 7. Oktober allein auf Elon Musks Kurznachrichtendienst X die antijüdischen Beiträge. Bei Facebook stieg die Quote um fast 30 Prozent. Parallel wuchs die antimuslimische Hetze nach Angaben des Londoner „Institute for Strategic Dialogue“ bei X um mehr als das Vierfache.

Der Dachverband der Muslime in den USA, CAIR, schlägt Alarm. „Sowohl die Islamophobie als auch der gegen Araber gerichtete Rassismus sind in einer Weise außer Kontrolle geraten, wie wir es seit fast zehn Jahren nicht mehr erlebt haben“, so CAIR-Forschungsdirektor, Corey Saylor.

Besorgniserregend ist das plötzliche Interesse junger Amerikaner an dem Auftraggeber des Terrors vom 11. September 2001, Osama bin Laden. Dessen von Influencern ausgegrabener „Brief an Amerika“ verbreitet sich wie ein Lauffeuer, obwohl das Hasspamphlet aus dem Jahr 2002 stammt. 

Darin rechtfertigt Bin Laden den Terror von Al-Kaida unter anderem mit der Situation der Palästinenser. Der britische „Guardian“ hatte den fast 4.000 Wörter umfassenden Brief seinerzeit zur Dokumentation ins Englische übersetzt und publiziert. Die Zeitung löschte ihn aus dem Archiv, während TikTok den Hashtag #lettertoamerica in der Suchfunktion sperrte.

Dass er im Extremfall von jungen Amerikanern zum Freiheitskämpfer stilisiert wird, korrespondiert mit den erkennbaren Trends in einer aktuellen YouGov-Umfrage. Demnach hält nur jeder zweite US-Amerikaner zwischen 18 und 29 Jahren die Hamas für eine Terrororganisation. Obwohl sie am 7. Oktober rund 1.200 Zivilisten ermordete, mehr als 200 Geiseln nahm und ihre eigene Bevölkerung schutzlos ließ.

Foto: James Duncan Davidson | Urheber: James Duncan Davidson | Lizenz: CC BY-NC 3.0

Scharfe Kritik an Techno-Oligarchen

Scharf in die Kritik geriet der Besitzer des Netzwerks X selbst. Dem Beitrag eines Nutzers, der in einem Post den Juden selbst die Schuld an dem Hass gegen sie gab, spendierte Elon Musk ein „Like“ mit der Bemerkung, „Sie haben gesagt, wie es ist.“

Der Technologiekonzern IBM, Apple und andere Unternehmen kündigten daraufhin ihre Werbebudgets auf der Plattform. Andere prüfen, dem Beispiel zu folgen.

Der Judenhass im Netz hat seit dem 7. Oktober ein neues Gesicht, beobachtet Adi Cohen, Geschäftsführer der Forschungsgruppe Memetica, die digitale Trends verfolgt. Einige antisemitische Nutzer sähen darin „eine Gelegenheit, die Ermordung von Juden online zu feiern“. Sie versuchten, ein Publikum für ihre Hetze zu erreichen, die früher tabu war. „Dies ist ein großer Wachstumsmoment für sie.“

Was im Netz derzeit eskaliert, könnte schon bald im realen Leben gefährlich werden, warnt das US-Heimatschutzministerium. „Gezielte Gewalttaten könnten mit dem Fortschreiten des Konflikts zunehmen.“

TikTok zeigt sich nach dem Treffen mit den jüdischen Prominenten nachdenklich. Es sei ihm peinlich, das sagen zu müssen, aber er habe die Botschaft der Kritiker verstanden, so Adam Presser, operativer Leiter von TikTok und selbst Jude. Es sei „niederschmetternd“ zu sehen, wie viele Nutzer sich angewidert von der Plattform verabschiedeten.

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Bildungsstätte zum 9. November: Antisemitismus heute in allen Milieus verbreitet

Bildungsstätte

Die Bildungsstätte Anne Frank sagt: Die Klage über einen angeblich „importieren Antisemitismus“ nährt ein rassistisches Narrativ.

Frankfurt/Main (dpa). Zum Jahrestag der Pogromnacht am 9. November und angesichts der aktuellen Lage im Land hat die Bildungsstätte Anne Frank einen entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus gefordert.

Das Gedenken bekomme seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober eine noch tiefere Bedeutung, sagte Direktorin Deborah Schnabel am Mittwoch in Frankfurt. Deutschland erlebe eine beispiellose Welle antisemitischer Gewalt.

Bildungsstätte will Kampf gegen Antisemitismus ohne Populismus

Der Kampf gegen Judenhass müsse entschlossen vorangetrieben werden, ohne ihn für populistischen Stimmenfang zu instrumentalisieren. Politiker würden es sich zu bequem machen, wenn sie den Antisemitismus jetzt ausschließlich bei Muslimen, Geflüchteten oder unter Linken verorteten, betonte Schnabel.

Selbstverständlich müssten islamistische Terrororganisationen in Deutschland konsequent verfolgt werden. Aber: Die Klage über einen angeblich „importieren Antisemitismus“ nähre ein rassistisches Narrativ. Und: „Antisemitismus ist in allen gesellschaftlichen Milieus verbreitet.“

NS-Geschichte wird instrumentalisiert

Ein Höhepunkt der Verbreitung finde derzeit im Netz statt, dazu gehöre auch die Instrumentalisierung der NS-Geschichte in Debatten über den Nahostkonflikt. „Israel wird mit NS-Deutschland gleichgesetzt, Netanjahu mit Hitler“, sagte Eva Berendsen, die in der Bildungsstätte für den Bereich „Politische Bildung im Netz“ zuständig ist. Besonders bedenklich sei die Videoplattform TikTok, wo der Nährboden für den Terrorismus von morgen bereitet werde.

Dass das Netz eine „Fake-News-Schleuder“ sei, sei seit Corona und dem Angriffskrieg auf die Ukraine bekannt – „und das sehen wir jetzt ganz stark im Nahostkonflikt“. Es brauche eine Bildungsoffensive, um dem Hass entgegenzutreten. Dazu gehörten etwa eine digitale Task Force und digitale Streetworkerinnen.

Neumann fordert Aktionsplan

Der Terrorismusforscher Peter Neumann vom King’s College in London fordert angesichts des Gaza-Kriegs und möglicher Auswirkungen auf die Terrorgefahr in Europa einen Aktionsplan gegen Judenfeindlichkeit.

Es brauche „einen Aktionsplan Juden- und Israelfeindlichkeit“, der dazu führe, „dass sich alle Sicherheitsbehörden sofort sehr intensiv auf dieses Phänomen konzentrieren“, sagte er am Mittwoch im Deutschlandfunk.

Der Nahostkonflikt sei „die Mutter aller Konflikte zwischen Juden und Muslimen“. Alles deute darauf hin, dass der Krieg „einen größeren Effekt gerade auch auf Leute hat, die sowieso schon islamistisch orientiert sind“.