"IZ-Begegnung" mit dem jungen Autor und Journalisten Eren Güvercin über sein neues Buch und die Lage der Muslime in Deutschland

(iz). Wie ist die Lage der deutschen Muslime? Bisher waren es vor allem Beobachter von Außen, die dazu – mehr oder weniger qualifizierte – Aussagen treffen. Im April erscheint im Herder Verlag „Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation“. Darin versucht der junge Autor Eren Güver­cin, neue und nach ­vorne weisende Antworten auf offene Fragen zu geben. Ihm geht es insbesondere um selbstbewusste Ansätze, mit denen sich die junge Generation der Muslime konstruktiv und überraschend zu Wort meldet.

Eren Güvercin, geboren 1980 als Sohn türkischer Eltern in Köln, studierte Rechtswissenschaften in Bonn und arbeitet als freier Journalist für verschiedene Hörfunksender und Zeitungen. Er ist Mitinitiator der „Alternativen Islamkonferenz“ und betreibt das Blog erenguevercin.wordpress.com.

Islamische Zeitung: Im April erscheint dein erstes Buch bei Herder („Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation“). Wer sind diese Neo-Moslems? Musste man für sie extra ein neues Wort erfinden?

Eren Güvercin: Ich bin kein Freund davon, dass man für die Muslime in Deutschland neue Worte erfindet. Im Laufe der Entwicklung des Buches sind wir in der Kooperation mit meinem Lektor auf die „Neo-Muslime“ gestoßen. Er fand den Titel griffig und beim zweiten Nachdenken dachte ich, dass es für den Leser auf jeden Fall spannend sein ­würde.

Bei „Neo-Muslimen“ mag man im ersten Augenblick an Neonazis oder Neoli­beralismus denken. Also Begriffe, die negativ besetzt sind. Es vermittelt aber auch etwas, das neu und frisch ist und sich daher für den Titel eignet. Man muss auch die Seite der Vermarktung im Auge behal­ten, damit potenzielle Käufer angezogen werden. Daher fand ich diesen Titel gut.

Wer die Neo-Muslime sind… (überlegt)… Das sind junge Muslime wie ich, die einen türkischen oder arabischen Hintergrund haben, aber hier geboren und aufgewachsen sind. Sie sind ein ganz natürlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft wie alle anderen auch. Als Neo-Muslime kann man ebenso die größer werdende Anzahl deutscher Muslime sehen, die – aus welchen Gründen auch immer – zum Islam gefunden haben.

Islamische Zeitung: Du hast dich, auch in der IZ, Mitte letzten Jahres an der Liberalismus-Debatte beteiligt. Dabei wendest du dich auch gegen die Etikettierung von Muslimen. Ist das nicht ein Widerspruch zu der Vorstel­lung von „Neo-Muslimen“?

Eren Güvercin: Meine Kritik ­richtete sich an alle Seiten, da mit dem Label „konservativ“ oder „liberal“ Muslime etikettiert werden. Den Vorgang habe ich generell kritisiert; unabhängig davon, wie ich zu „konservativen“ oder „liberalen“ Inhalten stehe. Interessanterweise ­wurde meine Kritik nur von den Repräsentanten eines so genannten „liberalen Islams“ zurückgewiesen. Es gab natürlich auch Gegenstimmen, und diese werden sich jetzt sicherlich auf das Wort „Neo-Muslime“ stürzen und sagen: „Herr ­Güvercin, sie betreiben ja gleichfalls dieses Labeling!“ Da muss man sich aber erst einmal das Buch anschauen und dann bin ich auch für diese Kritik offen. Wenn man das Buch liest, wird klar, dass das keine Etikettierung ist, sondern nur ein Buchtitel. Schließlich urteilen wir über ein Buch ja nicht über den Titel, sondern über den Inhalt.

Islamische Zeitung: In Zeiten des Niedergangs denken Menschen oft mehr darüber nach, was sie sind, als was sie tun – Stichwort „Identitäts-Debatte“. Sind die Neo-Muslime da anders, oder leiden sie an ihrer ­Identität? Haben sie multiple Identitäten?

