Kommentar: Unsere Eliten – die ­Guten ins Töpfchen?

(iz). Als Mitte November die Stipendiaten des Avicenna-Studienwerks unter hochrangiger Beteiligung der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, bezeichneten Medien die angehenden Akademiker, ohne deren eigenes Zutun, als zukünftige „muslimische Eliten“. Um Missverständnisse auszuschließen: Hier geht es nicht um so nützliche Dinge wie Stipendien oder das Stiftungswesen. Vielmehr geht die Zuschreibung der „Elite“ mit eindeutigen Machtverhältnissen einher.

Von Ali Arslan Gümüsay findet sich ein erhellender englischer Beitrag zum Thema „muslimische Eliten“. Auch wenn Muslime die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Europa stellen, so der Wissenschaftler, seien sie doch eine Minderheit. „Als solche werden ihre Eliten durch die Eliten der Mehrheit und die Gesellschaft als ganze bestimmt.“ Also repräsentiere die Elite einer Minderheit, die gesamte Minderheit nicht notwendigerweise, in solch einem Maße, wie es angenommen werde.

Unstrittig ist nicht, dass es eine „Elite“ gibt. Das ist in unserer Tradition weder unbekannt, noch etwas schlechtes. Das Problem mit dem Begriff besteht aber darin, dass die Fähigkeit zur Definition, wer dazu gehört (und wer draußen bleibt), oft außerhalb der muslimischen Community liegt. Das heißt, die traditionell anerkannten Kategorien, was Eliten im Islam ausmachen, sind ausgehebelt.

Auch beruht die „Zugehörigkeit“ zur In-Group oft auf Anerkennung von außen und nicht auf der – stillschweigenden oder offenen – Erklärung der Muslime selbst. Das heißt, die so als „muslimische Eliten“ Bezeichneten, bleiben abhängig vom „symbolischen Kapital“ auf gesellschaftlicher Ebene. Nicht selten aber, sind sie über Fördermittel, Stellen und Projekte auch vom recht handfesten Kapital abhängig.

Eine Folge dieser Tendenzen ist, dass der entsprechende Personenkreis im nichtmuslimischen Diskurs mehrheitlich nicht als einer Gemeinschaft oder einer Gruppe zugehörig beschrieben wird, sondern als Individuum. So werden Rückbindung und Rechenschaft abgeschnitten. Und, um diesen Status nicht zu verlieren, stehen sie unter dem Druck zur Übernahme eines fremden Diskurses. Man gewöhnt sich eine abgeschliffene Rhetorik, die gar keinen essenziellen Widerspruch mehr kennt.

Und natürlich zählt hierzu auch der immanente Zwang zur Distanzierung – nicht von destruktiven Ideologien oder den Extremen – sondern von allen anderen Muslimen, die dem eigenen Status gefährlich werden könnten.

Der Segen ist mit der Gemeinschaft

(iz). Wenn der Herr der Welten die Menschen in Seinem Qur’an anspricht, dann tut Er dies ­– mit Ausnahme Seines Propheten – immer im Plural. Entweder werden die Menschen, oder ein bestimmtes Volk – wie das Volk von Musa (Moses) – von Allah angeredet, oder beispielsweise die Gläubigen als eine Kategorie adressiert. Dies ist einer (von vielen) der Mosaiksteine, die den gemeinschaftlichen Charakter der islamischen Lebensweise ausmachen.

Sichtbar gemacht wurde dieses Ansprechen des Menschen als soziale Wirklichkeit durch den Propheten und seine Gemeinschaft in Medina. Die von ihm empfangene und überbrachte Botschaft wurde nicht in ein ideologisches Gebäude eingegossen, sondern augenblicklich in eine soziale Realität unter Göttlicher Anleitung verwandelt. So gibt es eine ­ganze Vielzahl von Anlässen zur Offenbarung bestimmter Qur’anverse, die auf reale Be­gebenheiten Bezug nehmen. Gleichermaßen wurde der Qur’an nicht als „Buch“ im herkömmlichen Sinne offen­bart. Seinen Platz fand er nicht zwischen den Seiten eines solchen, sondern in den menschlichen Herzen.

Es gibt im Islam sehr wohl ein fein austariertes Gleichgewicht zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, zwischen intimen und sozialen Momenten. Auch wenn platte Totalitarismustheorien in diesen Tagen gelegentlich Muslimen eine kollektive Neurose andichten wollen, beziehungsweise ihnen das individuelle Urteilsvermögen abzusprechen versuchen, widerlegen die islamischen Grundprinzipien diese Art der platten Religionskritik.

Es ist vielmehr ein Wechselspiel zwischen den beiden Polen Individuum und Gemeinschaft. Wir haben alle unser eigenes Schicksal und müssen uns am Tage des Gerichts für unsere Lebensführung rechtfertigen. Eine jeweilige Gruppenzugehörigkeit bildet da keinen Schutz. Wenn wir in Gemeinschaft (siehe S. 4) beten, dann hat dies (bei den Pflichtgebeten) bekanntermaßen einen wesentlich höheren Wert. Nichtsdestotrotz sind es aber wir, und nicht die Frau/der Mann neben uns, die/der in diesem Augenblick vor ihrem/seinem Herrn steht.

Eine der Hauptabsichten der Gemeinschaft der Muslime, die nichts mit den Zwangskollektiven des 20. Jahrhunderts gemein hat, ist es vielmehr, erst einmal den äußeren Rahmen zu stellen, in dem überhaupt eine wirkliche, individuelle Nähe zu Allah angestrebt wird. In dem Sinne braucht es die/den Andere/n und die daraus entstehende soziale Form, in der echte Spiritualität, wenn sie nicht im Supermarkt der Esoterik enden will, sich überhaupt erst ereignen kann.