Der Verfassungsschutz auf „islamistischen“ Abwegen. Wenn Behörden Muslime stigmatisieren

(Deutschlandradio). Das Bundesamt für Verfassungsschutz soll seine Arbeits­weisen überdenken. So will es der neue Präsident Hans-Georg Maaßen. Die deutschen Muslime hören diese Ankündigung wohl, aber nehmen sie mit Skepsis auf. Denn sie haben die Erfahrung machen müssen, dass Verfassungsschützer nicht etwa aufklären, sondern das muslimische Leben in Deutschland beeinflussen – einseitig und überhaupt nicht positiv.

Erst recht ist das Vertrauen in die Sicher­heitsbehörden enttäuscht, seit bekannt wurde, dass eine Serie von Fahndungspannen verhindert hat, die Morde der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) frühzeitig zu stoppen. Stattdessen verdächtigte die Polizei viele Jahre lang die Opfer und ihre Familien, Mittäter in einem kriminellen Milieu zu sein. Während der Verfassungsschutz im Bund wie in den Ländern geheimniskrämerisch die Strafverfolgung hintertrieb.

Und kürzlich berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ von einem lange schwe­lenden Konflikt im Bundesamt, der sich an islamfeindlichen und rassistischen Äußerungen entzündet habe. Sie werden ausgerechnet Mitarbeitern angelastet, welche die islamische Gemeinschaft zu beobachten haben.

Verfassungsschutzberichte markieren Muslime und deren Gemeinden nicht selten als „islamistisch“. Der Begriff ist so verbreitet wie unbestimmt. Über ­seine Deutung bestimmen Behörden und Islam­kritiker, nicht die Muslime selbst. Er stellt sie unter einen Generalverdacht, der weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) und viele andere etwa leiden seit langen Jahren unter dieser „Herrschaft des Verdachts“.

Als „islamistisch“ könnten streng gläubige Muslime angesehen werden. Ihre Koranauslegung, ihre Lebensweise und ihr Wertekanon mögen nicht in die Moderne, in die westliche Gesellschaft passen. Aber heißt dies, dass sie deswegen gleich unfriedlich und gefährlich sind, vielleicht gar Extremisten, die Gewalt predigen und anwenden, außerdem Recht und Demokratie ablehnen? Das könnte so sein. Aber dann müsste ­ihnen dies auch konkret vorgehalten und nachgewiesen werden.

Muslime gehen gesellschaftlich einen ebenso weiten Weg, wie es vor ihnen evangelische und katholische Christen in Deutschland taten. Auch sie lebten und leben noch immer mit doppelten Standards, mit den religiösen in ­Familie und Gemeinde, mit den öffentlichen in der Politik. Gerade aus diesen Erfahrun­gen heraus sollte Muslimen, die um ihre Identität ringen, geholfen werden, sich in das demokratische Gemeinwesen allmählich hineinzufinden, anstatt ihnen Steine aus Vorurteilen in den Weg zu ­legen.

Das amtliche Verdikt, „islamistisch“ zu sein, wirkt verheerend in der Öffentlichkeit und grenzt aus. Journalisten beispielsweise übernehmen es gern, ohne eigene Recherchen anzustellen. Und auch viele Muslime lassen sich infizieren und distanzieren sich von so bezeichneten Moschee-Vereinen und Verbänden.

Das provoziert Gegenwehr. Dadurch haben Gruppen und Personen etwa aus dem salafistischen Milieu, die in der Tat extremistisches Gedankengut transportieren, einfaches Spiel – besonders ­unter jungen Muslimen. Noch weniger hat es mit einem säkularen Staatsverständnis zu tun, wenn Mitarbeiter der Verfassungsschutzämter in der politischen Bildung unterwegs sind, als Islamismus-Experten vor pädagogischen Lehrkräften auftreten und über die „Grundlagen des Islams und muslimischen Lebens in Deutschland“ referieren. Es wäre wohl besser, sie überließen dies anderen.

Von Beamten und Behörden wird dagegen erwartet, dass sie differenzieren, die Mehrheit der Muslime davor schützen, mit einer problematischen Minderheit verwechselt zu werden. Wird etwa den Kirchen angelastet, wie viele Christen im kriminellen Milieu zu Hause sind? Denn so, wie der Begriff „islamistisch“, gebraucht wird, bezeichnet er nicht isla­misches oder religiöses, sondern kriminelles Verhalten.

Der Artikel wurde zuerst am 16.04.2013 als Audiobeitrag für das Deutschlandradio ­verfasst.

Ägypten: Kerry schlägt neue Regierung vor

„Nicht willkommen“, so hieß es auf Plakaten, die zahlreiche Demonstranten dem neuen US-Außenminister John Kerry in Kairo entgegenhielten.

Kairo (dpa/iz). Der neue US-Außenminister John Kerry forderte bei seinem Antrittsbesuch in Ägypten – einem Schlüsselverbündeten der USA in der Region – die regierenden Muslimbrüder auf, einen Schritt auf die so genannten „säkularen“ Parteien zuzugehen. Der Opposition riet er, sich an der für April geplanten Parlamentswahl zu beteiligen. Er sagte nach einem Gespräch mit Außenminister Mohammed Amr: „Ich möchte betonten, dass ich nicht gekommen bin, um mich in ägyptische Angelegenheiten einzumischen, sondern um unsere Meinung darzulegen.“

Seit den fünfziger Jahren gibt es Gerüchte über eine Zusammenarbeit zwischen CIA und der Bewegung. Ägypten gilt als wichtigster strategischer US-Partner in der Region und hat eine Schlüsselstellung für die Sicherheit Israels. Heute argumentieren Beobachter wie der Journalist William Engdahl, dass die „Demokratisierung“ Ägyptens mit Hilfe der Bruderschaft Teil einer umfassenden Strategie Amerikas ist.

//2l//Laut Informationen der arabischen Zeitung „Al-Sharq Al-Awsat“ schlug Kerry während seines Aufenthalts in Kairo außerdem die Bildung einer Einheitsregierung unter Beteiligung der Opposition vor. Fast alle liberalen und linken Parteien wollen die Wahl boykottieren, der am 22. April beginnen soll. Sie kritisieren das Wahlgesetz und befürchten, dass die Muslimbrüder die Wähler mit „Geschenken“ manipulieren werden.

Über die politische Zerrissenheit Ägyptens hinaus ist das größte Problem des Landes am Nil die immer noch ungelöste Wirtschaftslage, einer der Faktoren, die überhaupt den Aufstand gegen Ex-Diktator Mubarak motivierten. Damals mussten die einfachen Ägypter rund 40 Prozent ihres monatlichen Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Die Präsidentschaft von Mohammed Mursi könnte an der Unzufriedenheit der Massen über weiter steigende Lebensmittelpreise scheitern.

//3r//Beobachter gehen davon aus, dass die ökonomische Zwangslage von Mohammed Mursi dessen Handlungsspielraum extrem einenge. Insbesondere, weil Ägypten nach den Worten Mursi dringend auf einen neuen Kredit des Internationalen Währungsfonds über 4,8 Milliarden US-Dollar angewiesen sei. Sollte die Kreditvereinbarungen nach den kommenden Parlamentswahlen im Sommer abgeschlossen werden, steht zu befürchten, dass der Einfluss der internationalen Finanzinstitutionen auf die Wirtschaftspolitik Ägyptens noch wesentlich weiter steigen werden.

Europas Islam-Debatte(n) und die Instrumentalisierung von Geschichte

„Zwei mal drei macht vier,
widewidewitt und drei macht neune,
ich mach mir die Welt,
widewide wie sie mir gefällt.“

(Titelsong von Pippi-Langstrumpf)

(iz). Meine Generation ist mit „Pippi Langstrumpf“ aufgewachsen. Auch wenn ich den erzieherischen Wert des Kinder­buch- und -filmklassikers heute für des­truktiv halte, spielte das freche ­Mädchen eine Rolle für die meisten von uns. Und weil wir heute – hoffentlich – zu Erwachsenen geworden sind, ist es wahrscheinlich, dass sich diese Geisteshaltung der kontrafaktischen Weltsicht und -gestaltung fortsetzt. Die Neigung, sich die Dinge passend zu machen, wird auch in der europäischen Grundsatzde­batte über den Islam deutlich. Relevant ist dies insbesondere in der Rückbetrachtung auf Geschichte und ihrer ideologischen Ausschlachtung für das Heute.

