Frankreich: 20 Jahre nach den Bekleidungs-Verboten an Schulen

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Kreuz, Kippa oder Kopftuch: Religiöse Kleidung ist an Frankreichs Schulen seit 20 Jahren verboten.

(KNA). An jedem späten Nachmittag – mit Ausnahme der Wochenenden – bietet sich dem Beobachter in französischen Städten ein etwas seltsam anmutendes Bild. Junge Mädchen verlassen nach Schulschluss das Schulgelände und ziehen als erstes ihr Kopftuch wieder auf. Denn innerhalb der Schulmauern sind alle Formen von Kopfschleiern verboten – seit nunmehr 20 Jahren. Von Johannes Senk

Frankreich: Irrationalität im Umgang mit Kleidung

Am 10. Februar 2004 stimmte die Nationalversammlung dem sogenannten Gesetz zu religiösen Zeichen in öffentlichen Bildungseinrichtungen mit einer klaren Mehrheit zu. Schülerinnen und Schülern wurde damit mit dem neuen Schuljahr 2004/2005 das Tragen aller deutlich sichtbaren religiösen Symbole im Unterricht untersagt.

Grundlage dafür ist Frankreichs Verfassung. Seit 1905 sind Staat und Kirche streng separiert. Seitdem ist das nationale Bildungswesen – so werden dessen höchste Repräsentanten in der „Grande Nation“ selten müde, mit Stolz zu betonen – laizistisch, also strikt von religiösen Einflüssen getrennt. So sucht man in den Lehrplänen auch Religionsunterricht vergeblich.

1905 schrieben die Parlamentarier eine Gleichbehandlung aller Konfessionen vor – obwohl es außer der katholischen Kirche damals praktisch keine Adressaten gab. Knapp 100 Jahre später, beim Gesetz gegen religiöse Zeichen, scheint sich der Gedanke auf den ersten Blick zu wiederholen. Doch ist im Gesetzestext der Zusatz „ostensiblement“ – übersetzt etwa deutlich sichtbar oder demonstrativ – durchaus zu beachten. Denn während ein Kreuz auch recht dezent unter der Kleidung verborgen werden kann, geht das mit einem Kopftuch eben nicht.

Antimuslimische Wirkung eines Gesetzes

So wurde das Gesetz – wenn auch von Funktionsträgern vehement bestritten – schnell als antimuslimische Gesetzgebung ausgelegt. Und die jüngsten Entwicklungen scheinen diese Interpretation zu stützen. So untersagte die Regierung in Paris zum Schuljahresbeginn 2023 auch das Tragen von Abayas und Quamis im Klassenzimmer. Die Obergewänder sind vor allem bei Männern und Frauen aus den nordafrikanischen Maghreb-Staaten und dem Nahen Osten beliebt – also aus islamisch geprägten Gesellschaften, die in Frankreich große Minderheiten stellen.

Der damalige Bildungsminister Gabriel Attal verteidigte seinerzeit das Verbot im Fernsehen. Es solle Lehrkräfte unterstützen, den laizistischen Anspruch im Klassenraum durchzusetzen. Denn: „Laizität ist keine Beschränkung, sie ist eine Freiheit“, so Attal mit dem erwähnten Nationalstolz.

Streit um Bedeutungen

Doch so klar, wie der Minister es formuliert hat, ist die Auslegung des Beschlusses in der Realität nun nicht. Denn die Meinungen gehen deutlich auseinander, ob es sich bei Abaya und Quamis tatsächlich um religiöse Gewänder handelt.

Aus Sicht des Islamverbandes Action droits des musulmans werde damit nicht zwingend eine religiöse Überzeugung ausgedrückt, sondern eine „Verbindung mit einer Kultur oder Region“.

Der Beschluss ziele hauptsächlich auf „mutmaßlich muslimische Kinder“ ab und sei diskriminierend, insbesondere für Mädchen arabischer oder afrikanischer Herkunft, argumentierte der Verband und legte eilig eine Beschwerde ein. Diese wurde aber vor Gericht abgewiesen; das Verbot bleibt in Kraft.

Andererseits gibt es Profiteure des Verbots; allen voran der erwähnte Minister Attal. Mit 34 Jahren damals jüngster Bildungsminister der Republik, zudem wortgewandt und charismatisch, empfahl er sich für höhere Aufgaben. Nach dem Rücktritt von Ministerpräsidentin Elisabeth Borne Anfang Januar berief ihn Staatspräsident Emmanuel Macron zum neuen Regierungschef – auch hier der Jüngste jemals im Amt.

