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Mehrheit in Berlin ist unzufrieden: Neuanfang ist alternativlos

Wahl Berlin 2023

Berlin (iz). Nach der spektakulären Wahlwiederholung in Berlin ist das Ergebnis schwer einzuordnen. Zwar ist der Wahlsieg der CDU eindeutig, aber es bleibt ungewiss, ob der Spitzenkandidat Wegner auch neuer Regierungschef wird. Obwohl der Wechsel in der Luft liegt, real ist eine Mehrheit dafür nicht sicher. Die Vorstellung, dass die Regierende Bürgermeisterin Giffey auf der Grundlage von 18 Prozent Zustimmung – bei niedriger Wahlbeteiligung – weitermacht, sorgt für Unmut. Ihrem ramponierten Ruf dürfte ein Festhalten an der Macht weiter schaden.

Für einen Neuanfang spricht die Unzufriedenheit der Berliner, denn 74 Prozent der WählerInnen sind „weniger bis gar nicht zufrieden mit der Arbeit des Senats“. Die Frage ist, welche politische Formation die Spaltung, die die Stadt zunehmend prägt, überwinden kann. Eine große Koalition oder ein anderes Wagnis, ein schwarz-grünes Bündnis, könnte zumindest den Versuch unternehmen, die Konflikte zwischen Auto- und Radfahrern, Einheimischen und Zuwanderern, Reichen und Armen zu befrieden.

Ob ein Regierungschef Wegner das intellektuelle Niveau und die persönliche Integrationskraft für ein derartiges Projekt hat, bleibt eine offene Frage. Ein Versuch wäre es wert. Die öffentliche Wahrnehmung der Hauptstadt ist desaströs; nur ein politischer Neuanfang könnte dies ändern. Es gibt auch gute Nachrichten: Der neue Flughafen funktioniert letztlich gut, bei jungen Leuten aus aller Welt ist die Stadt beliebt und die Integrationsleistungen der Stadt verdienen bei allen Problemen eine Würdigung. Nur einem neuen Senat dürfte es gelingen, dass die Stadt im Wandel fairer beurteilt wird.

Bundespolitisch ergeben sich aus der Wahl in Berlin zwei Signale: Die Rechtskonservativen können trotz der Symbolwirkung der Krawalle in der Silvesternacht nicht wirklich profitieren. Die FDP fliegt aus dem Parlament und wird sich als Verlierer der Politik der Bundesregierung Sorgen um ihre Zukunft machen müssen. Das Eintreten der Liberalen für einen schlanken Staat und mehr Verantwortung der Bürgerinnen für ihre Zukunft findet bei den Wählern kaum Zustimmung.

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Berliner Parteien uneins über Neutralitätsgesetz

Neutralitätsgesetz Berlin Kopftuch

Nach der erfolglosen Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin werden die Forderungen nach einer Novellierung seines Neutralitätsgesetzes lauter.

Berlin (KNA). Uneins sind die Positionen in der Landespolitik darüber, wie sehr eine Neuregelung etwa muslimische Lehrerinnen beim Tragen eines Kopftuchs einschränken darf. Die kirchenpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Cornelia Seibeld, wertete die Entschluss des Bundesverfassungsgerichts am Donnerstag „als klaren Auftrag, dieses Gesetz so fortzuentwickeln, dass es rechtssicher wird“. Der religionspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Orkan Özdemir, verwies auf die Vereinbarung im Koalitionsvertrag mit Grünen und Linkspartei, das Gesetz in Abhängigkeit von der Rechtsprechung in Karlsruhe anzupassen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen. Damit bleibt es bei einem Urteil des höchsten deutschen Verfassungsgerichts von 2015, dass solche Verbote religiöser Symbole im Bildungsbereich nur dann zulässig sind, wenn der Schulfrieden konkret gefährdet ist.