Die Revision der Geschichte gehört dazu
Jede Generation und jedes neue Weltbild lesen und verstehen Geschichte neu. Das mag keine anthropologische Kons­tante sein, aber es gehört zum Normalfall von „Kultur“, dass kommende Generationen zumeist „revisionistisch“ sind. Heute aber – wie in Zeiten des mittelalterlichen Stillstands – herrscht im akademischen Betrieb und in den Medien oft eine Orthodoxie, die die Re-Vision – laut Duden.de die „prüfen­de Wiederdurchsicht“ – von Geschichte zum intellektuellen Verbrechen erklärt hat.

Wenn das eine nicht stark genug ist, um das andere abzulösen, kann es zu heftigen Debatten kommen. In Deutschland gab es in den 1980er ­Jahren – kurz nach dem 40. Jahrestag des Kriegsendes – den Historikerstreit. „Der Histo­rikerstreit von 1986/87 war eine zeitge­schichtliche Debatte um die Singulari­tät des Holocaust und die Frage, ­welche Rolle dieser für ein identitätsstiftendes Geschichtsbild der Bundesrepublik Deutschland spielen soll. Auslöser war Ernst Noltes als Frage formulierte Darstellung des Holocaust als Reaktion der Nationalsozialisten auf frühere Ausrottungsmaßnahmen und Gulags in der Sowjetunion. (…) Daraus entwickelte sich eine (…) Debatte, an der ­zahlreiche deutsche Historiker, Journalisten und andere interessierte Autoren teilnahmen“, findet sich hierzu auf Wikipedia. Diese Beschreibung deckt sich mit meiner Erinnerung der Debatte.

Auch wenn wir als junge Menschen sie ­damals eindeutig auf Seiten der Gegner Noltes verfolgten, unterscheidet sie sich eindeutig von europäischen ­Islam-Debatten unserer Tage. Die Differenz zwischen dem deutschen Monumental-Streit und heute ist, dass er im Kern – mit Ausnahme der Klärung einer deutschen „Identität“ – nicht mit utilitaristischen Zielen geführt wurde.

Nutzung von Geschichte
Was man weltweit bereits vor dem 11. September 2001 und der folgenden Strategie – mit dem ungenauen Begriff eines „War on Terror“ etikettiert – erle­ben durfte, war die vorwärtsgewandte Um-Deutung von Geschichte zur Nutzung für aktuelle oder künftige Ziele.

Diese Tendenz betrifft beileibe nicht nur Islam-Debatten. So ging Götz Aly 2005 („Wie die Nazis ihr Volk ­kauften“, „DIE ZEIT“, Nr. 15) in deutschen Publikationen wie „ZEIT“, taz oder das online-Portal „Perlentaucher“ damit hausieren, dass der bundesrepublikanische Sozialstaat bis zur Agenda 2010 ein Fortsetzung der Nazi-Sozialpolitik ge­wesen sei.

Stefan Steinberg setzte sich am 2010 auf wsws.org mit der zeitlich zurückblickenden Denunziation des einstigen bundesrepublikanischen Sozialstaates auseinander: „Wer über Götz Alys Versuch, seine Kritik am deutschen Rentensystem mit Anspielungen auf die Politik der Nazis zu rechtfertigen, schockiert ist, der ist nicht mit seiner Arbeit vertraut. (…). So äußerte er gegenüber der Zeitung ‘Die Welt’: ‘Weil ich es besser wusste, störte mich von Anfang an das einseitige Abschieben der Schuld auf die deutsche Industrie, auf Banken, usw.’

Dass Hitler in der Lage war, Unterstützung für sein Tausendjährig ­Reiches zu gewinnen, hatte Aly zufolge weniger mit der Zerschlagung aller demokratischen Rechte und der Errichtung einer unterdrückerischen ­Diktatur zu tun, sondern in Hitlers gefährlichem Streben nach einem Wohlfahrtsstaat zum Nutzen aller Deutschen. Aly schreibt ‘Wer den zerstörerischen Erfolg des Nationalsozialismus verstehen will, muss auch die Kehrseite der Politik der Zerstörung untersuchen, (…) die moderne, sozialpolitische Wohlfühldiktatur, die sich auf Gefälligkeiten stützt.’“

Keine Frage: Die alt-marxistische Faschismus-Theorie wurde in die Besenkammer verbannt, und andere Erklärungsmodelle setzten sich durch. ­Hätte Aly sich auf „Bewältigung“ unserer Geschichte beschränkt, wäre das Echo leiser ausgefallen. Da aber sein ­Thesenmix zum Ende der rot-grünen Koalition mit deren Politik von Sozialabbau (Agenda 2010) und Abriss der letzten Beschrän­kungen für die Finanzmärkte (Deregu­lierung) zusammenfiel, kann seine Thesenbildung als historiographische Absi­cherung neoliberaler Politik verstanden werden. Mit Sätzen wie „die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft“ entkräftete der Autor diesen Verdacht nicht.

Die Denunzierung
Polemische Angriffe durch Umdeutungen von Geschichte in Islam-Debat­ten lassen sich anhand von Beispielen belegen. Deshalb greife ich hier nur einige willkürlich heraus: die Behauptung eines, dem Islam immanenten Antisemitismus, die unsägliche „Islam-Faschismus“-Theorie sowie die Umdeutung der Geschichte Andalusiens. Geraume Zeit vor dem 11. ­September – beginnend mit der „2. Intifada“ und vielen Selbstmordattentaten in Israel – wurde medial erfolgreich die These propa­giert, der Islam sei per se antisemi­tisch. Da nach den Erfahrungen des 20. Jahrhundert dieser Vorwurf ein enormer ist, schlug die folgende Theoriebildung Wellen. Nüchternen Geistes – der dank des „War on Terror“ in Redaktionen oft aussetze – hätte man diesen Vorwurf widerlegen können. Wären die ­Muslime in ihrer Geschichte solche ­Antisemiten wie behauptet gewesen, wie hätten sich dann die vielen jüdischen Gemeinden in der muslimischen Welt bis in die Neuzeit halten können? Dabei haben klügere Köpfe nachgewiesen, dass es oft muslimische Gemeinwesen waren, die verfolgten jüdischen Gemeinden eine sichere und bleibende Heimstätte ­boten.

David J. Wasserstein schrieb am 5.12.2012 in einem Essay für „The Jewish Chronicle“ auch von einer generel­len Rettungstat des Islam für das Juden­tum. „Islam rettete das Judentum. Dies ist eine unbeliebte und unbequeme Behauptung in der modernen Welt. Aber es ist eine historische Wahrheit“, ­leitete Wasserstein seinen lesenswerten Aufsatz ein. Ohne den Islam wären die ­Juden früher oder später von einem ­triumphalen Christentum aufgesogen worden.

Viele vertriebene Juden Spaniens gingen nach 1492 beziehungsweise zu Beginn des 17. Jahrhunderts (nach der letzten Vertreibungswelle) nicht in den Norden, sondern nach Nordafrika oder ins osmanische Reich. Diese grundsätzliche Hilfsbereitschaft von Muslimen gegenüber Europas Juden setzte sich – in einer noch viel zu wenig erforschten Episode – auch in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus fort.

In Albanien, Kosovo und ­Nordafrika versteckten Muslime Juden oder verhalfen ihnen zur Flucht in sicherere Gebiete. Bekannt ist das Beispiel eines türkischen Konsularbeamten, der direkt bis zu seinem tödlichen Herzanfall sehr viele Einreisepapiere für griechische Juden ausstellte, damit diese vor der Vernichtung fliehen konnten. Das gleiche gilt für unzählige muslimische ­Soldaten auf Seiten der Sowjetunion, Frankreichs und Großbritanniens, die halfen Hitler-Deutschland zu besiegen. Manche von ihnen endeten als ­Kriegsgefangene in deutschen Konzentrationslagern.

Was aber tut die deutsche ­Publizistik? Sie benutzte den tatsächlich unrühmli­chen Fall des so genannten „Großmuftis von Jerusalem“, Amin Al-Hussaini, um den Muslimen dieser Zeit insgesamt eine Sympathie mit Hitler-Deutschland und damit eine Mitschuld an den braunen Untaten anzudichten. Ein Blick in René Wildangels Monografie „Zwischen Achse und Mandatsmacht“ (Klaus Schwarz Verlag, Berlin) setzt dieses Bild in den richtigen Kontext. So war selbst den Arabern in Palästina, wenn sie auch an Auseinandersetzungen mit jüdischen Siedlern beteiligt waren, der rassistisch – und damit eliminatorische – Antisemitismus der Nazis fremd. Es bleibt der Verdacht, dass es sich hier um die Fortsetzung von Islamkritik mit ­militanten Mitteln handelt: der Behauptung, an der industriellen Massenvernichtung mitschuldig zu sein.

