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Spiritualität: Ramadan ist Verzicht auf Irrationalität

Abitur Ramadan Irrationalität

Verzicht auf irrationales Handeln und Absage an Konsumismus ist ein wichtiger Bestandteil von Spiritualität im Ramadan.

(Traversing Tradition). Muslime haben sich daran gewöhnt, in einem dauernden Zustand des Sich-Verteidigens zu leben. Das ist der Preis ihrer Existenz: schnell verfügbare Erklärungen für ihre religiöse und kulturelle Praxis. Das scheint ein annehmbarer und sogar empfehlenswerter Tausch zu sein, um den Frieden in vielfältigen, modernen Gesellschaft zu wahren.

Während des heiligen Monats Ramadan jedoch kann man die erkennbar ­moderne Färbung dieser kursierenden Erklärungen trotz ihrer Vorteile nicht ignorieren. Gegenwärtige muslimische Erklärungsversuche des Ramadans und seines Nutzen verleugnen zusehend seine moralische und metaphysische Essenz und bieten stattdessen materielle Gründe an.

Die Verleugnung der Spiritualität des Ramadan führt zu Irrationalität

Demnach werde entweder gefastet, um „zu fühlen, was die Armen spüren“. Damit wird an das gespaltene moralische Verständnis des Westens appelliert, wonach die einzige Existenzweise eine mate­rielle ist. Oder Fasten stehe mit „gesundheitlichen Vorteilen“ in Verbindung, wie sie durch Wissenschaft bestätigt würden.

Während beide Erklärungsmuster lohnende und moralische anständige Motivationen für den Verzicht sein können, bleiben sie wesentlich körperlich und reduzieren Ramadan auf das Materielle.

Trotzdem ist hier eine tiefere, schädlichere Kraft am Spiel: unser Aufgehen in die kapitalistische Struktur via die Globalisierung. Konzerne klatschen „Halal“-Marketinglabel auf Fleisch, Finanzen, Bekleidung und mehr. Ihre Form wurde muslimischen Verbrauchern nominell schmackhaft gemacht, die damit zu kämpfen haben, islamisch-lebensfähige Optionen zu finden.

Foto: Danon, Adobe Stock

Wenn „Islam“ zur Marke wird

Die Produkte und Dienstleistungen, die für den muslimischen Verbrauch angeboten werden, sind Ergebnisse des gleichen ausbeuterischen, entmenschlichenden und entspiritualisierten Systems, das wir ansonsten kritisieren. Unsere Kleidung stammt aus ­ausgenutzter Arbeit in Sweatshops, unser Essen aus industrialisierten Schlachthäusern sowie Chemiefabriken, die unsere Umwelt verschmutzen, und unsere Finanzen aus einem fragwürdig gewordenen, globalen Bankensystem.

In einer Seinsweise, die solche Dinge als Zeichen von Fortschritt und menschlicher Verbesserung markiert, kann es schwierig sein, die tiefgehende Untergrabung zu erkennen, die hier vorliegt. Ihre Ideologie unterminiert die denkerische und moralische Essenz unserer Gebräuche, was zu einer Form ohne Bedeutung führt.

Gemacht, um in einem „eisernen Käfig zu leben“, wie der deutsche Soziologe Max Weber anmerkte, bleiben wir zurück und waten durch bedeutungslose Gesten, bis wir selbst gegen diese rebellieren, weil sie zu begrenzend seien für unsere Freiheit (als vollkommen und unbeschränkt verstanden), und bleiben ohne objektive Parameter in unserem ­Leben zurück. Das ist die Rolle des ­Liberalismus bei der Untergrabung der ramadanischen Essenz durch billige Marketingtricks und materialistische Philosophien.

Ramadan konfrontiert auch den heutigen Hyper-Konsumismus und Verfressenheit. Inmitten nie gekannter Kommerzialisierung und Materialismus dient er als Erinnerung an ein Leben, das nicht durch Kapitalismus gebunden ist. Eines, das keines ständigen Verbrauchs bedarf, um Befriedigung zu erfahren.

Die Botschaft wird vergessen

In diesem Monat wird unser Verlangen nach mehr Verbrauch durch göttlichen Befehl gemäßigt sowie durch das prophetische Vorbild, sich auf die spirituelle Nahrung der Gemeinschaft und des Selbst zu fokussieren. Leider haben viele diese Botschaft in dem vergessen, was ­Iftar immer häufiger ausmacht: ungehinderte Fresssucht und Extravaganz.

Firmen wie McDonald’s, Coca-Cola und Burger Kind vermarkten ihre Produkte in dem Wissen an Muslime, dass ihr Investment enorme Gewinne einfahren wird, während eine Kultur des Übermaßes angeheizt wird. Dabei täuscht Werbung im Ramadan-Motto die Feier von Vielfalt vor.

Foto: Jochen Tack, imago

Einige Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit verfügen über die größten sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten auf Erden: Die Rate von Übergewicht in Kuwait oder Saudi-Arabien bestätigt im Vergleich zum Hunger in Somalia oder Jemen die Rolle, die wir alle bei der Verschlimmerung von Leiden durch unser Übermaß spielen.

Ramadan umfasst mehr als die (legitime) Wirkung von Körperlichkeit auf unser spirituelles Wohlbefinden. Weber merkte an, dass modernes Leben jedem metaphysischen sowie mystischen Element entzogen wurde; ersetzt durch eine rationalisierte und bürokratisierte Gesellschaft. Alles hat sich entheiligt. Was als kulturelles Symbol und Ritual der Spiritualität diente, wurde seiner geistigen Essenz entkleidet.