Seibeld betonte zugleich, dass die CDU weiter zum Ziel des bestehenden Neutralitätsgesetzes stehe. „Es kann nicht geduldet werden, wenn religiöse Symbole wie das islamische Kopftuch in staatlichen Einrichtungen demonstrativ zur Schau gestellt werden. Das würde den Frieden und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefährden“, so die CDU-Sprecherin. Auch die AfD-Fraktionsvorsitzende Kristin Brinker forderte eine rechtlich einwandfreie Möglichkeit, „das Neutralitätsgesetz zu erhalten und Schüler vor religiöser Indoktrination zu bewahren“.

Die Sprecherin für Antidiskriminierung der Grünen-Fraktion, Tuba Bozkurt, erklärte, nach dem Entschluss des Bundesverfassungsgerichts gebe es „eine große Erleichterung in religiösen Communitys“. Sie rief dazu auf, die rechtlichen Konsequenzen so schnell wie möglich zu ziehen.

Auch die Sprecherin für Antidiskriminierung der Linksfraktion, Elif Eralp, verlangte, die Vorschriften des Neutralitätsgesetzes für das Lehrpersonal sofort abzuschaffen. Die Schulen müssten ihre weltanschaulich-religiöse Neutralität durch „pädagogische Maßnahmen jenseits von Bekleidungsvorschriften sicherstellen“.

Auch der Zentralrat der Muslime kritisierte das bestehende Neutralitätsgesetz scharf. „Es infiltriert verfassungswidrige und gegenüber den muslimischen Frauen diskriminierende Elemente mit ein, die neben der Religionsfreiheit auch das Selbstbestimmungsrecht der Frau untergraben“, so der Zentralrats-Vorsitzende Aiman Mazyek.

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Neutralitätsgesetz: Berlin erfolglos mit Verfassungsbeschwerde zum Kopftuch

Karlsruhe/Berlin (KNA). Muslimischen Lehrerinnen in Berlin darf nicht pauschal das Tragen von Kopftüchern verboten werden. Das Bundesverfassungsgericht nahm eine Verfassungsbeschwerde des Landes gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Kopftuchverbot „ohne Begründung nicht zur Entscheidung an“. Dies teilte das Gericht am Mittwoch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) mit. Entsprechend muss nun das Berliner Neutralitätsgesetz geändert werden.

Das höchste deutsche Arbeitsgericht in Erfurt hatte am 27. August 2020 das Berliner Gesetz mit Verweis auf die Religionsfreiheit für grundgesetzwidrig erklärt. Das Land reichte dagegen im Februar 2021 eine Verfassungsbeschwerde ein.

Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags im November 2021 kündigte die Grünen-Politikerin Bettina Jarasch, derzeit Berliner Bürgermeisterin und Umweltsenatorin, eine Änderung des Neutralitätsgesetzes an, falls das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung von 2015 bleibe. Karlsruhe hatte damals entschieden, dass solche Verbote im Bildungsbereich nur zulässig sind, wenn der Schulfrieden konkret gefährdet ist.

Das seit 2005 geltende Neutralitätsgesetz ist die in Deutschland weitestgehende Regelung. Unter Verweis auf die Neutralität des Staates untersagt sie bestimmten staatlichen Beschäftigten im Dienst auffällige religiöse und weltanschauliche Symbole und Kleidung. Unter welchen politischen Verhältnissen das Gesetz nun geändert werden kann, ergibt sich erst nach der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhauses am 12. Februar.

Brennpunkt Berlin oder wie man in der modernen Stadt wohnt

Berlin

(iz). Nach der Silvesternacht geriet Berlin wieder einmal in die Schlagzeilen. Mehr als hundert junge Menschen wurden während der Krawalle kurzzeitig festgenommenen. Sie hatten unter anderem Sprengkörper auf Krankenwagen und Feuerwehrleute geworfen. Auf einigen Straßen und Plätzen herrschte einige Stunden lang die Anarchie. Gegen die Verdächtigen wurde überwiegend wegen Brandstiftung, Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz, Landfriedensbruchs sowie tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte ermittelt. 

In den Talkshows der Republik rätselten Experten über die Hintergründe der Gewalt und das Ressentiment der Gewalttäter gegen die öffentliche Ordnung. „Wer anderen die Erniedrigung wünscht, will den Ort verwüstet sehen, an dem sie integer bei sich wären“, schrieb einst Peter Sloterdijk über das Phänomen der Ausschreitungen von Minderheiten in der modernen Großstadt.