Dieser These angeschlossen ist das, von neokonservativen Beratern George W. Bushs geprägte Schlagwort eines so genannten „Islamo-Faschismus“. ­Diese falsche Begriffsbildung – ihr huldigt die rabiate Islamkritik von Links bis Rechts – stellt die allerschlimmsten Assoziationen her. Sie gab auch dem „Diskurs“ alle Freiheiten, für so genannte „Islamo-Faschisten“ das gleiche zu fordern, was man mit Hitler-Deutschland tat; die Führung eines unbeschränkten, weil totalen Krieges. Sicherlich unbeab­sichtigt führt diese These vom islamischen Dunkelmann zu einer kruden Relativierung der erschreckendsten Aspek­te unserer Geschichte.

Auch das muslimische Spanien, Al-An­dalus, ist zum Schlachtfeld europäischer Kulturkrieger der letzten Jahre geworden. Mehrheitlich ein rechter und christ-nationaler Topos wird das faszinierende Beispiel dieser muslimischen Hochkultur auf europäischen Boden so zu einem Schreckensbild. Und das, obwohl die zeitgenössische Forschung ­dieser negativen Geschichtsverzerrung durchaus widerspricht.

Angetrieben von der Angst vor dem kommenden „Eurabien“ sehen sie sich als Opfer der muslimischen Eroberung ihres christlichen Abendlandes. Und so müssen mehr als 700 Jahre muslimischer Hochzivilisation geleugnet beziehungsweise die siegreiche Barbarei der katholischen Majestäten Isabella und Ferdinand zelebriert werden. Vor einigen Tagen stieß ich auf einen Text ­(derer es leider viele gibt) von Jan von Flocken, in dem – in Unkenntnis der Regeln – von einer „feurigen Woge der Islamisierung“ durch die „arabischen Besatzer“ fantasiert wurde. Der Autor hätte mit Google herausfinden ­können, dass im Islam eine erzwungene Annah­me des Islam gar nicht erlaubt ist.

Dass die Mehrheit der damaligen Muslime Spaniens Keltiberer, Nachkommen der Römer und Westgoten waren – und die Minderheit von Arabern und Berbern niemals ein so ­großes Gebiet hätte erobern, geschweige denn kontrollieren können –, fiel dem ­Autor nicht ein. Und um das Heile-Welt-Bild der katholischen Majestäten nicht durch die Realität von Zwangsbekehrungen, Vertreibungen und religiös ­motiviertem Massenmord zu trüben, wird Königin Isabella auch noch flugs in eine ­Königin umgedeutet, „die einem neuen europä­ischen Zeitalter der Renaissance den Weg bahnte“. Die Realität ist, dass Spanien dank der Eroberung von ­Granada und Amerika zwar Jahrzehnte lang die dominante Militärmacht Europas werden konnte, danach aber mehrere Jahrhunderte lang – auch, weil es das Know-how der Muslime und Juden verlor – auf das Niveau eines Dritte-Welt-Land abglitt. Erst 1834 (!) wurde hier die Inquisition abgeschafft.

Der Philosoph Friedrich Nietzsche sah die Geschichtswissenschaft und die Philologie als probates Mittel gegen den historischen Mythos und die Lüge. Die europäischen Muslime sollten dies verinnerlichen und der galoppierenden Geschichtslüge(n) in Europas Islamdebat­ten den Spiegel der Wahrheit ­vorhalten. Sie braucht – wie es im deutschen Boulevard heißt – einen Mutigen, der sie ausspricht.

Hintergrund: Die europäischen Muslime streiten um die Zukunft der politischen Terminologie. Von Sulaiman Wilms

„Tse Lu: Der Herr Wei wartet darauf, dass du eine Regierung bildest. Was wirst du als erstes tun? Kung: Die Namen klären. Tse Lu: Wie kann das sein? Du schweifst ab. Warum sie festlegen? Kung: Du Kürbis! Sprosse! Wenn ein Mann kein Wissen hat, sollte er Zurückhaltung an den Tag legen. Wenn Worte nicht genau sind, kann man ihnen nicht folgen oder eine Handlung entsprechend ihrer Bedingungen vollenden.“ (Konfuzius, aus der engl. Übersetzung von E. Pound)

(iz). Brühl. Am frühen Nachmittag des 12. Mai, fand eine Deutschlandpremiere statt. Das erste Mal stritten auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung/BpB ­Muslime über die Konstrukte „liberaler“ beziehungsweise „konservativer Islam“. Man muss der BpB dankbar sein, dass sie diese Gelegenheit ermöglichte. Die muslimischen Verbände jedenfalls ­waren bisher nicht in der Lage, diese ­überfällige und für die Muslime wichtige Debatte zu moderieren. Bereits wegen ihrer räumlichen Aufteilung mussten die TeilnehmerInnen (die Lehrerin Lamya Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund e.V./LIB, der Lehrer und Blogger Hakan Turan, Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime und der Autor) wie Gegner wirken. (Dass sich meine Beiträge, wie sich zeigen sollte, auf alle Lager des „politischen Islam“ bezog, wollte oder konnte in der bi­nären Debatte nicht zur Kenntnis genommen werden.)

Obwohl die Teilnehmer stellenweise polemisch wurden, war die Diskussion hilfreich. Immerhin wurde dem Publikum ein Geschmack davon vermittelt, dass und wie um einen Begriff ­gestritten wird. Klar wurde auch, was sich anhand des „liberalen Islam“ zeigt: Die Terminologien, die innerhalb der europäischen Muslime und im Austausch mit ihren Gesellschaften üblich sind, werden ­bisher kaum hinterfragt. Dass diese Begriffe problematisch sind, zeigt sich gerade in der Reaktion auf die IZ: Manchen ist sie zu konservativ, anderen zu liberal.

Ein weiterer Mosaikstein ist ebenfalls von Bedeutung: Eine Rednerin war der Ansicht, wir sollten uns nicht zu lange mit der Bestimmung der Begriffe aufhal­ten. Genau aber diese sind ein Kernprob­lem, an dem europäische Muslime labo­rieren. Von Norwegen bis Italien und von Irland bis Russland: Überall werden sie mit „Islamismus“, „Salafismus“, „libe­ralem Islam“, „Reform des Islams“ oder „Multikulturalismus“ konfrontiert. Ressourcenmangel und fehlender Einfluss auf die Debatte verhindern, dass sich Muslime von ihr freimachen oder sie selbst gestal­ten können.

Dies ist kein abgehobenes Glasperlen­spiel. Begriffe werden von einer Bedeutung (und von politischen Handlungselementen) begleitet, die mit ihr einhergehen. Nehmen wir die allerorten, und selten hinterfragte Forderung nach „Inte­gration“: Natürlich gibt es Gruppen, die nicht oder nicht ausreichend in ihren Heimatländern eingefügt sind oder Probleme damit haben. Die permanente Anwendung der „Integration“ auf den Islamdiskurs aber erzeugt die Vorstellung, dass sich Muslime wegen ihrer Religions­zugehörigkeit „integrieren“ müssten. Wieso aber sollte dies gerade auf europä­ische Muslime zutreffen?

Der konkrete Begriff übersieht, dass die Mehrheit der Muslime in Europa (das Gebiet westlich des Ural) gebürtige Europäer sind und es daher nichts zu integrieren gibt. Das Problem der fremdbestimmten Terminologie geht tiefer: Mittlerweile ist „Integration“ in ihrer dominanten Form in den muslimischen Diskurs „integriert“. So hieß es in einer merk­wür­digen Presseerklärung über den gemeinsamen Ramadananfang der muslimi­schen Verbän­de, dass diese Entscheidung der „Integra­tion“ diene.

Islamismus – der Bulldozer der Debatte
Ortswechsel. Auf der Webseite der „Zeit“ fand vor Kurzem eine muntere Debatte statt, als ein ägyptischer Präsidentschaftskandidat als „netter Islamist“ bezeichnet wurde. Die ­Forumsteilnehmer diskutierten versiert über die Gültigkeit des „Islamismus“-Begriffs; viele stellten ihn in Frage und hielten diesen „Ausgrenzungsbegriff“ (Prof. W. Schiffauer in der IZ) für ungeeignet. Kurzum, man rieb sich die Augen und wünschte sich, dass auch Muslime so debattiert würden.