Eren Güvercin: Multiple Identitäten? Keine Ahnung. Ehrlich gesagt, sind dies Begriffe, die mir nicht viel sagen. Um es einfach zu machen: Ich als junger Muslim, der in Deutschland geboren und aufge­wachsen ist, finde diese ganzen Identitätsdebatten, wonach wir zwischen zwei Kulturen stünden etc., relativ nutzlos und öde. Sie haben mich nie interes­siert. Ich pfeife drauf.

Sie stehen auch nicht im Zentrum meines Buches. Ich versuche, in separaten Themenbereichen Debattenbeiträge zu leisten, bei denen man zu Anfang nicht gedacht hätte, dass hier Muslime etwas zu sagen hätten. Diese ganze Identitätsdebatte läuft schon seit 10 bis 20 Jahren. Wenn es so weitergeht, wird auch in den kommenden 20 Jahren um Identität, Integration und Kulturkampf und was auch immer gestritten. Ich finde die Vorstellung, dass wir armen deutsch-türkischen Muslime zwischen Stühlen sitzen würden, offen gestanden recht langweilig. Das ist auch nicht mein Thema.

Ich denke, wir sollten als Muslime einmal selbstkritisch fragen, ob wir zu ­allen Themen, die in Medien debattiert werden, etwas sagen müssen. Wir sollten vielleicht auch souverän genug sein und entgegnen, dass Identitätskonflikte nicht unser Thema sind. Ich persönlich will dazu keinen Beitrag leisten. Selbst in meiner Jugend war dies nie ein Thema für mich. „Bin ich ein Türke? Bin ich ein Deutscher?“ Das hat mich nie wirklich interessiert.

Islamische Zeitung: Es gibt viele neue Projekte – innerhalb wie außerhalb der bestehenden Strukturen – dieser neuen Generation. Ist sie für dich der Motor von Veränderung?

Eren Güvercin: (überlegt)… Es gibt natürlich gerade unter den jungen Muslimen viele verschiedene Initiativen. ­Seien es die Zahnräder, Internet-Communities, Cube-Mag etc. Ich finde es grundsätzlich positiv, dass Jugendliche aus verschiedenen Hintergründen, Vereinen und Verbänden zusammenkommen und etwas gemeinsam machen. Aber diese Projekte haben mich offen gestanden nie so angesprochen, dass ich 100-prozentig dahinter stehen würde.

Die meisten beschäftigen sich immer mit den selben Dingen. Oft handelt es sich dabei um eine Reaktion auf Debatten, die uns von der Gesellschaft vorgesetzt werden. Es ist selten der Fall, dass junge Muslime eigene Themen setzen und auch einmal das Bild der Muslime in Deutschland brechen. Die ­Generation unserer Eltern konnte das nicht, weil sie aus einem ganz anderen Milieu kam und einen anderen Erfahrungshorizont hatte. Meine Eltern sind damals Ende der 1960er Jahre aus einem anatolischen Dorf direkt nach Deutschland gekommen. Sie hatten keinerlei Sprachkenntnisse, haben aber das Beste aus ihrer Situ­ation gemacht. Sie haben alles für uns getan. Selbst wenn meine Mutter eine Analphabetin ist, hat sie darum gekämpft, dass ihre Kinder die beste Bildung ­bekommen.

Es liegt jetzt an uns, gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen und voranzukommen und auch von uns aus der Gesellschaft etwas anzubieten. Ich ­finde, dass viele junge Muslime auf ihre Situation nur reagieren, als dass sie agieren würden und aus einer Position der ­Stärke vielleicht auch zu anderen als den medi­al inszenierten Themen Stellung ­beziehen würden.

Islamische Zeitung: Aus welchen Gründen auch immer haben wir einen Dschungel multipler Identitäten und Lebensentwürfe – auch unter den Muslimen. Sie sind – anders als die so genannten liberalen Kritiker – keine homogene Masse. Wie lassen sich für die Muslime im Dschungel dieser Meinungen verbindliche Positionen formulieren? Können wir verhindern, dass das ganze in Bedeutungslosigkeit abgleitet?

Eren Güvercin: Egal, welcher Strömung man angehört, gibt es immer viele gemeinsame Nenner. Entscheidend ist, dass man nicht nur zwischen Gleichgesinnten in seinem eigenen Ghetto lebt. Wir müssen aus unserem eigenen Milieu heraustreten und uns mit anderen Muslimen treffen. Ungeachtet der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Verband oder zu einer spezifischen Initiative lassen sich immer verbindliche Elemente finden.