Die Hauptstadt ist keine einfach zu fassende Metropole. Über Jahrzehnte war die Stadt geteilt, bis sie wieder rund um eine neu geschaffene, imaginäre Mitte ihre Einheit wiederfand. Man sucht vergeblich nach einem Zentrum wie in London oder Paris, viel mehr besteht Berlin aus Stadtteilen, die jeweils unterschiedliche soziale Lagen repräsentieren. Besucht man Grunewald, Mitte, Neukölln oder Marzahn wird einem schnell bewusst, dass es das Berlin eigentlich nicht gibt. Dennoch stiftet die Stadt eine Identität. Viele junge Menschen, mit oder ohne Immigrationshintergrund sehen sich selbst zunächst als BerlinerInnen. Dabei spielt die Herkunft eine untergeordnete Rolle, ist die Stadt doch von jeher kosmopolitisch.

Es wäre ein Rückschritt, wenn die Silvesternacht von Berlin, wie es einige Politiker forderten, dazu führen würde, von den Vornamen der Menschen abzuleiten, ob sie echte Berliner BürgerInnen sind oder nicht. Die Lebensleistung der ZuwandererInnen ist in dieser Stadt überall dokumentiert. Nicht nur der berühmte Kebab-Laden ist eine Erfindung von Einwanderern, sie sind auch als Arbeitskräfte unverzichtbar und der neue Mittelstand hat tausende Jobs in der Stadt geschaffen.

Für die Entdeckung von Berlin braucht man Jahre. Ich erkunde immer wieder die verschiedenen Bezirke mit dem Auto, der Straßenbahn und zu Fuß, laufe durch Parks und Grünanlagen, fahre auf Betonpisten an Wohnsilos vorbei, erlebe die kleinstädtische Atmosphäre im Kiez, bestaune die alte Größe unter den Linden und flaniere durch die Konsumtempel der Stadt. Irgendwo zwischen Gropiusstadt und Grunewald, Charlottenburg und Marzahn frage ich mich manchmal: ist Berlin eigentlich eine schöne Stadt? Zu einem klaren Urteil kommt es naturgemäß nicht.

Wenn der Schriftsteller Cees Nooteboom Recht hat, dass eine Stadt wie ein Buch ist, und der Reisende sein Leser, dann ist diese Metropole mit all ihren verschiedenen Seiten keine Kurzgeschichte. Es gibt so viele Ansichten auf diese Stadt, dass sich eine gewisse Reizüberflutung einstellt, die sich aus dem Übermaß des Angebots und der Flut von Menschen, seien es Passanten, Konsumenten, Arbeitende, Touristen oder Flüchtlinge ergibt. Ein Gang durch die Straßen sammelt unzählige Augenblickseindrücke, die wir – vermutlich unbewusst – immer wieder in unser Bild von der Stadt einordnen. Der Eindruck von Schönheit und Trostlosigkeit wechselt sich dabei ab. Aber, Berlin, Gott sei Dank, bietet dem Wanderer auch immer wieder seine Ruhepole an, eine Bank im Park, ein kleines Kaffee, eine Moschee oder irgendeine andere ruhige Ecke.

Natürlich muß man sich auf diesen Stadtrundgängen, die fortlaufende Bewegung erfordern, einem bekannten Dilemma stellen. Der Philosoph Giorgio Agamben beschreibt es so: „Der zeitgenössische Mensch kehrt abends nach Hause zurück, und ist völlig erschöpft von einem Wirrwarr von Erlebnissen – unterhaltenden oder langweiligen, ungewöhnlichen oder gewöhnlichen, furchtbaren oder erfreulichen, ohne dass auch nur eines davon zur Erfahrung geworden wäre.“

Agamben mag Recht haben, aber Berlin zeigt auch die andere Seite der Medaille. Die Stadt ist ein einmaliger Erfahrungsort, ein großes Mahnmal, in der sich die machtvolle Begegnung von abgründigen und beeindruckenden Geschichten, Siege und Niederlagen, manifestiert. Wir Zeitgenossen, an Frieden und Wohlstand gewöhnt, sind hier nur stille, im Grunde dankbare Beobachter, die das ungeheure Leid vergangener Geschichte nur erahnen können. Zumindest diese Einsicht nimmt jede(r) BesucherIn als eine Erfahrung mit, denn Geschichte und Geschichten hat die Stadt an jeder Ecke zu bieten. 