Während in den letzten Jahren Konflikte um vermeintliche „Massenvernich­tungswaffen“ geführt wurden, kam – sozusagen auf geistiger Ebene – spätestens seit dem 11. September 2001 der „Islamismus“ zum unterscheidungslosen Einsatz. Genauso wenig, wie Luftangriffe im afghanisch-pakistanischen Grenzland „chirurgische“ sind, und manchmal zivi­le Hochzeitsgesellschaften treffen, genau­so wenig enthält der „Islamismus“ genug Substanz, um kundig einen Sachverhalt zu beschreiben. Wie das Flächenbombardement einer B-52 betrifft er alle: Terroristen, Wahhabiten, Hamas-Sympathisanten, den politischen Islam, aber auch viele gesetzestreue und engagierte europäisch-muslimische MitbürgerInnen.

Einmal als „Islamist“ etikettiert, eröff­net sich die ganze Palette implizierter, angeblicher Einstellungen: anti-demokratisch, fundamentalistisch, frauenfeindlich und antisemitisch. Nichtsdestotrotz, oder gerade vielleicht deswegen, werden Muslime damit überzogen und es bleibt ihnen – von Ausnahmen abgesehen – oft nichts übrig, als sich dem Bulldozer-Charakter dieses Begriffes zu beugen. Eine Ausnahme war der türkische Außenminister Davutoglu, der bei einem Deutschlandbesuch im Gespräch mit ­Innenminister Friedrich diese Terminologie von sich wies.

Obwohl „Islamismus“ ­wissenschaftlich klingt, sehen sich Ganz- oder Halbexper­ten gezwungen, ihn durch Zusätze qualifizieren zu müssen. So vermeinen sie, zwischen einem „legalistischen, gewaltfreien Islamismus“ und einem „gewalttä­tigen Islamismus“ unterscheiden zu können beziehungsweise zu müssen. Sucht man nach „Islamismus“ auf Wikipedia (dem angeblich zuverlässigen online-Kom­pendium allen Wissens), erscheint zuerst eine Notiz, wonach das ­ellenlange Elaborat einer Überarbeitung bedarf. Nicht wirklich vertrauenserweckend. Der Rest liest sich wie eine der handelsüblichen Zusammenstellungen, die man auch in Zeitungsartikeln oder in staatlichen Veröffentlichungen geboten bekommt. Laienhaft formuliert steht der „Islamismus“ in den Augen seiner User für den „politischen Islam“ (allerdings nur für den unangenehmen; seine politisch korrekte Variante – die liberale – ist durchaus willkommen), der seine religiösen Ansichten politisch umsetzen will.

Und hier liegt das Problem: Wird jeder Muslim, der sich veranlasst sieht, sich dank seiner Religion sozial zu ­engagieren oder Lösungsansätze für Probleme zu formulieren, damit zum „Islamisten“? Wenn nein, wo fängt er an? Es ist genau diese Unschärfe, die den „Islamismus“ hat so erfolgreich werden lassen. Je unbestimm­ter, desto mehr sind wir von ihm betrof­fen und desto weniger können wir uns zur Wehr setzen. So ist in diesem Kontext der Kategorisierung islamischer Lebenspraxis zu fragen: Ist die Zahlung oder die Einsammlung der ­Zakat etwas Politisches, etwas ­Religiöses oder Ökonomisches?

Es ist natürlich zu bezweifeln, dass sich der ideologische Begriff aus der islamischen Lehre ableiten ließe. „Islamismus“ hieße ja, dass Musli­me den Islam und seine Überzeugungen anbeten würden. Dies widerspricht aber im Kern dem Din selber, der ja ein Mittel zu Anbetung Allahs ist – und kein Ziel in sich.

Phänomen Salafismus
Würde die öffentliche-mediale Wahrnehmung stimmen, dann wäre Salafismus eine Steigerungsform des „Islamismus“, wenn nicht gar des Islam selbst. Gemeinhin werden die Anhänger jener Bewegung, die ihre Wurzeln in der wahhabitischen Bewegung Arabiens hat, oft als sehr strenge Muslime definiert. Eine Vorstellung, von der sie selbst am meisten profitieren, weil ihnen das den Nimbus von „Frömmigkeit“ und „Reinheit“ verleiht.

Hierbei wird übersehen, dass diese Gruppierung in ihrer Anfangszeit (bis zum Ende des Khalifats) als Sekte (manche sahen in ihr eine Nachahmung der Khawaridsch) galt. Weil Salafisten aber seit Jahrzehnten jeder anderen muslimi­schen Formation vorwerfen, irre geleitet zu sein (bis hin zur Unterstellung, man werde durch angeblich falsche Ansichten zum Nichtmuslim), drängten sie die Mehrheitsmuslime in die Defensive. Wird der Wahhabismus aber als eine Art Steigerungsform des Islam wahrgenommen, dann verwischt sich die Grenze zwischen sektiererischen Ansichten und dem Mehrheitsislam.

Diese Selbstzuschreibung von „Salafis­ten“ als quasi „Avantgarde“ ist nichts anderes als eine Anmaßung gegenüber den Mehrheitsmuslimen. Sie pachten durch diese ­Adaption der „Salaf“ (jener respek­tierten ersten Generationen des frühen Islam) einen Begriff (und damit einen Anspruch) für sich, der im Grunde jedem praktizieren­den Muslim zukommt. Dieser Anspruch wird nicht durch eine Behauptung zu einer Realität, sondern durch die Lebensführung. Wo aber zahlen „strenggläubige“ Salafisten ihre ­Zakat, gründen Stiftungen oder organi­sieren Märkte?

Alles liberal, oder was?
Wie der „Salafismus“ entstand der „liberale Islam“ (und sein notwendiges Gegenteil, der „konservative“) innerhalb der Community selbst – aber auch in Abgren­zung zur absoluten Mehrheit. Natürlich wurde der angebliche Streit dankbar von Massen­medien aufge­nom­men, die seinen VertreterInnen bisher einen deutlichen Vorrang einräumten. Um Missverständnisse zu ­vermeiden: „Liberal“ und „konservativ“ sind beides poli­tische Begriffe. Es geht hier nicht darum, eine Position zu bevorzugen und es ist keine Anmaßung zu vermuten, dass die Mehrheit der europäischen Muslime weder das eine, noch das andere Etikett für sich beanspruchen.

Hier ist kein Platz für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einem, als „libe­ral“ etikettierten Islamverständnis. Dies ist auch nicht einfach, weil bisher nur Hakan Turan mit seinen „Fünf Thesen“ überhaupt eine kohärente Definition des „liberalen Islam“ lieferte. Aufgrund ­seines Sachverstands musste er, dem es nicht an Ernsthaftigkeit mangelt, in seinem Text vom 17. Mai manche Ansicht in bisherigen Publikationen korrigieren.

Es ist eine Pointe, dass den vermeintli­chen „Liberalen“ bisher nicht von „Konservativen“ widersprochen wurde. Niemand stand auf und sagte: „Ich bin konservativ, und ihr habt Unrecht!“ Die Mehrheit der Gegenstimmen zum Streit, der am 8. August 2011 durch einen Beitrag von Lamya Kaddor in der „Süddeut­schen Zeitung“ ausbrach, verweigert sich gerade jeder Etikettierung. Auch auf ­Nachfrage in Brühl konnte sie die Gruppe junger konservativer Muslime nicht eingrenzen, die sie in ihrem Text zu identifizieren suchte.

Wie im obigen Falle haben wir es mit einer Terminologie zu tun, deren ­Inhalt nicht in einer öffentlichen Debatte bestimmt wurde oder sich im Rahmen eines Konsens entwickelte. Sie entstand als Mittel im Kampf um Deutungshoheit. Darüber hinaus bleibt er unbestimmt, wie Hakan Turan schreibt: „Es ist erfor­derlich, dass innermuslimisch definiert wird, in welchem Sinn und in welchem Interesse diese Begriffe verwendet werden.“ Ein Blick auf die Webseite des LIB e.V. eröffnet bisher keine tiefere Durchdringung des eigenen Anspruchs, soweit es positive Begriffsdefinitionen betrifft.

Das liberale Konstrukt basiert wie alle, auf Gegensatzpaaren beruhenden Begriffe seit dem 11. September 2001 auf simplen Mechanismen. Indem man sich als „liberal“ bezeichnet, wird das Gegen­über fast automatisch „konservativ“ (inklusive aller negativer Zuschreibungen). Diese negative Abgrenzung erspart den mühsamen Weg hin zur Formulierung von positiven Inhalten, was auch der Text von Hakan Turan andeutet. Es wäre vergebene Liebesmüh, von den Fraktionen des politischen Islam sozio-ökonomische Lösungsansätze zu erwarten, die Kernelemente der islamischen Sozialethik (Mu’amalat) sind.