Und auch in Sachen religiöser Kleidung erhielt Attal nochmals Rückenwind aus dem Elysee-Palast. Denn Macron sprach sich nun perspektivisch bis 2026 für die Einführung von Schuluniformen aus. Damit wären Diskussionen um Kopftücher wie Abayas vom Tisch. Für eine Testphase von Schuluniformen hatte sich kurz nach seinem Amtsantritt als Bildungsminister auch Attal ausgesprochen.

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Frankreichs Riots durch das Kino erklären

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Frankreich: Das Kino unseres Nachbarlandes beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Banlieues und Konfliktursachen. (The Conversation). Frankreich wurde im Frühsommer von tagelangen Unruhen erschüttert, nachdem ein unbewaffneter Jugendlicher algerischer Herkunft […]

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Der Mythos von Paris

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Paris: Die französische Hauptstadt beeinflusst das Denken in der ganzen Welt. (iz). Im 19. Jahrhundert entstand unter der Herrschaft Napoleons III. das Stadtbild des modernen Paris. Jedes Jahr bewundern Millionen […]

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Frankreich und die Moral

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Frankreich: Überlegungen zum Kolonialkrieg und einer potenziellen Kollektivschuld der Franzosen

(iz). Jedes Jahr besuchen tausende Touristen die Stadt Amboise an der Loire und das Schloss aus dem 15./16. Jahrhundert. Viele Gäste wundern sich über die muslimischen Gräber in der Parkanlage. Sie wissen oft nicht, dass im 19. Jahrhundert der französische Staat das Gebäude als Gefängnis für den algerischen Widerstandskämpfer Abd el-Kader nutzte.

Frankreich oder der Emir im Schloss

Der Emir führte an der Spitze aufständischer Stämme 1832-1847 den Kampf gegen die Kolonialisten und war bis zu seiner Verhaftung die Führungsfigur des Widerstandes. Vom 8. November 1848 bis zum 17. Oktober 1852 hielt er sich zusammen mit seiner Entourage im Schloss auf.

In den Jahren der Gefangenschaft erklang der Gebetsruf aus der provisorischen Moschee, die im Minimes-Turm eingerichtet wurde. Abdel el-Kader, so erzählt man, rätselte während seines Aufenthaltes darüber, warum ein Land, das über so viel Wasser und grüne Landschaften verfügt, ausgerechnet eine Wüste eroberte.

Foto: parismuseescollections.paris.fr, via picryl.com | Lizenz: Public Domain

Der Charakter des gebildeten Emirs beeindruckt bis heute Freund und Feind. Im Einklang mit dem islamischen Recht waren ihm Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, der Einsatz moderner Kriegstechniken, des Terrors oder Selbstmordattentate fremd. Mit dem Begriff des Nationalismus hätte er zu seiner Zeit wenig anfangen können. Zudem beherrschte er nicht nur das Kriegshandwerk.

Nachdem er mit seinen Lehrern den Qur’an auswendig lernte, studierte er die Grundlagen des malikitischen Rechts, beschäftigte sich mit Literatur, Mathematik, Astronomie und der Heilkunde. Nach seiner Freilassung durch Napoleon III. lebte er in Damaskus und verhinderte 1860 mit seinen Kämpfern ein Massaker an Christen. In Amboise erinnert seit einigen Jahren ein Denkmal an das Symbol des algerischen Widerstandes.

Debatte um die Kolonialgeschichte

Schon im 19. Jahrhundert begann der Kampf der Philosophen und Schriftsteller um die Deutungshoheit der Kolonialgeschichte. In den Äußerungen des großen Victor Hugo verstecken sich bereits die moralischen Ansprüche und Widersprüche, die die Debatte über den Konflikt bis heute prägen.

Er veröffentlichte einerseits ein wohlwollendes Gedicht, das er Abdel el-Kader widmete: „Er, der wilde Mann der Wüste, er, der unter den Palmen geborene Sultan, der Gefährte der roten Löwen, der wilde Hadji mit ruhigen Augen, der nachdenkliche, wilde und sanfte Emir“. Andererseits bekannte sich Hugo, 1841, nachzulesen in seinem Tagebuch Ozean, zu den geistigen Legitimationsgrundlagen der Landnahme:

„Die Zivilisation geht über die Barbarei hinweg. Ein aufgeklärtes Volk wird auf ein Volk treffen, das in der Finsternis lebt. Wir sind die Griechen der Welt; es ist unsere Aufgabe die Welt zu erleuchten!“ Algerien wurde 1848 zu einem integralen Bestandteil des Mutterlandes erklärt.

Einige Jahre später, nachdem Victor Hugo zum überzeugten Republikaner mutiert war, zeigte er sich empört über die Repressalien gegen die „Eingeborenen“. Er schreibt: „In Afrika herrscht Barbarei, das weiß ich.“ Er prangert in Fragments d’histoire die Übergriffe der französischen Armee an: „Bei Stürmen, bei Razzien war es nicht ungewöhnlich, dass Soldaten Kinder aus Fenstern warfen (…).“

Leider hat Hugo keines seiner großen Werke über das Schicksal der Menschen und die brutale ausgeführte „soziale Chirurgie“ (Bourdieu), die Auflösung der traditionellen algerischen Gesellschaft in der Siedlungskolonie, geschrieben.