Um nur ein Beispiel zu nennen: In unmittelbarer Nachbarschaft des Gropiusbaus blickt man auf Reste der Mauer und ein Museum, das sich der „Topographie des Terrors“ widmet. Die Trennung von Ordnung und Ortung, die der Jurist Carl Schmitt, als Wesenszug des Nihilismus definiert, wird hier dramatisch erfahrbar. Die Organisation der Ideologie schuf diese Orte ohne Recht, denen man auf dem Berliner Stadtgebiet immer wieder begegnet. Diese Spuren deuten darauf hin, dass der Mensch für seine historischen Untaten einen Preis bezahlen muss: Die Wunden der Vergangenheit, die ehemaligen Grenzen, die Bausünden und die oft planlos erscheinende Stadtentwicklung ergeben bis heute ein Bild der Zerrissenheit. Die moderne Architektur, die den Ost- und Westteil der Stadt zusammen wachsen lässt oder Baulücken füllt, folgt in den meisten Fällen nur dem ökonomischen Kalkül der effizienten Nutzung.

Der Anthropologe Marc Augé bietet eine begriffliche Unterscheidung an, die den Blick auf eine moderne Großstadt wie Berlin tiefer ausfallen lässt. In seinem Essay „Nicht-Ort“ beschreibt er die Zunahme von sinnentleerten Funktionsorten, wie beispielsweise Flughäfen, U-Bahnen, Flüchtlingslager, Supermärkte oder Hotelketten. Es handelt sich um keine anthropologischen Orte, man ist nicht heimisch in ihnen. Diese Räume stiften keine individuelle Identität, haben keine gemeinsame Vergangenheit und schaffen keine soziale Beziehungen.

Ein Spaziergang durch die neue Mitte am Potsdamer Platz, entstanden in der Wildwestzeit nach der Wende, lässt daran denken, ob es sich hier um einen dieser beschriebenen Nicht-Orte handelt. Es ist ein belebter Stadtteil, rund um einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt entstanden. Hier entstanden Hotels, Kinos und die Hauptzentralen diverser Unternehmen. Das Sony Center, mit seiner weit sichtbaren Dachkonstruktion, die einen japanischen Berg symbolisieren soll, stellt eine spektakuläre Ingenieurleistung dar.

Im darunter liegenden Hauptraum, dem sogenannten Atrium strömen die Besuchermassen in die Kinos, Museen und Wohnungen des riesigen Gebäudes. 

Der Begriff Atrium kommt möglicherweise vom lateinischen ater, was so viel wie rauchgeschwärzt bedeutet. In diesem Raum befand sich ursprünglich der aus einer offenen Feuerstelle bestehende Herd, der die Decke schwärzte. Der Raum diente als Speiseraum, Arbeitsraum und Aufenthaltsraum der Hausbewohner. Im Sony Center wird der Raum von einem groß dimensionierten Bildschirm dominiert, um den sich die Zuschauer versammeln und die Werbung und Beiträge der Unterhaltungsindustrie anschauen. Das Gebäude, das in dieser Form in jeder Großstadt der Welt stehen könnte, ist auf diese Weise in die globale Ordnung des Internets eingebunden. Ein neuer Typus, den man in der Stadt beobachten kann, ist der Phoneur, der sich mit Hilfe mobiler Technologie im Stadtraum bewegt.