Außerdem offenbaren die bisher mit dem Begriff des „liberalen Islam“ in Verbindung stehenden Debattenfelder alte säkularen Glaubensfragen im neuen Gewand – „liberale Demokratie, Meinungs­freiheit und Pluralismus“ (Turan). Derartig ideologisch aufgeladen und mit solchen Ansprüchen aus der Werte-Debatte versehen, ist der „liberale Islam“ ein Kampfmittel im Streit um die Deutungs­hoheit innerhalb der muslimischen Community. Wie man die Sinnlosigkeit des „Liberalismus“-Begriffs weiter auf die Spitze treiben kann, belegte am 24. Mai die „New York Times“. Die US-Tageszeitung nannte den eingangs erwähnten Präsidentschaftskandidaten Aboul Foutouh einen „liberalen Islamisten“. Man könnte auch ergänzen, er ist ein ­liberaler Konservativer.

Auf dem Weg zur Verchristlichung?
Es gibt eine untergründigere, nur ­selten an die Oberfläche tretende Entwicklung, von denen der Liberalismus-Begriff nur eine Äußerung ist. In seiner spirituellen Ausformung, aber auch in der Lebenswirklichkeit könnte man das, wie es der Islamwissenschaftler und Autor Muham­mad Sameer Murtaza messerscharf in Brühl tat, als Verchristlichung bezeichnen. Analog zur Entwicklung des Protes­tantismus, der sich auf einen esoterischen „Glauben“ reduzierte, erlebte die musli­mische Moderne – interessanterweise ­jenseits sämtlicher Ideologien -, dass sich viele Muslime heute stärker denn je auf symboli­sche Handlungen und bestimmte Themen fixieren. Und dies, obwohl die religiöse Lebenspraxis dieses Dins in ­ihren Kernbereichen keine Symbolik kennt.

Auf ritueller Ebene wäre dies die Konzentration auf das Freitagsgebet, während viele Moscheen – aufgrund der Dominanz der ökonomischen Sphäre – tagsüber leere Räume sind. Ein anderes Beispiel ist die Obsession mit Lebensmittel­zusätzen, die in den frühen 1990er Jahren einen großen Platz innerhalb muslimischer Publikationen einnahmen. Und, last but not least, die Reduktion von Frauen auf das Kopftuch. So, als wäre dies das Endziel der spirituellen, gemein­schaftlichen oder sozialen Aktivitäten von Musliminnen.

Was den „liberalen Islam“ von konven­tionellen Formen muslimischer Überzeugungen trennt, ist sein Hang zur expli­ziten Zuspitzung. Auf der LIB-Webseite findet sich dazu der Satz: „Die theologische Basis für die Repräsentanz von liberalen Muslimen und Musliminnen in Deutschland lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Schahada – das islamische Glaubensbekenntnis. Dieses bezeugt den Glauben an den Einen Gott sowie den Glauben an Muhammad als Gesandten Gottes. Bei allem, was über diesen Kern hinausgeht, darf dogmatische und kulturelle Einheit weder Ziel noch Voraussetzung sein.“ Um solche obskure Neuinterpretationen zu rechtfertigen, ist es notwendig, sich in regelmä­ßigen Abständen von der Tradition abzugrenzen.

Die Tendenz einer verchristlichten Zwei-Welten-Lehre ist kein Privileg einer spezifischen Ausformung des politischen Islam. Sie ist – leider – massenkompatibel. Eine ihrer Manifestationen ist die Trennung zwischen persönlichen Glaubensüberzeugungen und dem Handeln in dieser Welt. Vergleichen wir die Quantität der ökonomischen Verpflichtungen des Dins mit der heutigen Glaubenspraxis müssen wir eine enorme Diskrepanz festhalten. Mehr noch: ­Während Imame die kleinsten Feinheiten der ritu­ellen Waschung oder ­erstrebenswerte Charaktereigenschaften in den Mittelpunkt ihrer Freitagspredigten rücken, spielen die Mu’amalat und namentlich die ökonomischen Gesetze keine Rolle.

Die Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, zwischen „Glauben“ (kaum ein gebildeter Muslim würde diesen Begriff verwenden) und „Handeln“ widerspricht der islamischen Einheitsleh­re. Das gleiche gilt für die Aufspaltung der Kernelemente des Dins in Glaubens­lehre/Iman und rituellen Handlungen/­Islam. In einer der wichtigsten prophetischen Überlieferung, die wegen ihrer Relevanz auch als „Mutter der ­Hadithe“ bezeichnet und von ‘Umar überliefert wurde, erklärte der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dass der Din aus den drei verbundenen Teilelementen Islam (die fünf Säulen: Schahada, Gebet, Zakat, Fasten im Ramadan und Hadsch), Iman (die sechs Glaubensgrundlagen) sowie Ihsan (spirituelle Perfektion) besteht. Hier eine künstliche Trennung vorzuneh­men, ­hieße die Lehre der Einheit und der Eigenschaften Allahs (Tauhid) von dem zu trennen, was der Prophet an Verhaltensmustern hinterließ. Jede politische Dialektik übt einen permanenten Zwang zur Zuspitzung (früher sprach man von permanenter Revolution) aus: Konsequent fortgeführt, endet diese Denkrich­tung in der de facto Leugnung des zweiten Teils der Schahada. Darüber hinaus bewirkt das künstliche Begriffspaar liberal-konservativ eine fortlaufende Spaltungsmöglichkeit. Wer heute noch liberal ist, kann morgen schon durch eine noch liberalere Glaubensrichtung als konservativ definiert werden.

Imam Abi Zaid Al-Qairawani schrieb im Vorwort seiner „Risala“, in der Einleitung zu seinem Kapitel über die Glaubenslehre: „Glaube [Iman] wird mit der Zunge ausgedrückt, durch die Aufrichtigkeit des Herzens und die Handlung der [Körper-]Glieder bestätigt.“

Die Kultur-Lüge
Bis jetzt hatten wir es mit Begriffen zu tun, die im Rahmen der europäischen Islam-Diskurse entstanden. Sie sind ihrem Wesen nach politische und folgen den Gesetzmäßigkeit moderner Politik. Der letzte Begriff hat sich separat von den obigen entwickelt und reflektiert die Tatsache, dass sich in den letzten 60 ­Jahren umfangreiche Einwanderergruppen in den westeuropäischen Staaten ­ansiedelten. In Ablehnung des real existierenden Rassismus der 1980er und 1990er ­Jahre, aber auch als Reaktion des Überbaus auf die Globalisierung der Ökonomie und ihres Zwangs zur uneingeschränkten Bewegung von Menschen, entwickelte sich das Konzept des „Multikulturalismus“.

In dieser Gemengelage aus Zuwanderung, Integration, Kulturkampf, Identität etc. wurde in Folge – und zum Leidwesen der europäischen Muslime – auch noch das Element „Islam“ eingebracht. So kam – bei vermeintlichen pro- wie anti-muslimischen Stimmen – das schädlich Missverständnis in die Welt, der Din sei eine wie auch immer geartete separa­te Kultur – entweder zu bejahen oder abzulehnen -, die seit Beginn der Einwande­rung von Muslimen hier heimisch wurde. Dieser irrige Begriff errichtet ständig neue Barrieren zwischen einer vermeint­lich christlich-abendländischen Kultur und dem – angeblich fremden – Islam. Sehen wir von realen kulturellen Verfallserscheinungen ab, die einige wenige Einwanderergruppen nach West­europa brachten (ein bekanntes Beispiel sind die unseligen und unislamischen „Ehrenmorde“), wirkt das alltägliche Missverständnis wesentlich subtiler, der Islam beziehungsweise der Muslim sei der Andere, der von der europäischen Kultur verschieden sei und daher „integriert“ werden müsse.

Die freundliche Sonne des „Multikulturalismus“ scheint aber nur auf denjenigen, der sich als fremder Exot in unsere bunte Patchwork-Gesellschaft einbringt. An jenen, die als Europäer in ihrer Religion authentische ­Antworten für diese Zeit und diesen Ort zu finden suchen, findet sie kein Vergnügen.

Die Zugehörigkeit zum Islam – wie die unzähligen neuen europäischen Muslime, Bosnier, Albaner, Bulgaren, West-Thraker und vor allem russischen Muslime belegen – bedeutet weder eine kulturelle Differenz, noch die Notwendigkeit für Muslime, der Multikulti-Ideologie anzuhängen. Sie stehen für das Ende vermeintlicher Hindernisse aus ­Identität und Kultur und stellen selbstverständlich auch keine Bedrohung für Europa dar. Genau hierfür braucht es Muslime (die natürlich die religiöse Lebenspraxis mit dem Rest der muslimischen Welt teilen) europäischer Mentalität, nicht Herkunft, welche durch ihre Existenz und ihr gelebtes Vorbild be-greifbar machen, dass der Islam keine Kultur ist.