Betrachten wir die Debatte der letzten Monate zwischen so genannten „konser­vativen“ und „liberalen“ Muslimen. Würden sich die Vertreter beider Positionen wirklich begegnen, ließen sich Punkte formulieren, die sich als gemeinsame Ansichten herauskristallisieren.

Ich halte nichts von diesen künstlichen Gräben – seien es die zwischen verbands­gebundenen und ungebundenen Muslimen. Obwohl ich selbst nie Mitglied gewesen bin und die Verbände mich persönlich auch nicht ansprechen, sehe ich bei der Begegnung mit Mitgliedern von Milli Görüs oder anderen großen Verbänden schon, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Selbst die Mitglieder eines bestimmten Verbandes sind in sich überhaupt keine homogene Masse. Es wäre beispielsweise bei der Milli Görüs unfair zu behaupten, alle ihre Mitglieder seien konservativ oder sonst was. Selbst innerhalb der „liberalen“ Muslime wird man solche finden, die teilweise konserva­tive Ansichten haben. Die Welt ist nicht so schwarz-weiß, wie wir sie uns gerne zeichnen würden. Daher ist die inflatio­näre Verwendung der Labels „konserva­tiv“ und „liberal“, um sich von den ­jewei­lig anderen abzugrenzen, eine reine Kampfrhetorik. Inhaltlich steckt da kaum was dahinter.

Islamische Zeitung: Braucht es dafür nicht Pole der Autorität, die in dieser Vielfalt Prioritäten setzen? Oft werden die unwichtigsten Fragen – wie das Binden des Kopftuchs – auf die gleiche Stufe mit den wichtigsten – wie der Zakat – gestellt. Man gewinnt den Eindruck, dass das vertikale Wissens des Islam durch die neuen Organisations­formen nivelliert wird.

Eren Güvercin: In der islamischen Geschichte übernahmen diese Funktionen immer die Gelehrten. Viele jungen Muslime beschäftigen sich mit ihrem Din. Kommt es dann zu Fragen, ist das Inter­net die erste Instanz, der sie sich zuwen­den. Zuerst wird einmal „Schaikh Google“ konsultiert, anstatt zuerst zu einem Imam des Vertrauens zu gehen. Daher ist es umso wichtiger in unserer Zeit, dass die dafür ausgebildeten Personen mit solchen Fragen konfrontiert werden.

Niemand kann behaupten, dass alle Imame in Deutschland des Deutschen nicht mächtig wären oder in einer Paral­lelgesellschaft lebten. Es gibt genau so viele Imame, die wissen, wie das Leben in Deutschland ist und die die ­Probleme der Jugendlichen kennen. Man sollte sie aber auch ansprechen.

Islamische Zeitung: Nach mehr als einem Jahrzehnt Internet, soziale Netzwerke und digitaler Endgeräte; haben sich die traditionellen Formen und Denkregeln irreversibel geändert – Stichwort „Schaikh Google“ – oder finden die jungen Muslime einfach nicht die passenden Imame, denen sie sich zuwenden können?

Eren Güvercin: Natürlich gibt es ­dieses Problem, aber es gibt gleichermaßen immer mehr junge Muslime, die sich von den traditionellen Gemeinden dis­tanzie­ren. Sie bauen eigene, quasi gemein­schaftliche Strukturen auf. Natürlich kann man auf das Wochenendtreffen ­einer Jugendorganisation gehen und dort ein schönes Wochenende haben. Aber eine Moschee vor Ort, wo man zumindest zum Freitagsgebet hingeht und eine gemeinschaftliche Realität hat, ist eine andere Sache. Das ist ein Punkt, der defi­nitiv unter jungen Muslimen thematisiert werden sollte.

Das ist halt Fluch und Segen der Technik. Ich will nicht alles verteufeln, aber Muslimen sollte bewusst sein, dass – egal, welche Technik das ist – es auch einen Einfluss auf ihren Alltag hat. Es braucht hier eine kritische Distanz, oder besser gesagt einen gelasseneren Umgang mit der Technik.

Islamische Zeitung: Glaubst Du, dass einer deiner archetypischen Neo-Muslime, deren muslimische Identität nicht unerheblich durch Twitter, Facebook und das Internet geprägt wird, überhaupt noch in der Lage ist, so etwas wie die traditionelle Wissens­aneignung zu verstehen?