Ramadan ist die gelebte Zurückweisung von Entheiligung

Ramadan ist die gelebte Zurückweisung dieser Entheiligung. Ein offensichtliches, aber nichtsdestotrotz wundersames Merkmal dieses Monats ist, dass er die Wichtigkeit betont, den Tag nach den Zyklen der Natur zu regeln – im Gegensatz zu denen einer industriellen Uhr oder einer 9-bis-5-Existenz. Der Ramadan beginnt mit der visuellen Sichtung des Neumonds. Unser tägliches Fasten beginnt und endet mit der Morgendämmerung beziehungsweise dem Sonnenuntergang. 

Befolgung der Kreisläufe von Sonne und Mond bestätigt nicht bloß, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben; sondern auch Demut vor Gott, dem Schöpfer und Herrn aller Dinge. Die Moderne hat sich von Jahrtausenden menschlicher Erfahrung verabschiedet, während sie unnatürlich bemüht ist, ­unseren Willen einem vollen Arbeitstag zu unterwerfen, der durch den Stundenzeiger einer Uhr bestimmt ist. Unsere Existenz war nicht für die Kapitulation vor einem vergänglichen Materialismus gedacht und Ramadan erinnert an unseren höheren Zweck.

Dennoch lassen wir als  abgelenkte Geschöpfe die Lektionen des Ramadan oft links liegen und fallen bei der Verkündigung des Feiertags am Ende in alte Gewohnheiten zurück. Diese Schizophrenie im modernen Menschen, der zwischen der Welt des Islam und Moderne laviert, wurde einmal vom algerischen Soziologen Malek Bennabi bemerkt. Bennabi erklärt, dass er sich nach Betreten der Moscheen vollkommen unter die Herrschaft Gottes bringt und die Höflichkeiten des Glaubens annimmt.

Beim Verlassen kehrt er schnell zum modernen Menschen zurück: rüpelhaft (nach islamischen Standards), der Schöpfung unterworfen und in seinen Gewohnheiten nicht von jedem anderen zu unterscheiden. Wir brauchen eine Alternative zum Rückschritt aufgrund dieser Versuchung, die durch die Leichtigkeit und Mittel dieses Lebens ermöglicht wird. Vor allem dann, wenn wir eine Gemeinschaft sein wollen, die nach eigenen Idealen lebt und nicht bloß dem bunten Anschein von Kultur folgt, der unsere Aufnahme in das kapitalistische Modell maskiert.

Foto: Fauzia Nurhana, Deviantart

Verlieren wir die Essenz?

Wir sind in Gefahr, die Essenz vom Ramadan zu verlieren. Das ist ein Hinweis darauf, wie sehr der moralische Imperativ unseres Glaubens in der Bewegung zum Materialismus zersplittert und vergessen wurde. Der Prozess moralischer Auflösung bedroht Muslime überall.

Wir sind einem groben und berechnendem Weltbild ausgesetzt, das selbst im Vergleich zu den Tagen des Kolonialismus einzigartig ist. Wir leben als Minderheit im Herzen der Aufnahmegesellschaft. Und stehen vor der andauernden Abnutzung durch ein dominantes Lebensmodell – und verlieren zusehends jenen Schutz, den unser Vorbild bietet.

Ramadan ist eine Zurückweisung dessen, was die moderne Welt der Menschheit aufzwingt: Gefräßigkeit, Hyper-Konsumismus, die Mechanisierung von Zeit sowie die Obsession der Kontrolle über unser Leben. Muslime wie Nichtmuslime werden zusehends enttäuschter von der Moderne. Sie suchen einen Lebenszweck und einen Weg, die oberflächliche Anhäufung von Dingen durch etwas anderes zu ersetzen.

Der Ramadan ist eine Zeit, in der wir uns neu auf das Göttliche ausrichten und unsere Beziehung zu Zeit, Gemeinschaft und der natürlichen Welt neu definieren. Bewusstsein von der Anwesenheit Gottes – oder Taqwa – wird nicht erlangt durch Sprüche auf Band, sondern eine gelebte Wirklichkeit des absichtsvollen Lebens. Sie überwindet die Impulse und das Verlangen des Körpers. Schlussendlich strebt sie einen höheren Seinszustand an.

Foto: C. Media / Peter Sanders

Um Spiritualität als das Bollwerk gegen die Suche nach diesem flüchtigen Leben erneut zu beanspruchen, müssen wir ­Fragen von Glauben und Anbetung über trockene akademische Analysen oder ­verblassende Anfälle von Spontan- oder Insta-Glauben hinter uns lassen. Wir müssen die ganzheitliche Lebensphilosophie des Islam wiederherstellen und sie als unsere ehren – in Abgrenzung zu Kapitalismus mit seiner materiellen und utilitaristischen Ethik.

Wir müssen einen Versuch ermutigen, Ramadan zu mehr als einem isolierten jährlichen Ereignis zu machen, sondern zu einer periodischen Verjüngung unserer kosmolo­gischen Ordnung, die wir durch den Rest des Jahres weiterführen.

Wenn wir ihren Idealen treu sind, wird sich diese kos­mologische Ordnung als Alternative einer Lebensweise widersetzen, die den Geist der Menschen zerstört. Nur dann können wir für uns in Anspruch nehmen, Muslime zu sein: Uns Gott und Seinem ganzheitlichen Din vollständig zu ergeben.

Das englischsprachige Original wurde dem online-Medium „Traversing Tradition“ entnommen. Übersetzung und Abdruck mit Genehmigung von Redaktion und Autorin.

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