Foto: gemeinfrei

Algerien oder der Schrecken im Gedächtnis

Spricht man heute über Algerien, sind es in erster Linie die schrecklichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Ausgerechnet im Jahr der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung ereignete sich im algerischen Sétif, am 8. Mai 1945, ein Massaker.

Zehntausende Algerier, die das Ende der Kolonialherrschaft forderten, fielen den französischen Militärs zum Opfer. In heutiger Geschichtsschreibung wird in den Übergriffen der Ausgangspunkt für den 1954 beginnenden Algerienkrieg gesehen.

Die marxistisch-nationalistische FLN entschied sich für die Taktik des Terrorismus. Der Kolonialmacht gelang es, militärisch die Oberhand zu behalten. Zuhause stritt die Nation über Kriegsverluste, Folter und Menschenrechtsverletzungen. Längst war der Krieg auch im Frankreich angekommen.

Das „Massaker von Paris“, ein Massenmord in der Hauptstadt am 17. Oktober 1961, ging in die Geschichte ein. Die Polizei reagierte auf Anordnung der Verwaltung brutal gegen eine nicht genehmigte, aber friedliche Demonstration Zehntausender Algerier, zu der die Unabhängigkeitsbewegung FLN aufgerufen hatte. Dabei kamen mindestens 200 Menschen ums Leben.

Charles de Gaulle verhandelte mit den algerischen Anführern, was zur Befreiung des Landes führte. Der Krieg endete im März 1962 durch die Verträge von Évian mit einer Verhandlungslösung, welche die Unabhängigkeit Algeriens unter Führung der FLN zur Folge hatte. Verabschiedet wurde ebenso ein zweites Dekret, wodurch auch alle von der Kolonialmacht begangenen Kriegsverbrechen straffrei wurden, darunter Folter, Vergewaltigungen und kollektive Vergeltungstaten.

Photo: TOUTON spahi, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 4.0

Streit der Erinnerungskulturen

Nach der Unterzeichnung der Verträge verließen Hunderttausende Franzosen Algerien. Die, in ihrem Selbstverständnis, Patrioten fanden keine politische Heimat in den etablierten Parteien, stand doch der von ihnen verachtete de Gaulle an der Spitze der führenden Formation der gemäßigten Konservativen.

Vor diesem Hintergrund wurden sie zu einer wichtigen, ja entscheidenden Ressource des Nationalismus der extremen Rechten, der sich seit den 1970er Jahren um Jean-Marie le Pen herausbildete.

Zu den dunklen Kapiteln der Geschichte gehört auch das Schicksal der Algerier, die mit den Kolonialherren zusammenarbeiteten. Bei Kriegsende 1962 gab es rund 45.000 Harkis (Kollaborateure), 60.000 Wehrdienstleistende und 20.000 Berufssoldaten aus Algerien in der französischen Armee, dazu 60.000 Mitglieder örtlich gebundener Milizen.

Darüber hinaus gab es neben dem Militärapparat noch rund 50.000 Staatsangestellte. Nach der Unabhängigkeit kam es zu zahlreichen gewalttätigen Übergriffen der FLN und von Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung.

Bis heute streiten sich die VertreterInnen der verschiedenen Erinnerungskulturen über die ethische Bewertung der Ereignisse. Die Historiker formulierten das Problem: Ein Konsens der gemeinsamen Erinnerungen gelang nicht, da die Erfahrungen der Beteiligten extrem unterschiedlich waren. Auf der moralischen Ebene entzündete – insbesondere in der intellektuellen Szene von Paris – ein erbitterter Streit um die Notwendigkeit und Beurteilung des Einsatzes von Gewalt.

Foto: James Joel, via flickr | Licence: CC BY-ND 2.0

Camus vs. Sartre

Berühmt geworden sind die Auseinandersetzungen der Philosophen Camus und Sartre über die Deutung des Kolonialismus. 1961 schrieb Sartre sein umstrittenes Vorwort zu dem Buch „die Verdammten dieser Erde“ von Frantz Fanon. Moralist sein, hieß für den algerischen Psychologen, den Kolonisierten etwas Handfestes entgegenzusetzen, den Dünkel des Kolonialherren zum Schweigen bringen, seine offene Gewalt brechen und „ihn rundweg von der Bildfläche vertreiben“.