Die Rückbindung an die Berliner Vergangenheit wird in der neuen Mitte durch eine architektonische Kuriosität gewährleistet. Wie in einem Schaukasten sind Säle des ehemaligen Hotel Esplanade in das Ensemble integriert. Das Hotel war zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein sozialer Treffpunkt für den Kaiser, Politiker und Künstler. In seinen Berliner Erinnerungen staunt der Schriftsteller Cees Nooteboom über den Anblick: „Hinter Glas etwas vom früheren Kaisersaal, aber es ist so ähnlich wie der zweifache Tod aufgespießter Schmetterlinge in einer Vitrine, sie hätten sich längst aufgelöst haben müssen, doch sie sind noch da. Nur fliegen können sie nicht mehr.“

Wie wohnt man in der modernen Stadt? Diese Frage beschäftigte schon Antoine de Saint Exupéry (Die Stadt in der Wüste): „Ich habe eine große Wahrheit entdeckt: Diese: dass die Menschen ein Heim haben, und dass sich der Sinn der Dinge für sie wandelt je nach dem Sinn ihres Hauses …“ Um das soziale Verhalten und die soziale Lage der Berliner zu verstehen, muss man schlicht untersuchen, wie sie leben. Zum Beispiel in der, in den 70er Jahren erbauten Gropiusstadt.

Das Viertel wurde durch ein Buch (1978) berühmt: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.“ Mit drastischen Worten beschreibt Christiane F. darin ihre damalige Drogenkarriere und die Sozialisierung in dem Neubauviertel. Am Gropiushaus kann man über die Visionen des Architekten Walter Gropius nachdenken, seine Idee von Häuserfabriken und Wohnungen, die am Fließband erstehen. Der Bruch mit den alten Traditionen des Bauens begründet er mit der Notwendigkeit einer neuen Wohnform für den „einheitlichen Erdenbürger“. Seine Grundüberzeugung war einfach: er glaubte „daß der Mensch, (…), vom biologischen Standpunkt aus nur eine geringe Menge an Wohnraum benötigt, zumal wenn diese betriebstechnisch richtig organisiert wird.“ In ganz Deutschland finden sich Spuren dieses Rationalismus. Die neuen Bautechniken, Berlin ist voll davon, wurden im Nachkriegsdeutschland kontrovers diskutiert. Ein Kollege des Baumeisters, Adolf Behne, fasste die Kritik zusammen: „Der Mensch wird zur berechneten Figur, seine Bedürfnisse werden auf das Funktionieren reduziert und zum Wohnen erhält er einen Reisekoffer, aus dem jegliche Form von Individualität und Gefühlsleben ausgesperrt ist.“

Die Wohnungsnot und der sich daraus ergebende Mangel an sozialer Zirkulation, gehört zu den dringendsten Problemen Berlins. Im Jahre 1951 hielt der Philosoph Martin Heidegger einen Vortrag mit dem Titel „Bauen, Wohnen, Denken“. Für den Denker ist das Bauen keine Frage der angewandten Technik. Das Wohnen ist für ihn die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. „Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, das heißt als Wohnende sind.“ Heideggers provokante These lautet somit: „Die eigentliche Not des Wohnens zeigt sich nicht erst im Fehlen von Wohnungen.“ Das Dasein ist Teil einer Einheit, die der Philosoph das “Geviert“ nennt, eine Verknüpfung von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen. „Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen“, trägt er vor. Echte Bauwerke fügen in der Konsequenz dieses Denkens den Menschen in einen philosophischen Kontext ein.

Die Zukunft des Wohnens wird heute, in Zeiten des Wohnungsmangels und der hohen Mietpreise, heftig diskutiert. Viele, gerade junge Leute in Berlin, beklagen steigende Nebenkosten und berichten über ihre vergeblichen Versuche eine alternative Wohnung zu finden. Der Bau eines eigenen Hauses ist für die meisten Menschen sowieso unbezahlbar geworden. Sogar die Umsetzung einer alten Bauhaus-Idee, kleine bezahlbare Wohnflächen mit Gemeinschaftseinrichtungen zu ergänzen, wird diskutiert.

