Open Source vs. Stratfor: Die Veröffentlichung von Firmen-Emails durch Wikileaks erlaubt einen Blick hinter die Kulissen. Von Sulaiman Wilms

(iz). Meine erste, wohl eher unbewusste Begegnung mit Philosophie war mein Biologielehrer in der 7. Klasse. Er erklärte uns, dass jedes Wissen von der Welt – inklusive der vermeintlich objektiven Wissen­schaften – von unserem Weltbild abhän­gig sei.

In den Zeiten, als die Welt der ­meisten Menschen (mit Ausnahme einiger Abenteurer) aus dem bestand, was sie selbst erlebten, speiste sich ihr Weltbild aus ihrer direkten Anschauung. Heute ist die direkte Erfahrung einer globalisierten Welt und unser Bild von ihr in den aller­meisten Fällen voneinander getrennt. Eine bekannte Ausnahme dazu stellt wohl der Tourismus dar. Für den Rest benötigt die Mehrheit aller Menschen, die nicht aus beruflichen Gründen oder auf der Suche nach Wissen unterwegs ist, die verschiedensten Medien zur Vermittlung ihres Weltbildes.

Je größer die Komplexität der Welt ­(eines ihrer wichtigsten Elemente sind heute die unterscheidungslosen Weiten des Internets) wird, desto schwieriger wird in ihr die Aneignung echten ­Wissens und direkter Erfahrung. Vor allem dann, wenn die Weisheit offenbarter Religion aus dem öffentlichen Diskurs gedrängt wird.

Meinung versus Information
Für uns mediale Normalverbraucher hat das in der Regel keine gravierende Auswirkungen, da wir (eine der Ironien unserer durch-säkularisierten Welt) bei Schicksalsfragen immer häufiger auf die säkulare Glaubensform der „Meinung“ zurückgreifen (der Glaube an die Stabili­tät einer irrationalen Währung, an die vom Menschen gemachte Klimaerwärmung, an Vorstellungen vom globalen Kampf „Gut“ gegen „Böse“ etc.). Ein Autor der „Tageszeitung“ sprach vor ­einiger Zeit davon, dass wir in einer Welt leben, die von „Meinungen“ diktiert sei.

Moderne „Entscheidungsträger“ wie Politiker, Denkfabriken, institutionelle Investoren und internationale Unternehmen sind auf korrekte ­Informationen und mittel- bis langfristige Analysen angewiesen. Mit den vergleichsweise oberflächlichen Erzeugnissen der Tagespresse, die darüber hinaus seit Jahren einem stetigen Qualitätsverlust unterworfen sind, oder digitalen Informationsschnipp­­seln lassen sich weder außenpolitische Strategien, noch langfristige Auslandsinvestitionen planen. Soviel ist klar: Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind Informationen zu einem Gut geworden, dass nicht nur einen realen Wert besitzt, sondern aus dem sich auch Kapital schlagen lässt.

Der Einfluss der Privaten
Es sind schon längst nicht mehr nur staatliche Einrichtungen, die ein Mono­pol auf nicht-öffentliche, gelegentlich geheime Informationen haben. Seit 1989 ist das globale Gewerbe der Informations­beschaffung, auf dem auch die Geheimdienste arbeiten, einem rasanten Wandel unterworfen. Experten gehen davon aus, dass in den USA (für andere Regionen kann eine ähnliche Entwicklung vorausgesetzt werden) mittlerweile die Hälfte aller staatlichen Mittel für die Informationssammlung, -auswertung und -manipulation an Privatunternehmen gehen. Parallel dazu wurden – der Irakkrieg und die folgende Okkupation sind ein Musterbeispiel – militärische Strukturen und Dienstleistung an Privatfirmen (Halliburton, Blackwater/Academi etc.) „outgesourct“. Experten sprechen von diesen Söldnerfirmen mittlerweile als einer Form der „Privatisierung des Krieges“.