Sartre stimmte zu und schrieb einige seiner umstrittensten Sätze: „Zum Beginn einer jeglichen Revolte muss man töten: einen Europäer zu töten heißt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, im gleichen Atemzug einen Unterdrücker und einen Unterdrückten zu vernichten. Es bleiben ein toter Mann und ein freier Mann übrig, der Überlebende fühlt zum ersten Mal einen nationalen Boden unter seinen Füßen.“

Recht behielt Sartre mit einer anderen Ankündigung: „Die Vereinigung des Algerischen Volkes bringt die Entzweiung des französischen Volkes hervor.“

Die These der Spaltung der Franzosen zeigte sich in dem Konflikt mit Albert Camus über die Gewalt und den Terror. Sartre attackierte 1961 seinen Gegner, inzwischen verstorben, mit Sarkasmus: „Die Gewaltlosen haben gut lachen: weder Opfer noch Henker. Was soll das?“ Seitdem Albert Camus 1939 Das Elend in der Kabylei veröffentlichte, wurde ihm vorgeworfen, keine klare Benennung der Schuldigen vorgenommen zu haben und ein „wohlmeinender Kolonialist“ zu sein.

In seiner Biographie über Camus Im Namen der Freiheit stellt Michel Onfray die Eindeutigkeit der moralischen Schuld in Übereinstimmung mit den Thesen des Schriftstellers in Frage: War ein algerischer Weißer in den 1950er Jahren gleichzusetzen mit einem 1830 einmarschierten Soldaten? Waren die in Algerien geborenen Europäer qua Geburt schuldig?

„Achtzig Prozent der Franzosen in Algerien sind keine Kolonialherren, sondern Angestellte oder Kaufleute“, schrieb Camus gegen die Behauptung einer Kollektivschuld an. Er war der Ansicht, dass es bei dem Unabhängigkeitskampf weniger darum ging, die Lebensumstände der verarmten Bevölkerung zu verbessern.

Er sah in ihm vielmehr eine Ausgeburt des Pan-Arabismus, ein ideologisches Projekt, das die Unterstützung Moskaus genoss. Sein Engagement galt einer friedlichen Koexistenz zwischen Europäern und Algeriern, weshalb er von vielen Algerienfranzosen wie ein Verräter behandelt wurde.

Die Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung wiederum verziehen ihm nie, dass er einmal über die Bombenattentate in Algier sagte, seine Mutter könne davon betroffen sein, und er ziehe seine Mutter der Gerechtigkeit vor, wenn Gerechtigkeit so aussehe. „In einer an große ideologische Maschinerien und deren monströse doktrinäre Dispositive gewöhnten Welt plädierte Camus für eine politische Mikrologie“, fasst Onfray die gewaltfreie Utopie des Philosophen zusammen.

Foto: 35e RAP – officiel , via Wikimedia Commons | Licence: CC BY-SA 4.0

Alternativen zur Gewalt entwickeln

Im Gegensatz zu Sartre sah sein Kontrahent keine Notwendigkeit, die Kolonisten umzubringen. Man müsse, so argumentierte er, nur aufhören, sich dem Kolonialismus zu unterwerfen, und gemeinsam eine friedliche, libertäre Alternative entwickeln. Camus setzte auf freie selbstverwaltete Kommunen, Genossenschaften und Kooperationen statt auf den Nationalismus.

Fakt ist: Algerien kam in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit nicht zur Ruhe. In seinen „Algerischen Skizzen“ stellt Pierre Bourdieu fest: „Die zweifellos gefährlichste Illusion wäre eine, die man den Mythos der revolutionierenden Revolution nennen könnte, daß nämlich der Krieg wie durch Magie die algerische Gesellschaft von Grund auf verändert hätte; und darüber hinaus alle Probleme gelöst hätte, einschließlich der Probleme, die durch ihn entstanden sind.“

Die Kritik an Frankreich verstummte trotz aller Versuche der Annäherung und Versöhnung nie. Mit Blick auf das frankophone Afrika wurden die von Paris beherrschten Netzwerke in den ehemaligen Kolonien seit der Dekolonialisierung in den 1960er Jahren unter dem Stichwort Franceafrique kritisiert.

Foto: MINUSMA, Marco Dormino

Sahel-Staaten erinnern an Vergangenheit

Die aktuellen Ereignisse in der Sahel-Zone erinnern an die alten Vorwürfe einer von ökonomischen Interessen geleiteten französischen Geopolitik. Insbesondere die Jugend in der Region will von Frankreich nichts mehr wissen. Ob die Annäherung an kapitalistische Länder wie China oder Russland, die ohne die Achtung rechtsstaatlicher Standards agieren, die ehemaligen Kolonien der ersehnten Freiheit näher bringen, bleibt eine offene Frage.