Die Frage, wie neue soziale Bänder die Menschen miteinander verbinden, ist damit noch nicht gelöst. Der zivilisierte Mensch von heute strebt eigentlich nach der Möglichkeit, auf menschliche Unterstützung zu verzichten. Peter Sloterdijk spricht gar von einem „bloßen atomistischen Haufen von Individuen“. Er definiert egosphärische Formen: „Das Apartment der Ort, an dem die Symbiose der Familienmitglieder, die seit unvordenklichen Zeiten die primären Wohngemeinschaften bilden, aufgehoben wird, zugunsten der Symbiose des alleinlebenden Individuums mit sich selbst und seinem Environment.“

Wenn der Satz „Jeder ist eine Insel“ in den modernen Großstädten für die Mehrheit der Populationen nahezu wahr geworden ist – was heißt dies dann, für die Möglichkeit Gesellschaft zu denken? Tatsächlich versucht die Politik zu verhindern, dass Berlin sich zu einem Sammelsurium von Parallelgesellschaften entwickelt. Die Wohnungsfrage ist nur eine Dimension des Problems. Die Stadt muss aber auch echte Orte fördern, in denen soziale Bänder entstehen können. Hier liegt auch das eigentliche Potential von Moscheeanlagen, die mit ihren Dienstleistungen die Nachbarschaft in einen positiven Kontext setzen.

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Neuköllns Bezirksbürgermeister: Migranten waren auch Opfer der Gewalt

Silvester Vorname jahresrückblick

Berlin (dpa). Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) hat nach den Silvester-Krawallen davor gewarnt, Menschen mit Migrationshintergrund in dem Berliner Bezirk pauschal zu Tätern zu erklären.

In Teilen Neuköllns hätten bis zu 90 Prozent der Menschen eine Migrationsgeschichte, sagte Hikel am Mittwochabend in den ARD-„Tagesthemen”. „Ein Großteil der Menschen lebt hier friedlich, und ein Großteil ist auch unter den Betroffenen, die Opfer von dieser Gewalt geworden sind“, sagte er.

Entscheidend sei stattdessen, die ermittelten Täter schnell vor Gericht zu stellen und zu verurteilen, betonte Hikel. Angesichts der begangenen Straftaten seien dabei Haftstrafen von bis zu fünf Jahren möglich. Der Bezirksbürgermeister hatte sich zuvor auch für ein Verkaufsverbot von Feuerwerk ausgesprochen.

Teile des Bezirks Neukölln waren einer der Schwerpunkte bei den Vorfällen in der Silvesternacht. In mehreren Städten kam es zu Krawallen, bei denen auch Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr angegriffen wurden.

In Berlin wurden 145 Menschen vorläufig festgenommen, die meisten davon Männer. Laut Polizei wurden 18 verschiedene Nationalitäten erfasst: 45 der Verdächtigen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, danach folgten 27 Verdächtige mit afghanischer Nationalität und 21 Syrer.

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Debatte(n) nach Silvester: Erneut wird Kriminalität „migrantisiert“

Brandanschlag Razzia IS cuxhaven Polizei

(iz). Kriminolog:innen und Soziolog:innen schütteln wahrscheinlich seit Neujahr wie Wackeldackel ununterbrochen den Kopf, wenn sie sich die Berichterstattung zur Silvesternacht in Berlin anschauen. Parallel sprechen manche Politiker- und Journalist:innen seit Neujahr in Dauerschleife über die vermutete Herkunft der Täter. So, als ob die Herkunft erklären würde, warum überwiegend Jugendliche und junge Männer mit (illegalen) Böllern und Raketen auf Polizei- und Feuerwehrkräfte in der Silvesternacht geschossen haben. Diese Diskussion ist nicht wissenschaftlich, sondern rassistisch.

Das kleine Einmaleins der Forschung besagt: Die ethnische Herkunft führt nicht zur Kriminalität, sondern die soziale Herkunft. Die meisten Täter sind also vermutlich bildungsfern, sozial abgehängt und wirtschaftlich schlecht gestellt. Statt darüber zu reden, ist immer wieder von der möglichen Herkunft die Rede. Und das alles nur, weil die mutmaßlichen Täter teilweise dunkelhaarig und nicht-weiß sind.

Solche Menschen werden von der Mehrheitsgesellschaft als Ausländer:innen wahrgenommen. Ob sie das tatsächlich sind, kann aufgrund des Aussehens nicht beurteilt werden. Möglicherweise handelt es sich um Deutsche.