Eren Güvercin: Das Problem ist, dass sie es nicht kennen. Würden sie es kennenlernen, würden sie es definitiv schätzen. Ich glaube, sie versuchen sich aus dieser Unkenntnis heraus im Internet eine alternative Sicht zu suchen. Ich habe einen Zugang dazu, aber viele andere im meinem Umfeld haben es nicht. Könnten sie den qualitativen Unterschied erkennen, würden sie verstehen, dass das Internet kein authentisches Wissen ­bietet, sondern bloße Information. Die ­direkte Wissensvermittlung ist etwas ganz ande­res als die bloße Vermittlung von Information über das Internet etwa.

Die großen muslimischen Organisatio­nen, welche die Ressourcen dazu haben, sind in der Verantwortung, die muslimischen Jugendlichen auch mit diesem Wissen in Verbindung zu bringen. Wenn sie nicht dazu in der Lage sind, haben sie versagt.

Islamische Zeitung: Gelegentlich hat man das Gefühl, dass allen neuen Ansätze – von den „liberalen Muslimen“ bis zu den „Neo-Salafiten“ – die Herzenswärme und der Stallgeruch der alten Hadschis fehlt, die noch eine innere Verbindung zum Propheten und zu Medina haben. Das ganze wirkt manchmal etwas steril. Teilst du ­diese Erfahrung und brauchen wir dazu nicht ironischerweise „alte“ ­Elemente wie die Futuwwa?

Eren Güvercin: Im ersten Kapitel meines Buches würdige ich die erste Generation meiner Eltern, die hier alles aufgebaut hat. Ich habe sie als die „goldene Generation“ bezeichnet – ganz besonders die Frauen. Sie haben ganz viel ­geleistet. Gerade durch die einfache Spiritualität der anatolischen Bauern haben sie uns ganz viel vermittelt. Das können nur die wissen, die das auch erfahren haben. Was uns meine Eltern an Spiritualität ­gegeben haben, findet man an keiner Universität, auf keinem Wochenendtreffen, in kei­nem Iman-Seminar oder sonst irgend­wo. Ich glaube, dass wir als junge Muslime, die in Deutschland geboren wurden, glauben: „Wir sind fortschrittlich und haben in Europa eine gute Bildung genossen.“ Ich denke, dass wir langsam merken, was wir an unseren alten ­Leuten haben. Es ist genau diese ­Herzenswärme, die sie uns in den Hinterhofmoscheen vermittelt haben. Heute haben wir neue, repräsentative Moscheebauten, aber wenn die Spiritualität fehlt, dann nutzt auch das schönste Gebäude nichts. Es waren Menschen, die nicht viel zu reden brauchten, um echtes Wissen zu vermitteln. Auch in der gesellschaftlichen Debatte kommt die Wertschätzung der ganzen Gastarbeiter-Generation viel zu kurz.

Islamische Zeitung: Nehmen wir dein Buch als Ausgangsbasis; was wäre die Quintessenz, aus der man neue Sachen entwickeln könnte?

Eren Güvercin: Gegen Ende gehe ich auf meine Idee einer alternativen Islamkonferenz ein. Für manche mag das eine Provokation sein, weil man glauben könnte, dass es sich dabei um ein Konkurrenzprodukt zur DIK handelt. Die ihr zugrunde liegende Idee ist, dass bei einer wirklichen innermuslimischen Begegnung auf Augenhöhe womöglich vorher da gewesene Differenzen sich erfahrungsgemäß von selbst auflösen werden. Ich versuche mit Unterstützung von Feri­dun Zaimoglu, alle relevanten Muslime zusammenzubringen – konservativ oder liberal, organisiert oder unorganisiert. Wir sollten miteinander, statt übereinan­der reden. Es geht nicht um die Gründung einer Über-Organisation, sondern das einzige Ziel ist, dass sich die verschie­denen Muslime begegnen, sich austauschen und meinetwegen auch sich streiten. Das ist bisher niemals der Fall gewesen. Bisher kamen die Muslime nur auf Einladung seitens Dritter zusammen, wo es aber niemals ein Gespräch auf Augenhöhe gab.