In Europa wird es wichtig sein, wie die Muslime Deutschlands und Frankreichs auf diese Debatten reagieren und welche Lehren sie aus der Geschichte ziehen. Die deutsch-französische Freundschaft ist für alle BürgerInnen, mit oder ohne Immigrationshintergrund, ein bedeutendes Symbol der Überwindung des Nationalismus.

Der Streit um die Rolle der Kolonialmächte und den Widerstand dagegen, dreht sich letztlich aus muslimischer Sicht um die Unterscheidung zwischen revolutionären Ideologien und der klassischen Lehre.

Schon Bourdieu erinnerte an die Wesensveränderung, die eine vollständige Politisierung des Glaubens mit sich bringen kann: „Der Islam hat allmählich seine Bedeutung und Funktion verändert, weil er von Praktiken und magisch-mythischen Glaubensvorstellungen isoliert worden ist, die ihn im Heimatboden verwurzelt hatten, und weil er für einen Moment, mehr oder weniger bewußt, als revolutionäre Ideologie benutzt wurde, die fähig ist, die Massen zu mobilisieren und zum Kampf zu bewegen.“

Nach den neuerlichen Unruhen in den Banlieues hörte man aus den verschiedenen Lagern wieder Parolen, die an die ideologischen Gräben aus der Kolonialzeit erinnern: „Frankreich und die Franzosen, oder, der Islam und die Muslime sind an allem Schuld!“

In der taz beklagte Mohamed Amjahid zu Recht die Polizeigewalt und den institutionellen Rassismus inmitten Europas. Problematischer ist die bekannte moralische Frage nach der Legitimität von Gewalt, die der Kommentar aufwirft:

„Auch in anderen Ländern mussten in den vergangenen Jahren Polizeiwachen in Flammen aufgehen, damit die Schwächsten eine Überlebenschance bekommen. Diesen Zusammenhang zwischen Mobilisierung und Selbstschutz verstehen nur die wenigsten. (…) Rein analytisch und aus der Perspektive der Demonstrant*innen betrachtet: Paris muss brennen, damit sich zumindest kurzfristig etwas in Sachen Polizeigewalt im Land tun könnte.“

Die Versöhnung in der französischen Gesellschaft und in der Außenpolitik hat einen langen Weg vor sich. Der Vernünftige sieht ein, dass jede Gewalttat die Konflikte verschärfen und die Extremisten stärken wird. Vielleicht hat ja Camus Recht, der zu seiner Zeit nach innovativen Ansätzen jenseits der Ideologien suchte: „Wir müssen in Nordafrika und in Frankreich neue Formeln und Methoden finden, wenn wir wollen, dass die Zukunft für uns noch einen Sinn macht.“

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Abaya: Paris will ein Verbot an Schulen

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Abaya: Frankreichs Regierung schafft das Tragen eines langen Überkleides. Es scheint unausgegoren. Paris (KNA). Die Entscheidung war erwartet worden. Frankreichs neuer Bildungsminister Gabriel Attal will das Tragen der Abaja, des […]

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Straßengewalt: Absolute Mehrheit der Muslime ist empört

Frankreich Straßengewalt

Straßengewalt: Die überwältigende Mehrheit der Muslime in Europa hat kein Verständnis für Ausbrüche.

(iz). „Mehr Krippenplätze, Arbeitsplatzförderung, Maßnahmen gegen Radikalisierung – und mehr Polizei“ kündigte der französische Präsident Macron 2017 an. Offensichtlich waren diese Maßnahmen für die Lösung sozio-ökonomischer Probleme in den Banlieus bisher nicht ausreichend.

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Foto: Nuno21, Shutterstock

Straßengewalt: Banlieus lassen sich so nicht befrieden

Die Vororte französischer Großstädte mit ihren trostlosen Wohnmaschinen lassen sich kaum befrieden. Nach der Tötung eines Jugendlichen durch einen französischen Polizisten, der nun zu Recht in Untersuchungshaft sitzt, entlud sich in den vergangenen Tagen die Gewalt.

In seiner „Topologie der Gewalt“ erinnert Byung Chul Han daran, dass „massiver Widerstand gegen den Machthaber von einem Mangel an Macht zeugt“. Tausende Jugendliche erleben im Straßenkampf, wenn auch nur für kurze Zeit, das Gefühl, die andere Seite unter Druck zu setzen.

Die Partizipation in der französischen Gesellschaft wird durch diese chaotischen Aktionen kaum gefördert. Klar ist, hier werden schwerste Straftaten begangen – die absolute Mehrheit der Muslime in Europa hat dafür kein Verständnis.