Dass die Herkunft der Tatverdächtigen keine große Rolle spielt, zeigt eine Stellungnahme des Innenministeriums zum Lagebericht 2021, der rund 88.600 Übergriffe auf Polizeibeamte erfasste. Von den bekannten Täter:innen seien 70 Prozent deutsche Staatsbürger:innen.

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass 13,1 Prozent der Bevölkerung Ausländer:innen sind. Sie machen jedoch 30 Prozent der Täter:innen aus. Gemessen am Bevölkerungsanteil sind Ausländer:innen hierzulande demnach verhältnismäßig krimineller als Deutsche.  

Nun könnten sich Rassist:innen bestätigt fühlen, denn auf den ersten Blick wirkt es, als ob Ausländer:innen aufgrund ihrer Herkunft häufiger kriminell sind. Ausländer:innen sind jedoch auch häufiger von relativer Armut und Bildungsdefiziten betroffen. Dies führt zur Kriminalität und nicht die Herkunft.

Unabhängig von der Herkunft, ist und bleibt die Gewalt gegen Sicherheitskräfte kriminell. Dennoch sind viele Täter auch Opfer eines Systems, indem Chancengleichheit eine Illusion ist. Bildungsferne und von relativer Armut betroffene Menschen haben qua Geburt schlechte Karten im Leben, denn ihre Wahrscheinlichkeit aufzusteigen ist gering, wie diverse Studien belegen.

Dies rechtfertigt nicht die Taten, aber es zeigt, wo das Problem liegt. Natürlich müssen die Täter bestraft werden, aber die Bildungs- und Sozialpolitik ist vor allem gefragt, statt rassistische Debatten zu führen. Dies gilt auch für gewisse Journalist:innen und Pseudo-Expert:innen.

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Den Clans auf der Spur: Eine Suche zwischen Neukölln und der Südosttürkei

Polizei Gewalt

(iz). In aller Frühe machte ich mich von meinem Hotel im mittelgroßen kurdisch-türkischen Midyat auf die Suche nach dem Busbahnhof, von wo aus ich einen Dolmuş nach Yenilmez, dem „Dorf […]

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Internationaler Kongress in Berlin fordert das weltweite Ende der Todesstrafe 

­­Vom 15.-18. November findet der 8. Internationale Kongress zur Abschaffung der Todesstrafe in Berlin statt, ausgerichtet von der französischen NGO „Ensemble contre la peine de mort – ECPM“. Amnesty International wird mit einer multinationalen Delegation teilnehmen. Der Weltkongress gegen die Todesstrafe wird ehemals zum Tode Verurteilte, Politiker*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Kunstschaffende und Wissenschaftler*innen mit dem Ziel zusammenbringen, weitere Staaten zu konkreten Verpflichtungen in Richtung Abschaffung staatlicher Exekutionen zu bewegen. 

­Berlin (Amnesty International). Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, erklärt zur Eröffnung des Kongresses am Dienstag: „Die Todesstrafe und staatliche Hinrichtungen sind zu Recht in weiten Teilen der Welt abgeschafft worden. Seit dem langjährigen Einsatz von Amnesty International und vieler anderer zivilgesellschaftlich Aktiver haben 112 Staaten die Todesstrafe restlos aufgegeben, insgesamt verzichten 144 Staaten auf ihre Anwendung – das sind mehr als zwei Drittel aller Staaten. In diesem Jahr wurde sie in drei weiteren Staaten (Papua-Neuguinea, Zentralafrikanische Republik, Äquatorialguinea) vollständig abgeschafft.

Der aktuelle viertägige Kongress gegen die Todesstrafe ist dennoch nötig und drängend: Eine Gruppe von Regierungen hält weiter an dieser mit den Menschenrechten unvereinbaren Strafe fest. Dazu gehören Länder wie Indien, China, Saudi-Arabien, der Iran, Bangladesch oder auch die USA. Ende letzten Jahres saßen noch mindestens 28.670 Menschen in Todeszellen, mit der täglichen Angst, jederzeit hingerichtet werden zu können.