Wollen Deutschlands und Europas Muslime zu einem handelnden Subjekt werden – und ihre Tendenz zu Atomisierung umkehren -, braucht es trotz gegenteiliger Annahme ein Nachdenken und auch einen Streit um die Begriffe. Nur wenn sie dieses vermögen, können sie sich freimachen von irrigen Konzepten und Vorstellungen, die ihnen von innen und außen aufgedrängt wurden. Die passive Übernahme der vorherrschenden Terminologie bedeutet die Fortsetzung bestehender Missverständnisse und Benachteiligung in den Debatten um den Islam.

Presseerklärung der SCHURA Niedersachen zum neuen Handlungskonzept des Innenministeriums

Hannover (PE Schura). Arbeitgeber sollen laut Schünemann in die Lage versetzt werden, „Radikalisierungsprozesse im eigenen Firmenumfeld frühzeitig zu erkennen“, so im Handlungskonzept. Das Netzwerk des Arbeitsbereichs Wirtschaftsschutz soll in Unternehmen und Wirtschaftsverbänden eine Sensibilisierung für die Themenfelder „Islamismus“ und „Radikalisierung“ übernehmen. Sie werden aufgefordert, „in gebotenen Einzelfällen konkrete fallbezogene Informationen über die betroffene Person zwischen den Kooperationspartnern und den Sicherheitsbehörden auszutauschen“. Arbeitgeber sollen also ihre muslimische Mitarbeiter beobachten und Erkenntnisse den Sicherheitsdiensten melden.

„Schura Niedersachsen wurde im Rahmen des Handlungskonzepts weder über die einzelnen Vorhaben informiert, noch hat sie Bereitschaft zu einer diesbezüglichen partnerschaftlichen Zusammenarbeit erklärt, wie es vom Niedersächsischen Innenministeriums behauptet wird“, erklärte Avni Altiner, Vorsitzender der Schura Niedersachsen, anlässlich des am 6. März 2012 vorgestellten Handlungskonzept zur „Antiradikalisierung“. Altiner weiter: „Es ist befremdlich, wenn Innenminister Uwe Schünemann erklärt, dass ‘schon bei der Erarbeitung des Konzeptes muslimische Vertreter mitgewirkt haben‘. Das entspricht nicht der Wahrheit. Vorschläge und Einwände der Schura Niedersachsen wurden weder berücksichtigt noch haben sie Eingang in das Handlungskonzept gefunden. Wenn dies dennoch behauptet wird, entspricht das allenfalls dem Wunsch, nach außen Einigkeit vorzutäuschen.“

„Richtig ist, dass beide Islamischen Religionsgemeinschaften ab einem gewissen Zeitpunkt auf ihr Drängen hin eingeladen worden sind. Nur zufällig haben die Islamischen Religionsgemeinschaften nach einer lange verstrichenen Arbeitsphase von den Arbeits- und Projektgruppen erfahren. Bedenken, Kritik und Vorschläge, die dazu geäußert wurden, wurden außer Acht gelassen. Daher ist es falsch, dass die Islamischen Religionsgemeinschaften dieses Handlungskonzept für aus unserer Sicht untragbare Maßnahmen mitgestaltet oder mitgetragen hätten.

Somit wurden der Einladung des Innenministeriums zu einem gemeinsamen Auftritt in der Landespressekonferenz folglich auch nicht entsprochen, würde dies doch zu einer öffentlichen Fehlinterpretation dieser Arbeiten führen.

Wir hatten uns schon dem Versuch der Instrumentalisierung während der langjährigen und äußerst diskriminierenden verdachtsunabhängigen Kontrollen des Innenministers vor Moscheen widersetzt und werden dies auch in Zukunft tun; solche waren vom Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des Landtages als verfassungswidrig eingestuft worden.

Die Islamischen Religionsgemeinschaften sitzen seit Jahren gemeinsam mit den Niedersächsischen Sicherheitsbehörden an einem Tisch. Für uns ist es wichtig, gemeinsam Konzepte zu entwickeln und diese umzusetzen. In konkreten, nachweisbaren Fällen unterstützen wir die Verfolgung terroristischer Umtriebe unter voller Ausschöpfung der strafermittelnden und -rechtlichen Möglichkeiten. Es ist aber mehr als laienhaft anzunehmen, dass sich fragliche Personen innerhalb der Gemeinden profilieren würden. Die Sicherheit im Lande, in der Gesellschaft und auch für unsere Gemeinden ist uns wichtig! Insbesondere wenn es um die Sensibilisierung und Aufklärung der Sicherheitsbehörden und der Mehrheitsgesellschaft geht. Allerdings muss dies im gegenseitigen Respekt, einem angemessenen Procedere und auf entsprechender Augenhöhe geschehen.

Die ‘vertrauensbildenden Maßnahmen’, von denen im Papier des Innenministeriums die Rede ist, können mit den vorgelegten Handlungskonzepten nicht erreicht werden. Denunziantentum im Arbeits- oder sozialen Umfeld oder gar in Schulkassen sind allenfalls geeignet, Vorurteile zu schüren, Muslime unter Generalverdacht zu stellen und sie letztendlich in das soziale Abseits zu drängen. In einem Klima des Misstrauens, wo Arbeitgeber, Dialogpartner oder Lehrer aufgefordert werden, bei ‘Auffälligkeiten’ ‘fallbezogene’ Informationen an die Sicherheitsbehörden zu liefern, kann kein Vertrauen entstehen.

Wenn Schünemann in Niedersachsen wieder eine Blockwart-Mentalität installieren möchte, dann macht er gesamtgesellschaftlich ein Fass auf, über das auch in der gesamten Gesellschaft der Diskurs geführt werden muss. ‘Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant’ – Dieser Satz des Dichters August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hat ja in der Geschichte der deutschen Diktaturen seine unrühmliche Bestätigung gefunden. Will jemand dorthin zurück? Dies widerspricht auch dem Selbstverständnis der Schura Niedersachsen.

Wir sehen die konkrete Gefahr darin, dass der gesamtgesellschaftliche Frieden in Niedersachen durch solche unbedachten Schritte nachhaltig gestört wird. Diese Arbeiten sind einerseits rechtlich bedenklich, anderseits entsprechen sie einem politischen Taktieren, das dem Ethos der Demokratie und den Grundlagen einer offenen, pluralistischen Gesellschaft widerspricht, indem es aus unserer Perspektive zunehmend den Zug einer Einschüchterungspolitik trägt.

Es dürfte zudem abschreckend wirken, wenn die Federführung für diese Maßnahmen beim Verfassungsschutz bleibt. Leider hat dieser durch die letzten schrecklichen Ereignisse in Bezug auf den rechtsradikalen Terrorismus große Verluste an Vertrauen – nicht nur unter den Muslimen – einstecken müssen. So empfindet sich die breite Masse der Muslime in Niedersachsen wieder mal unter Generalverdacht, vorverurteilt und als Opfer eines schlichten politischem Populismus.“

Niedersachen: DITIB widerspricht ministerieller Presseerklärung in ihren entscheidenden Punkten

Hannover (iz). Es ist eine Binsenweisheit, dass wichtige Entwicklungen etwas länger brauchen, um auch in der Provinz Eindruck zu machen. Daher muss es nicht verwundern, dass sich die Nachwirkungen der Anschläge in Norwegen, die Grauzonen der extremen Islamkritik und das offene Ende der Ermittlungen zum rechtsextremen Terrornetzwerk der so genannten “Zwickauer Zelle” noch nicht überall Bahn gebrochen haben. Doch selbst in der ansonsten idyllischen Landeshauptstadt Hannover sollten diese Ereignisse jetzt wahrgenommen und verarbeitet worden sein.

Am Donnerstag, den 7. März 2012 veröffentlichte das niedersächsische Innenministerium seine “Kernaussagen zur Antiradikalisierung und Prävention im Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus”. Hierzu sei insbesondere auf die Bestandsaufnahme der Arbeitsgemeinschaft “Deradikalisierung” des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) in Berlin zurückgegriffen worden. Im Rahmen der Projektgruppenarbeit seien zudem umfangreiche Materialien gesammelt und ausgewertet worden sein.

“Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse hat die Projektgruppe 'Antiradikalisierung' ein Handlungskonzept zur Antiradikalisierung und Prävention im Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus in Niedersachsen” erarbeitet, hieß es in dem ministeriellen Papier.