Foto: European Parliament, via flickr | Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Gewalt und Gegengewalt führen in eine Sackgasse

Gewalt und Gegengewalt führen in eine Sackgasse. Die Verrohung der Sprache, der Mangel an Differenzierung, die Logik der Freund-Feind-Unterscheidungen – von welcher Seite auch immer betrieben – ist eine Vorstufe der Eskalation. „Die Gewalt ist der Riss, der keine Vermittlung, keine Versöhnung zulässt“, mahnt Han in seiner Abhandlung an.

Wie geht es weiter in Frankreich? Im Gegensatz zu den marodierenden Jugendlichen in Frankreich hat die französische Rechte durchaus eine Machtoption: Sie könnte die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen und von der Polarisierung der Gesellschaft profitieren.

Foto: Godong-Photo, Shutterstock

Strategie der Spannung

Ihre Strategie ist klar. Es wird immer wieder versucht, auf der symbolischen Ebene, den Signifikanten „Islam“ mit der kollektiven Wahrnehmung der Ereignisse zu verknüpfen. Der Eindruck wird geschürt, dass der Feind von „außen“ komme und geht mit einer Biopolitik einher, die behauptet, dass es sich bei den Jugendlichen, die in großer Zahl in Frankreich geboren sind, nicht um Franzosen handle.

Was in diesem Feindbild nicht mehr auftaucht, ist ein anderes Faktum: Die islamische Lehre lehnt Gewalt und Bürgerkrieg grundsätzlich ab. Die Mehrheit der französischen Muslime hat sich mit dem Opfer solidarisiert, bedauert wie viele Franzosen den Vorfall, sympathisiert aber nicht mit der Straßengewalt.

Es gehört zum gewohnten Medienspektakel einiger Medien radikale Außenseiter, die oft ohne jeden Bezug zur muslimischen Praxis in den Großstädten leben, als Mitglieder der muslimischen Community vorzustellen.

Die These ist nicht, dass es keine muslimischen Straftäter in Europa gibt. Es muss vielmehr zurückgewiesen werden, dass die islamische Lehre, die Moscheen oder muslimische Gemeinden diese fördern.

Foto: Shutterstock, VP Brothers

Lage in den Vorstädten ist komplex

Die Lage in den französischen Vorstädten ist komplex und kann kaum mit monokausalen Theorien erklärt werden. Ja, zum Gesamtbild gehört die Machenschaften muslimischer Ideologen in den Banlieus zu erwähnen, die ihrerseits ein Feindbild gegen die französische Gesellschaft verbreiten.

Paradoxerweise erringt die Rassemblent National auch Wahlerfolge bei WählerInnen mit Immigrationshintergrund, die sich von einem Rechtsruck effiziente Maßnahmen gegen die kriminellen Straßengangs erhoffen.

Das Lied, das die gesellschaftlichen Probleme Frankreichs beschreibt, wurde oft gesungen. Wie löst man das Problem? Vermutlich wird der französische Präsident ankündigen: „Mehr Krippenplätze, Arbeitsplatzförderung, Maßnahmen gegen Radikalisierung – und mehr Polizei.“

Ob die Verrohung der Sitten nur mit Geld zu bekämpfen ist, bleibt offen.

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Aufgewärmtes im französischen Sport: Streit um fastende Athleten

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Der letzte Fastenmonat zeigt am Beispiel Sport die Bruchlinien in Frankreichs Gesellschaft beim Thema Sport. (The Conversation). Mitte April ging der Ramadan zu Ende, und das war in der Welt […]

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Geschichte prägt den Umgang europäischer Regierungen mit Muslimen

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Der Umgang mit Religion hängt in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik erheblich von der jeweiligen Geschichte ab. Von Jeanne Prades (The Conversation). Die Art und Weise, wie Islam wahrgenommen wird […]

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86 Tote: Prozess um Nizza-Anschlag endet mit langen Haftstrafen

Ein Lastwagen rast am 14. Juli 2016 über Nizzas gut besuchte Uferpromenade – 86 Menschen sterben bei dem Terroranschlag. Für Handlanger und Unterstützer des toten Attentäters gibt es nun teils heftige Strafen. Opfer hoffen, dass die Aufarbeitung weitergeht.

Paris (dpa). Applaus ertönt im Gerichtssaal, als der Vorsitzende Richter 18 Jahre Haftstrafe für einen der Angeklagten im Prozess um den wohl „islamistisch“ motivierten Terroranschlag von Nizza mit 86 Toten verkündet. Das Gericht hat ihn am 13. Dezember in Paris wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, ebenso einen weiteren der acht als Handlanger und Unterstützer geltenden Angeklagten. Beide hätten den Attentäter moralisch und materiell unterstützt und ihn inspiriert.