Islamische Zeitung: Das scheint ja einer der Punkte zu sein, an dem du dich mit Lamya Kaddor triffst, die im letzten Monat einen „Muslimtag“ ­vorschlug…

Eren Güvercin: Die Idee stammt ja von Abdul-Ahmad Rashid, dem ZDF-Redakteur vom „Forum am Freitag“, den ich sehr schätze. Ich finde den Vorschlag auch gut, nur handelt es sich dabei um etwas anderes. Seine Idee ist die Organisation eines öffentlichen Events nach dem Vorbild des Kirchentags.

Ich finde solch ein Vorhaben wichtig und würde so etwas auch sofort unterstützen. Es geht mir bei der Alternativen Islamkonferenz aber um eine Debatte unter den Muslimen, bei der über alles gesprochen werden kann – meiner Meinung auch gerne hitzig. Um diese Offen­heit zu gewährleisten, braucht es einen geschützten Raum. Es muss auch Zonen geben, in denen die Muslime untereinan­der sein können. Dialogveranstaltungen haben wir meiner Meinung nach genug gehabt in den letzten Jahren. Warum soll es nicht auch einmal einen wirklichen Dialog unter Muslimen geben?

Islamische Zeitung: Lieber Eren, vielen Dank für das Gespräch.

Interview mit dem Philosophen Alfred Denker

Martin Heidegger sorgt heute immer noch für viele Irritationen und Polarisierungen. Die einen lieben ihn, andere wiederum halten ihn für einen Nazi-Philosophen. Aber sowohl Kritiker und Verteidiger Heideggers geben zu, dass man an ihm als Philosophen des letzten Jahrhunderts nicht vorbeikommt. Sein Hauptwerk “Sein und Zeit” ist für jeden, der sich mit der Philosophie beschäftigt, eine Pflichtlektüre. (Das Gespräch führte Eren Güvercin)

Frage: Wieso polarisiert ein Denker wie Heidegger heute immer noch die Menschen?

Alfred Denker: Mit Wittgenstein ist Heidegger der einflussreichste Philosoph des 20. Jahrhunderts. Selbst wenn man seine Philosophie für bedeutungslos halten würde, kann man die Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts ohne sein Denken nicht verstehen. Seine Philosophie war in ganz verschiedenen Bereichen einflussreich. Neben der Philosophie vor allem in der Theologie, Psychiatrie, Literaturwissenschaft oder der Ökologie, und selbst Naturwissenschaftler wie Heisenberg und von Weizsäcker hat sein Denken angeregt. Gerade in Frankreich hat er einen ungeheuren Einfluss gehabt: von Sartre und Levinas zu Ricoeur und Foucault. Im Lichte von Heideggers Rektorat stellt sich die Frage, ob und inwieweit er im Nationalsozialismus verstrickt war und welche Folgen das für die von Heidegger inspirierte Philosophie hat. Dazu kommt, dass er in bestimmter Hinsicht ein Existentialist „avant la lettre“ war und als Person höchst interessant ist. Denken Sie nur an die Liebschaft mit Hannah Arendt. Er ist einer der Menschen, die man hasst oder liebt. Deshalb polarisiert er auch heute die Menschen.

Frage: Sie haben sich sehr intensiv mit dem Philosphen Martin Heidegger beschäftigt. Jüngst ist Ihr Buch “Unterwegs in Sein und Zeit” erschienen. Es ist eine Art Einführung in die Person und das Denken Heideggers. Wie stehen Sie zu den Vorwürfen, dass Heidegger in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen sei? Der französische Philosoph Emmanuel Faye bezeichnet ihn ja sogar als Vordenker des Nationalsozialismus.

Alfred Denker: Erstens muss jeder, der sich ernsthaft mit Heidegger befasst, die Vorwürfe ernst nehmen. Dazu kommt zweitens, dass ich den Nationalsozialismus verabscheue und mich nicht so intensiv mit Heidegger befassen würde, wenn er tatsächlich ein Nazi gewesen wäre. Es ist wichtig, genau zu untersuchen, wie Heidegger sich in die Nähe des Nationalsozialismus bewegt und wo er sich wieder kritisch davon trennt. Wir können so auch verstehen lernen, warum der Nationalsozialismus so viele Menschen begeistert hat. Es ist ganz schwer sich in die Lage von 1933 zurück zu versetzen. Die Behauptung, dass Heidegger ein Vordenker des Nationalsozialismus gewesen sei, ist leicht zu widerlegen. Selbst wenn Hitler Heidegger gelesen hat, hätte er nur politisch völlig uninteressante Texte lesen können. Von Heideggers Dissertation, Habilitationsschrift und Sein und Zeit gibt es keinen Weg zu Mein Kampf.