Erstens solle im Rahme so genannter “Präventionspartnerschaften” die Zusammenarbeit mit muslimischen Institutionen weiter intensiviert werden, um Radikalisierungstendenzen möglichst früh zu erkennen. “Aufbauend auf den hier gesammelten Erfahrungen und Kontakten sollen nun gemeinsam institutionalisierte Präventionspartnerschaften auf lokaler sowie auf Landesebene entwickelt werden.” Ein “Gesprächskreis” solle genutzt werden, um das weitere Vorgehen “in Angelegenheiten der Islamismusprävention im Sinne des Handlungskonzeptes” mit muslimischen Organisationen zu besprechen.

Dies dürfte einer der kritischen Punkte sein, da bisher in der bundesdeutschen Debatte ungeklärt ist, was eigentlich unter “Islamismus” zu verstehen sei. Bereits in der Vergangenheit wurde von unterschiedlichen Seiten zu Recht angemerkt, dass der so genannte “Islamismus”-Begriff deutscher Sicherheitsdienste auch Aspekte betrifft, die vom Grundgesetz gedeckt sind. Auf lokaler Ebene wolle man zudem, so das Papier, “auch auf extremistische Moscheevereine” zugehen, die keine salafitischen und jihadistischen Strukturen aufwiesen. Um welche Moscheevereine es sich dabei handeln soll, veröffentlichte das Innenministerium in Hannover bisher noch nicht.

Im nächsten Schritt solle das Netz der Radikalismusprävention für potenziell gefährdete Personen auch in der Zusammenarbeit mit den Landesbehörden ausgeweitet werden. Die Bandbreite des ministeriellen Blicks reicht von “Schulen”, über “Ausländerbehörden” bis zu den “Finanzbehörden”. Diese “Kooperationspartner” sollen in die Lage versetzt werden, “Radikalisierungsprozesse in ihrem eigenem Zuständigkeitsbereich selbstständig zu erkennen”.

Darüber hinaus wolle das Ministerium sie dazu anhalten, “Radikalisierungsprozesse mit eigenen Mitteln und im Rahmen der eigenen rechtlichen Möglichkeiten entgegenzuwirken”. In so genannten “gebotenen Einzelfällen” müssten “konkrete fallbezogene Informationen über die betroffene Person” mit den Sicherheitsbehörden ausgetauscht werden. Wie das konkret auszugestalten wäre, erklärten die ministeriellen Extremismusexperten nicht. Reicht bereits ein Besuch beim Finanzamt in orientalischer Tracht oder mit langem Bart, um im Netz der Radikalismusprävention zu landen?

Die Verhinderung der Radikalisierung gefährdeter Muslime bleibt, wenn es nach den Plänen des niedersächsischen Innenministeriums geht, nicht vor den behördlichen Grenzen stehen. Man wolle auch Unternehmen und Wirtschaftsverbände “für die Gefahren des islamistischen Extremismus und Terrorismus” sensibilisieren. “Diese sollen damit in die Lage versetzt werden, Radikalisierungsprozesse im eigenen Firmenumfeld frühzeitig zu erkennen.” Natürlich werde man dafür Ansprechpartnern und Sicherheitsbeauftragten in der Wirtschaft Informationsmaterialien zur Verfügung stellen.

“Ziel aller Vorschläge und Maßnahmen ist (…) auch die muslimische Bevölkerung in Niedersachsen als Unterstützer und Partner zu gewinnen und die Öffentlichkeit insgesamt über Islamismus als politischen Extremismus zu informieren und für die Gefahren zu sensibilisieren”, hieß es in dem Papier. Zugleich solle deutlich werden, “dass muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger selbstverständlich nicht unter einem Generalverdacht stehen und nicht stigmatisiert werden dürfen”. Ob dies funktioniert, wenn zugleich angekündigt wird, ein gesamtgesellschaftliches Netz der Prävention über das Bundesland zu legen, ist durchaus fraglich. Das ständige in Zusammenhangbringen von Muslimen und potenziellen Gefährdern hat bekanntermaßen eine untergründige psychologische Wirkung.

Die Erklärung versicherte der Öffentlichkeit, dass die “Vorsitzenden bzw. Vertreter von Ditib und Schura Niedersachsen (…) über die einzelnen Vorhaben informiert” worden seien und ihre “grundsätzliche Bereitschaft” erklärt hätten.

//2//Die Entgegnung auf diese Tatsachenfeststellung folgte auf dem Fuße. Am Nachmittag des gleichen Tages erklärte der DITIB Landesverband Islamischer Religionsgemeinschaft Niedersachsen und Bremen e.V. in seiner Stellungnahme zu den “Kernaussagen des Handlungskonzepts”, dass es “grundsätzlich falsch” sei, wonach die Islamischen Religionsgemeinschaft dieses Handlungskonzept mit gestaltet oder mitgetragen hätten. Man habe überhaupt nur zufällig und “nach einer lange verstrichenen Arbeitsphase von den Arbeits- und Projektgruppen überhaupt” gehört.

Ein entscheidendes Missverständnis des Innenministers sei es gewesen, dass man die gefährdeten, junge Muslime gar nicht im Rahmen der Moscheegemeinden erreichen könne. Diese seien “nicht in unseren Moscheegemeinden anzutreffen”. Seine früheren verdachtsunabhängigen Moscheekontrollen – ein Novum für die Bundesrepublik – hätten nicht nur bisheriges Vertrauen verspielt. Sie seien auch ergebnislos geblieben. Bereits damals hätte Minister Schünemann behauptet, dass diese Überwachungen in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften vonstatten gegangen sei.

“Zu berücksichtigen ist zudem, dass es abschreckend wirken wird, wenn die Federführung beim Verfassungsschutz bleibt. Leider hat dieser durch die letzten schrecklichen Ereignisse in Bezug auf den rechtsradikalen Terrorismus große Verluste an Vertrauen – nicht nur unter den Muslimen – einstecken müssen. Und wenn man den ähnlichen Weg wie beim Inlandsgeheimdienst gegen Rechtsextremisten einschlagen möchte, dann möchten wir betonen, dass dieser Schuss schon mehr als einmal nach hinten losgegangen ist.”

Die breite Masse der Muslime in Niedersachsen fühle sich derart wieder einmal unter Generalverdacht gestellt, pauschal vorverurteilt und politischem Populismus ausgesetzt. “Unter dem Deckmantel der Prävention wird hier jedoch ein breit angelegtes Denunziantentum als Netz über Gesellschaft, Wirtschaft und Institutionen gespannt und erschüttert damit das Fundament unserer Gesellschaft.”

Debatte: Wie ist es um die muslimischen Jugendlichen in Deutschland bestellt? Kritiker widersprechen vorgestellten Ergebnissen. Von Sulaiman Wilms

“Wohlgemerkt lassen sich die Ergebnisse der Studie nicht auf alle Muslime in Deutschland hochrechnen – das betonen auch die Forscher nachdrücklich. Sie schreiben sogar: Man dürfe es nicht.” (DER SPIEGEL, 1. März 2012)

Berlin (iz). Nachdem andere, wichtigere Themen die öffentliche Aufmerksamkeit in Beschlag nahmen, hat das Thema “Islam” erneut Einzug gehalten. Dieses Mal richtet sich der Fokus auf muslimische Jugendliche. Während die Öffentlichkeit erst heute Mittag Zugang zu der Studie erhielt, konnten die “BILD” bereits früher darauf zurückgreifen. Sie leitete unter dem Titel “Innenminister warnt radikale Muslime” flugs einen neuen Aufmerksamkeitszyklus ein. Die anderen Medien zogen nach.

Es steht zu befürchten, dass auch diese Studie (wie die, die vor 1 1/2 Jahren von Familienministerin Schröder vorgestellt wurde) – ungeachtet der Intention ihrer AutorInnen – instrumentalisiert wird. Das dürfte auch daran liegen, dass die 764 Seiten lange Studie in den meisten Qualitätsredaktionen wohl kaum ganz gelesen werden wird.

Prof. Dr. Wolfgang Frindte von der Universität Jena schrieb eine Kurzzusammenfassung, die sich von der Panik-Überschrift der “BILD” abhebt. Prof. Frindte war, neben anderen Wissenschaftlern, an der Studie beteiligt, die zwischen Februar 2009 und Juni 2011 im Auftrag des Innenministerium (BMI) durchgeführt wurde und die nicht als repräsentativ deklariert wurde. Für ihre Ergebnisse führten die Forscher mehr als 700 Telefoninterviews, analysierten Internetforen, die von jungen Muslimen genutzt würden und werteten die Berichterstattung deutscher, türkischer und arabischer Sender aus.