Bei dem Anschlag vor sechseinhalb Jahren war der Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel auf der Flaniermeile Promenade des Anglais in Nizza mit einem tonnenschweren Lastwagen in eine Menschenmenge gerast. Er schoss auch auf Menschen. Letztlich gab es 86 Todesopfer, darunter zwei Schülerinnen und eine Lehrerin aus Berlin. Mehr als 200 Menschen wurden bei dem Anschlag am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag, verletzt. Der Gewalttäter wurde nach der Tat erschossen.

Nach dem Anschlag reklamierte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Tat für sich. Laut Gericht war dieses angebliche Bekenntnis trotz des Interesses des Täters für den Dschihadismus opportunistisch. Eine Verbindung zu einer Terrororganisation sei nicht gefunden worden, aber eine klare Inspiration beim Dschihadismus.

Die beiden zu 18 Jahren Haft verurteilten Angeklagten wussten laut Staatsanwaltschaft um die Gesinnung des Mannes und dass er in der Lage sei, einen Anschlag zu begehen. Auch sollen sie in die Suche nach einer Waffe eingebunden gewesen sein.

Das Gericht verhängte zudem zwölf Jahre Haft für den Mann, der dem Attentäter die Schusswaffe besorgt hatte, die dieser beim Anschlag benutzte. Die weiteren fünf Beschuldigten in dem Prozess, die laut Urteil ebenfalls in die Beschaffung der Pistole oder einer weiteren Waffe involviert waren, sollen zwischen zwei und acht Jahre in Haft. Die Angeklagten können noch Berufung gegen die Entscheidung des Gerichts einlegen.

Möglich, dass manche der Hinterbliebenen und Überlebenden sich noch höhere Strafen erhofft hatten. Doch bereits die Staatsanwaltschaft hatte klargestellt, keiner der acht Beschuldigten könne verurteilt werden, als sei er der Attentäter. Die vom Gericht verhängten Strafen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gingen nun sogar über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus.

Für Anwältin Alexandra de Brossin de Méré, die in den Verfahren die Mütter einer der getöteten Berliner Schülerinnen sowie die der Lehrerin vertritt, ist es insgesamt ein Urteil, mit dem man leben könne, wie sie der Deutschen Presse-Agentur sagte. „Für die Zivilparteien und die Opferfamilien ist das ein schönes Signal, dass die Justiz sich mit so viel Ernsthaftigkeit damit befasst hat und getan hat, was sie tun konnte, in so einer so schwierigen Lage.“

Seit September hatte das Spezialgericht in Paris den Anschlag von Nizza aufgerollt. Auch wenn der erschossene Attentäter selbst nicht vor Gericht war, befasste sich der Prozess eingehend mit seinen Anschlagsplänen und seiner Gesinnung. Der Vorsitzende Richter Laurent Raviot sagte, der Täter habe sein Vorgehen gewählt, um Terror zu verbreiten. Er habe an einem immer vollen Ort und bei einem Fest, das die Republik und ihre Werte hochleben ließ, zugeschlagen. Der Anschlag sei auch ein nationales Trauma gewesen.

Mehr als 2.000 Angehörige und Opfer traten als Nebenklägerinnen und Nebenkläger auf. Über mehrere Wochen hinweg berichteten sie vor Gericht von ihren Erinnerungen an die Attacke und den Spuren, die der Terrorakt bei ihnen hinterlassen hat. Auch die Mutter einer der getöteten Berliner Schülerinnen sprach unter Tränen vor Gericht. De Brossin de Méré sagte, das habe ihrer Mandantin sehr gut getan.

Dass die Staatsanwaltschaft behördliche Fehler eingestand und sich für diese entschuldigte, dürfte die Erwartungen vieler Überlebender und Hinterbliebener übertroffen haben. Das Urteil markiert für sie nun einen wichtigen Schritt. Dennoch hoffen zahlreiche Opfer, dass die juristische Aufarbeitung damit nicht vorbei ist. Denn die Frage nach den Sicherheitsvorkehrungen in Nizza wurde in dem Pariser Verfahren nur am Rande behandelt. Untersuchungen dazu laufen in der Mittelmeerstadt noch, zahlreiche Opfer hoffen auf einen zweiten Prozess.

Und auch Sorgen begleiten bei einigen das Prozessende. Die 20-jährige Lucie Lemaire sagte der Zeitung „Libération“, sie fürchte, die Allgemeinheit werde nichts aus dem Verfahren, das in Frankreich auf eher geringes Interesse stieß, im Kopf behalten und sich auch nicht an den Anschlag erinnern. „Ich will nur sagen: Vergessen Sie uns nicht!“

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Marokkos WM-Triumph – auch eine historische Genugtuung

Natürlich – es geht erst mal um Fußball. Aber die Koinzidenzen sind schon auch verblüffend: Eines nach dem anderen räumt Marokko jene Länder Europas ab, mit denen es in der jüngeren Geschichte am meisten verbindet.