Gerade in jüngster Zeit setzen etliche Länder vermehrt die Todesstrafe ein, um gegen Minderheiten und Demonstrierende vorzugehen, darunter der Iran und Myanmar. Im Iran wurden allein im ersten Halbjahr dieses Jahres 251 Menschen hingerichtet, wegen der behördlichen Geheimhaltung liegt die Dunkelziffer vermutlich um ein Vielfaches höher. Die aktuellen Repressionen gegen die Protestbewegung lassen befürchten, dass die iranische Führung zunehmend Oppositionelle hinrichten lassen wird.

Im engen Schulterschluss mit dem französischen Bündnis „Gemeinsam gegen die Todesstrafe“ fordert Amnesty International, diese Strafe rasch und weltweit dorthin zu verbannen, wo sie hingehört: in die Geschichtsbücher!“

In ihrer jährlichen Bilanz zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe verzeichnet Amnesty International zuletzt eine besorgniserregende Zunahme an Hinrichtungen und Todesurteilen, vor allem im Iran und in Saudi-Arabien. Saudi-Arabien ließ im März an einem einzigen Tag 81 Menschen hinrichten. Die Organisation dokumentierte im Jahr 2021 insgesamt mindestens 579 Hinrichtungen in 18 Staaten und rechnet mit einer hohen Dunkelziffer, auch weil einige Staaten wie etwa China Exekutionen geheim halten.

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Berlin: Expertenkommission veröffentlicht Handlungsempfehlungen für „ein Miteinander ohne Diskriminierung“

Kopftuch

(iz). Nach den Angriffen auf MuslimInnen und MigrantInnen in Hanau richtete der Senat eine „Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus in Berlin“ ein, die sich auf ihrer letzten Sitzung im Juni 2023 auflöste. […]

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Berlins Justizsenatorin sieht im umstrittenen Neutralitätsgesetz Diskriminierung von Muslimen

Berlin (KNA). Der Berliner Senat will verstärkt gegen antimuslimischen Rassismus vorgehen. Es gehe darum, die „strukturelle Diskriminierung“ von Musliminnen und Muslimen zu erkennen und zu beseitigen, erklärte Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) am Mittwoch, den 05.10.2022, im Abgeordnetenhaus. „Ein wichtiger Schritt dazu ist die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes.“

Kreck sprach bei einer Anhörung des Rechtsausschusses zu den „Handlungsempfehlungen“, die eine Fachkommission vor einem Monat im Auftrag des Senats vorgelegt hatte. Die Staatssekretärin Vielfalt und Antidiskriminierung, Saraya Gomis (parteilos), kündigte an, der Senat wolle die Arbeit der Kommission in erweiterter Form fortführen und finanziell so ausstatten, dass Studien zu dem Problemfeld möglich seien.

Das Berliner Neutralitätsgesetz verbietet weitgehend das Tragen religiöser Symbole in Teilen des Öffentlichen Dienstes, vor allem in Polizei, Justizdienst und im Bildungsbereich. Es ist die in Deutschland weitestgehende Regelung auf diesem Gebiet. Das Bundesarbeitsgericht hatte das pauschale Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen 2020 für verfassungswidrig erklärt. Dagegen reichte das Land Berlin Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, über die noch nicht entschieden ist.

Die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes ist eine zentrale Forderung der Fachkommission, die 2021 als Reaktion auf den fremdenfeindlichen Terroranschlag in Hanau eingesetzt wurde. Dem Gremium gehörten Vertreterinnen und Vertreter der Evangelischen Hochschule Berlin, der Alice Salomon Hochschule, der „Schule ohne Rassismus-Schule mit Courage“, des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung sowie Delegierte des „Islamforums Berlin“ an.

Vor dem Ausschuss forderten das Kommissionsmitglied Lydia Nofal vom Islamforum und weitere Fachleute unter anderem mehr Fort- und Weiterbildung bei Polizei und Justiz sowie einen Sonderbeauftragten beim Verfassungsschutz, die sich mit antimuslimischem Rassismus befassen. Zudem traten sie für eine stärkere Förderung muslimischer Kulturangebote und für Maßnahmen gegen antimuslimische Tendenzen in der Bildungsarbeit ein.