Frage: In seinen späteren Werken reflektierte Heidegger über das Wesen der Technik. Was für einen Bezug oder Beitrag kann Heideggers Spätwerk auf das Verständnis einer sich immer mehr als Einheit zeigenden neuen Welt, zwischen der Raserei der Globalisierung und der Quasi-Offenbarung des Internet, haben?

Alfred Denker: Der Beitrag, den Heideggers Denken immer leisten kann, ist das Fragen. Er stellt das für uns Selbstverständliche in Frage. Ein gutes Beispiel ist seine Behauptung, dass die Wissenschaft nicht denken kann. Damit meint er, dass für die Wissenschaft die existentiellen Fragen des menschlichen Lebens unlösbar sind. Meine Berufswahl, ob ich heirate oder nicht, usw. sind keine wissenschaftlichen Probleme. Es ist wunderbar, dass wir heute in einer Sekunde unendliche Informationen abrufen können. Heidegger würde aber sagen, dass Information keine Erkenntnis ist. Was wir von Heidegger auch lernen können, ist, dass die Globalisierung ein Prozess ist, der nicht vom Menschen gesteuert wird und dass dieser sich unserer Macht entzieht. Dies bedeutet, dass es keine einfache Lösung geben kann, was für Politiker schade ist, da sie alle Probleme innerhalb von vier Jahren lösen müssen.

Frage: Kann jemand, der Heideggers Werk studiert, überhaupt noch ein “blinder Parteigänger” sein? Immerhin sieht er die Lösung der Grundfragen unserer Zeit eben nicht in alten politischen Ideologien. Im legendären Spiegel-Interview von 1976 sagte er: “Nur noch ein Gott kann uns retten.”

Alfred Denker: Was ich Heidegger abnehme, ist, dass ich als Philosoph immer weiter fragen soll und immer wieder das Selbstverständliche in Frage stellen soll. Eine Ideologie ist eine nicht mehr in Frage gestellte Theorie und deshalb gefährlich. Einfache Lösungen gibt es leider nicht und ein Rezept für den Himmel auf Erden auch nicht. Tod und Krankheit gehören zur menschlichen Existenz. Ewig leben können wir als Menschen nicht. Die Aussage „Nur noch ein Gott kann uns retten“ ist m.E. unglücklich, weil sie nicht ausgewiesen werden kann. Dazu kommt, dass wir in unserer Zeit die Gefahr von religiösen Ideologien kennen gelernt haben. Von „Nur noch ein Gott kann uns retten“ zu „Nur dieser Gott kann uns retten“ ist es ein kleiner Schritt. Ich würde lieber sagen (und das wäre m.E. Heideggers Gedanke): „Kein Mensch kann uns retten“. Nur wir endliche Menschen in unserem Zusammenleben können versuchen, diese Problemen zu lösen. Das ist nicht viel, aber zumindest etwas.

Frage: Kann man in Zeiten der größten Finanzkrise, die wir gerade erleben, Heideggers Technikanalyse in Zusammenhang mit den modernen Abgründen der Finanztechnik bringen? Wenn man sich die Auswüchse der globalen Finanztechnik betrachtet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass “nicht wir die Technik in der Hand haben, sondern sie hat uns in der Hand”, um mit Heidegger zu sprechen…

Alfred Denker: Es ist eine wichtige Aufgabe, Heideggers Denken aufzugreifen, uns weiter zu entwickeln in Richtungen, die Heidegger nicht gegangen ist. Die Finanztechnik könnte als neue Erscheinung des „Gestells“ gedeutet werden. Vielleicht könnten wir dann sagen, dass das Geld vom Mittel zum Zweck geworden ist und gerade deshalb sein Wesen verfehlt. Heidegger würde sagen, dass die Krise der Finanztechnik finanztechnisch unlösbar ist. Die Versuche, Griechenland finanztechnisch vom Bankrott zu retten, belegen dies. Dies würde bedeuten, dass eine Systemänderung notwendig wäre, und diese könnte nur politisch durchgesetzt werden.

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