Brüssel (KNA). Sie feiern. Sie hupen. Die Polizei leitet weiträumig den Verkehr um. In Brüssel, Paris und Mailand sowie in den Niederlanden kam es gar zu gewalttätigen Ausschreitungen. In vielen Städten Europas sind marokkanische Auto-Korsi und Fan-Feste dieser Tage schon zum Ritual geworden.

Eines nach dem anderen räumt das marokkanische Team bei der ersten arabischen Fußball-WM in Katar jene übermächtigen Länder Europas ab, mit denen es in der jüngeren Vergangenheit am meisten verbindet. Das ist nicht nur ein arabischer und ein afrikanischer Fußball-Triumph. Es ist – auch – ein marokkanischer Marsch durch seine eigene Geschichte mit dem Westen.

Ein portugiesisches Trauma: Der erst 24-jährige König Sebastiao erleidet im August 1578 mit einem Kreuzritterheer von 18.000 Mann eine verheerende Niederlage gegen eine marokkanische Übermacht unter Sultan Abu Marwan Abd al-Malik und fällt auf dem Schlachtfeld von Alcacer-Quibir. Seine Leiche wird nie gefunden; eine Nachfolgeregelung gibt es nicht. 1580 reißt Spaniens Habsburger-König die Krone der damaligen Weltmacht Portugal an sich – 60 Jahre schmachvoller Zwangsherrschaft durch den Erbfeind beginnen.

Für Portugal war dies das Ende einer großen Ära – viel größer als die Ära Ronaldo, die am Samstagabend zu Ende ging. Der traditionelle Volksglaube verheißt, der junge König werde bald wiederkehren und das Land in eine neue Zukunft führen. Immer wieder tauchten falsche Sebastiane auf, um die Macht zurückzuerobern. Doch der echte kam nie zurück. Marokko-Portugal 1:0.

Spanien und der Islam: eine schwierige Beziehung. Die Conquista der Iberischen Halbinsel durch den Vormarsch muslimischer Araber im 7./8. Jahrhundert und die spanische Reconquista bis zur Einnahme Granadas 1492 sind die Folie für ein spannendes Nachbarschaftsverhältnis, das durch das Aufkommen des spanischen Massentourismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neues, prägendes Kapitel bekam. Spanische Agenturen warben marokkanische Arbeitskräfte für das Hotel- und Gastronomiegewerbe und andere Unternehmen an; und zwar nicht nur für den eigenen Arbeitsmarkt, sondern auch für andere Länder, etwa Großbritannien.

Pikant ist die Stellung der beiden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, die auf afrikanischem respektive marokkanischem Boden liegen und seit 1497 bzw. 1580/1668 zu Spanien und damit inzwischen auch zur EU gehören. Zwischen 1912 und 1956 gab es auf einem schmalen Landstreifen entlang der nordwestlichen Mittelmeerküste das kurzlebige Protektorat Spanisch-Marokko.

Melilla wie Ceuta sind durch Grenzzäune von Marokko getrennt. Mehrfach konnten Hunderte bis Tausende afrikanischer Migranten die Sperranlagen überwinden; zuletzt 2021, als Marokkos König Mohammed VI. offenbar seine Grenzschützer abzog, um politischen Druck auf die EU auszuüben. Zumeist wurden Migranten am Ende zurück nach Marokko abgeschoben. Marokko-Spanien: 3:0 nach Elfmeterschießen.

Belgien, das kleine Einwanderungsland. Mit fast einer halben Million stellen die Marokkaner und ihre Nachkommen die größte nationale Gruppe von Zuwanderern bei unserem westlichen Nachbarn. Knapp 90 Prozent von ihnen haben inzwischen einen belgischen Pass. Marokkanische Läden prägen in manchen Vierteln der Hauptstadt Brüssel das Straßenbild.

Nun also Frankreich im Halbfinale, schon der fünfte und größte Fußball-Brocken im sechsten Spiel; und auch die vielleicht schwerste historische Hypothek, die auf der Partie lastet. Frankreich war im 19. und 20. Jahrhundert die wichtigste Kolonialmacht in Nordafrika. Auch in Marokko im Nordwesten, das zum Zankapfel europäischer Großmachtinteressen wurde. Erst 1956 konnte man die französische Fremdherrschaft abschütteln und erlangte seine staatliche Unabhängigkeit.

Anders als Belgien – da waren es mit Michy Batshuayi, Amadou Onana und Romelu Lukaku nur drei – dürfte die Equipe Tricolore am Mittwoch zahlreiche Stars mit afrikanischen Wurzeln einsetzen. So oder so: Marokkos Nationalteam steht in der katarischen Küstenstadt al-Chaur auch für Afrika und für die Arabische Welt. Vor allem aber spielt es um das WM-Finale.