Von privaten Verhörexperten im iraki­schen Foltergefängnis Abu Ghraib, über US-Firmen, die im Auftrage des US-Heimatschutzes in Windeseile Millionen Emails analysieren bis zur Observierung unliebsamer Gewerkschafter: Längst ist eine Welt privatisierter Geheimdienste entstanden. Diesem Bereich der Informa­tionsbeschaffung und Strategieberatung zuzuordnen sind auch unzählige, international agierende Denkfabriken. ­Einige Beispiele hierfür sind die RAND Corpo­ration oder Lincoln Group in den USA, Parteistiftungen wie die Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland oder aufstrebende Denkfabriken der wohlhabenden Staaten am Golf oder in Ostasien. Sie beraten die Politik, sind aber auch an der Beeinflussung globaler Meinungstrends beteiligt.

So mag ein Blick auf die internationa­len Publikationen und Symposien ­dieser Denkfabriken erklären helfen, warum in den letzten 10 bis 15 Jahren in allen westlichen Ländern die beinahe deckungsgleiche Islamdebatte ausgebrochen ist. Diese strategischen Think Tanks vernet­zen und koordinieren Strategien und definieren einprägsame Schlagworte, die dann über massenkompatiblen Medien verbreitet werden. Leider wird, insbeson­dere im deutschen Diskurs, viel zu ­selten auf den Einfluss derartiger Strukturen verwiesen. Als Fußvolk dienen ihnen gelegentlich auch vermeintliche Islam- und Terrorexperten, die sich des Öfteren in dem Dunstkreis aus privatisierten Geheimdiensten, Denkfabriken und Medien bewegen.

Die Welt von Stratfor
Die dritte Säule des privaten Informationswesens bilden die mehr oder weniger kleinen, aber exklusiven Informationsdienstleister. Sie verdienen ihr Geld entweder mit Recherchen für hochkarätige Auftraggeber aus Privatwirtschaft, Militär und Politiker. Andere generieren ihr Einkommen durch kostenpflichtige Newsletter über strategische oder regionale Themen. Das beste, weil nun öffentlich zugängliche Beispiel dafür ist der Informationsdienst Stratfor Forecasting Inc. (kurz: Stratfor), der beide Dienstleis­tungen in seinem Portfolio vereint.

Das 1996 vom Pub­lizisten George Friedman in Austin gegründete Unternehmen beschäftigt eine ganze Reihe ehemaliger Mitarbeiter aus US-Geheimdiensten und dem FBI. Am 27. Februar rückte es für einen kurzen Moment in das Blickfeld einer ­breiteren Öffentlichkeit, als die Informationsplattform Wikileaks – in Kooperation mit internationalen Medienpartnern wie dem NDR – die Webseite „The Global Intelligence Files“ startete.

Auf ihr sollen rund fünf Millionen interne Emails – vom Juli 2004 bis Ende Dezember 2011 – der privaten Schnüffler veröffentlicht werden. Gestohlen wurden die Daten von der internationalen Hackergruppe Anonymous. Laut Wikileaks offenbarten diese Emails „die inne­re Funktionsweise einer Firma, die sich als ein Herausgeber von Informationen ausgibt, aber vertrauliche Spionagediens­te für große Unternehmen (…) wie Dow Chemical Co., Lockheed Martin, Northrop Grumman, Raytheon und Regierungseinrichtungen (…) bereitstellt.“

Nach Ansicht von Wikileaks belegt die interne Stratfor-Kommunikation, wie private Geheimdienste funktionieren und wie sie Individuen und Gruppen im ­Auftrage ihrer Kunden und Abonnenten „abschöpfen“. So habe der CIA-Verschnitt im Auftrage des Chemieriesen Dow ­Chemical (der für die Katastrophe im indischen Bhopal verantwortlich ist) Aktivis­ten wie die „Yes Men“ überwacht und analysiert. Für Coca Cola observierte Stratfor die Tierschutzorganisation PETA.

„Die Emails stellen die ‘Drehtür’ bloß, wie sie in den privaten Geheimdienstfirmen in den Vereinigten Staaten operiert. Quellen aus Regierung und Diplo­matie in aller Welt liefern Stratfor hochwertiges Wissen über globale Politik und Ereignisse im Austausch gegen Geld. (…) Stratfor rekrutierte ein globales Netzwerk von Informanten, die über Schweizer Banken oder vorab bezahlte Kreditkarten entlohnt werden.“ Die so genannten „Quellen“, für die Stratfor-CEO Friedman ein System der Kategorisierung eingeführt hat, werden nicht nur gegen Bezahlung entlohnt. Manchmal müsse auch „Kontrolle“ eingesetzt werden. „Kontrol­le bedeutet finanzielle, sexuelle oder psychologische Kontrolle“, schrieb ­Friedman am 6.12.2011 an seine Analystin Reva Bhalla.

Trotz personeller oder ideologischer Überschneidungen mit der US-Regierungspolitik, so Wikileaks, operierten Stratfor und vergleichbare Firmen vollkommen im Geheimen und ohne politische Aufsicht oder Rechenschaftspflicht. „Stratfor behauptet, dass es ‘ohne Ideolo­gie, Agenda oder nationales Vorurteil’ arbeitet. Und doch belegen die Emails, wie sich die privaten Geheimdienstange­stellten eng mit der Politik der US-Regierung verbinden und Hinweise an den Mossad geben“, verlautberte Wikileaks in einer Erklärung, die am Tag des Launches seiner Seite über Stratfor verbreitet wurde.

Beunruhigt zeigte sich Wikileaks, das seit Längerem eine beidseitige Intimfeindschaft mit Stratfor verbindet, auch über Stratfors „Bündnisprogramm“ mit verschiedenen Medienhäusern. Es sei für Journalisten durchaus akzeptabel, Infor­mationen zu tauschen oder von ­anderen Medien bezahlt zu werden. Aber Stratfor sei ein privater Geheimdienst, der im Dienste von Regierungen und Privatkun­den steht. Derartige Beziehungen hätten einen korrumpierenden Einfluss auf die beteiligten Medien.

Strafor-CEO Friedman sah die Wikileaks-Aktion verständlicherweise anders. In einer Nachricht an seine Kunden beschrieb er die Veröffentlichung der inter­nen Kommunikation als „verabscheuungswürdigen, unseligen – und ­illegalen – Bruch der Privatsphäre. (…) Die Veröf­fentlichung der Emails ist ein direkter Angriff auf Stratfor.“ Stratfor widerspricht auch seiner Außenwahrnehmung als privater Geheimdienst. In einer Einführung findet sich: „Stratfor arbeitet im Verlags­wesen und verlegt ein einziges Produkt: unseren online-Intelligence-Service. Stratfor konzentriert sich auf ein einziges Thema: internationale Beziehungen. Es arbeitet mit Geheimdienstinformationen anstatt mit journalistischen Methoden, um Informationen zu sammeln, und benutzt die Geopolitik als analytisches Modell, um die Welt zu verstehen.“

Grundfragen
Wie in anderen Fällen erlebte auch dieses Thema nur einen Nachrichtenzyklus und verschwand wieder aus den Schlagzeilen. Das individuelle Unternehmen Stratfor wurde kurz skandalisiert – der Dunstkreis um Denkfabriken, Medien und Geheimdiensten aber scheint in Deutschland nicht von vorrangigem Interesse zu sein.

Dabei sind Stratfors Analysen gehaltvoller und sachlicher als das, was „Spiegel“, „Die Welt“, „Taz“ & Co. bei strategischen und geopolitischen Themen zu bieten haben. Das Team um George Friedman ist sich beispielsweise zu Schade, vom iranischen Präsidenten als dem „Irren von Teheran“ zu sprechen. Trotz Überschneidungen mit den Neocons findet sich in Stratfor keine Panikmache, sondern nüchterne Analyse. Und während manche „Edelfeder“ unter Deutschlands Chefredakteuren von Präventivangriffen gegen Teheran und einem „Befreiungskrieg“ in Syrien träumt, schlagen die Analysen aus dem Hause Friedman und die – unfreiwilligen – Veröffentlichungen seiner Emails andere Töne an.

Hinterfragt werden muss hingegen das generelle Verhältnis zwischen unabhängige, Investigativ-Journalismus (dem Ideal) und real existierenden Überschneidungen zwischen einer zeitgenössischen Medien- und Meinungsindustrie einerseits und den privatisierten Geheimdiens­ten andererseits. Wie die Liste der Wikileaks-Kooperationspartner zeigt, ist ein derartiger Verfall durchaus real. Und es sind eben jene Medien, die unser Bild vom Rest der Welt mitprägen.