Frindtes Zusammenfassung ergibt ein ambivalentes Bild und kann kaum als “Schock-Studie” bezeichnet werden. “In den Interviews mit muslimischen Familien (…) zeigte sich einerseits, dass sich die Interviewteilnehmer aller drei Generationen – unabhängig vom Grad ihrer Religiosität und der Integration in die deutsche Gesellschaft – deutlich vom islamistischen Terrorismus distanzieren. Andererseits nehmen die Interviewten den 'Westen' wegen seines Umgangs mit der islamischen Welt (…) überwiegend negativ wahr.”

//2//Die Befragten erlebten eine “Pauschalverurteilung der Muslime als Terroristen und eine zu vorschnelle Verknüpfung des Islams mit dem Terrorismus”. Dies werde besonders durch die Art der Berichterstattung in den Medien forciert. “Deutlich wurde in den Interviews der Wunsch, neben einer Integration in die deutsche Gesellschaft eine muslimische Identität leben und gestalten zu dürfen”, beschrieb Prof. Frindte seine Ergebnisse.

Es gibt, so die Schlussfolgerung des Jenaer Forschers, keine homogene muslimische Masse. “Dass es die eine Art von Muslimen in Deutschland nicht gibt, wurde auch in dieser zweiteilligen telefonischen Befragung deutlich. Die Mehrzahl der befragten deutschen und nichtdeutschen Muslime ist bestrebt, sich zu integrieren, d.h. sie wünschen sich, ihre traditionelle Herkunftskultur zu bewahren und gleichzeitig die deutsche Mehrheitskultur zu übernehmen.”

Ein Aspekt der BMI-Studie kann selbst Kritiker nicht überraschen: Bei Muslimen mit deutscher Staatsbürgerschaft ist die Befürwortung von Integration mit 78 Prozent deutlich höher als in der Vergleichsgruppe (hier nur 52 Prozent), die keine deutschen Staatsbürger sind. Viele deutsche Muslime müssen immer wieder die Erfahrung machen, dass in ethnisch homogenen muslimischen Gemeinschaften der Austausch und die Zustimmung zur Umwelt geringer ist als in Gemeinschaften, die ihren Fokus auf Deutschland haben.

“Sowohl in der Gruppe der deutschen Muslime als auch in der der nichtdeutschen Muslime lässt sich eine Subgruppe identifizieren, die als 'streng Religiöse mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenz' bezeichnet werden kann.” Dabei gebe es in dieser “Subgruppe” Unterschiede zwischen den deutschen Muslimen (15 Prozent) und den nichtdeutschen Muslimen (24 Prozent).

//3//“Dass sich eine große Zahl von Muslimen aufgrund des negativen Bildes 'der Deutschen' vom Islam und der als einseitig negativ empfundenen Medienberichterstattung über den Islam ausgegrenzt sieht und als Gruppe diskriminiert fühlt, konnte auch in diesem Projektteil bestätigt werden.” Diese Menschen, die sich in die deutsche Gesellschaft integrieren wollten, stünden vor der Herausforderung, trotz dieser wahrgenommenen ablehnenden Haltung der Deutschen ein positives soziales Selbstverständnis zum Beispiel als “Deutschtürken” oder „deutsche Muslime“ zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Soweit einige Elemente aus Prof. Dr. Wolfgang Frindtes Zusammenfassung.

Die Replik, die bisher das größte Gewicht für sich beanspruchen darf, kommt aus dem nordrhein-westfälischen Sozial- und Integrationsministerium. Dort wurde die BMI-Studie als “zweifelhafte Studie” bezeichnet. Minister Guntram Schneider reagierte kritisch auf die Ergebnisse: “Wir haben in NRW – und hier lebt immerhin ein Drittel der in Deutschland lebenden Muslime – ganz andere Ergebnisse erhalten. Aus unserer Studie 'Muslimisches Leben in NRW' aus dem Jahr 2011 geht hervor: Die große Mehrheit der Muslime ist bereit, sich zu integrieren.”

//4//Es sei fatal, dass Bundesinnenminister, “nun mit einer Studie ins Land ginge”, die zu gegensätzlichen Ergebnissen käme. Demnach würde unterstellt, dass “ein erheblicher Teil der jungen Muslime” Feinde der Demokratie seien. “Das Gegenteil ist der Fall”, verlautbarte Schneider in Dortmund. Zahlen aus NRW, für die 2.477 Muslime befragt worden seien, hätten das Folgende ergeben: “Gerade die jungen Muslime fühlen sich als Teil der deutschen Gesellschaft. Knapp 80 Prozent unterhalten häufige Kontakte zu Deutschen. Und je höher ihr Bildungsabschluss, desto mehr Kontakte zu Deutschen finden statt.”

Innenminister Friedrich mache alles andere als “eine angemessene Teilhabe an der Gesellschaft” zu ermöglichen. Er trage vielmehr dazu bei, junge Muslime zu stigmatisieren.

Im Übrigen widersprächen die Erkenntnisse dieser Studie den Daten der Vorläuferstudie „Muslimisches Leben in Deutschland“, die das BMI im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz zuvor publiziert hatte. Auf deren Grundlage wurde die NRW-Studie erstellt. „Daher wird das nordrhein-westfälische Integrationsministerium die aktuelle Bundesstudie und ihre Methodik genau prüfen“, sagte Minister Schneider heute.

CSU-Politiker spielen mit einer Studie und mit der Stimmung. Ein Kommentar von Malik Özkan

Berlin (iz). Großartig. Da bekommt die „BILD“ exklusiv eine Studie des Bundesinnenministeriums zugespielt und darf vorab die Deutschen einstimmen. 700 Seiten Studie (die genauso wie die Vorlage zur Griechenlandhilfe wohl kaum einer lesen wird) werden da flugs unter dem Stichpunkt „Integrationsverweigerung“ von jungen Muslimen zusammengefasst. Sogar die Macher der Studie fühlen sich hier benutzt, hatten sie doch gerade davor gewarnt, die nicht repräsentative Umfragen zu verallgemeinern.

Das Spiel ist altbekannt: Nachdem die Stimmung gegen Muslime geschaffen wurde, beeilt sich dann die Politik einige Tage später, im Kleingedruckten zu differenzieren. So ganz offen will man sich nicht gegen den Islam stellen, hat man doch von München bis Hamburg in Sachen Export von Rüstungsgütern, Überwachungstechnik und Luxusautos keine echten Berührungsängste mit der islamischen Welt.

In der Provinz zu Hause kalauern aber die Panikmacher – von der fröhlichen Wissenschaft inspiriert – vor sich hin: „Diese Integrationsverweigerung muss nicht, aber kann den Nährboden für religiösen Fanatismus und Terrorismus darstellen“, philosophierte der CSU-MdB Uhl ins Blaue.

Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) warnte (ganz zufällig) in der Bild-Zeitung vor einem „Import autoritärer, antidemokratischer und religiös-fanatischer Ansichten“. Heißt das nicht im Klartext: „Die islamische, nicht Brotzeit und Maß einnehmende Jugend bleibt fremd, nicht-deutsch und muss daher beargwöhnt werden?“

Wie ignorant muss man übrigens sein, um die Tendenzen der Verrohung, ganz ohne Religion, nicht in der Allgemeinheit eines Teils unseres Jugend – unabhängig vom Geburtsort und von „links bis rechts“ – zu beobachten?

Apropos Stimmung. Auch Deutsche, die nichts mit dem Islam am Hut haben, dürften – so oder so – langsam innehalten. Der Intelligenztest Made in Germany geht mit der folgenden Frage einher: Es ist also nicht der Kapitalismus, der Demokratie und Verfassung gefährdet, sondern der „Islamismus“ einiger Hundertschaften junger Muslime? Wer glaubt das eigentlich noch?

Verfassungsschutzbericht über die Muslimische Jugend in Deutschland hält gerichtlicher Prüfung nicht stand

„Eigentlich erfüllen die bundesweit rund 9.000 Mitglieder der MJD alles, was die Mehrheitsgesellschaft von Muslimen verlangt: Sie sprechen perfekt Deutsch, die meisten gehen aufs Gymnasium oder zur Universität, sie nehmen aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. Die 1994 gegründete MJD wendet sich ausdrücklich gegen Gewalt und radikales Gedankengut.” (Jan Kuhlmann, Stuttgarter Zeitung, 17.2.2012)

Berlin (iz/MJD). Das Berliner Verwaltungsgericht entschied bei einem wegweisenden Verfahren „zum größten Teil“ zugunsten der Muslimischen Jugend in Deutschland e.V. (MJD), die sich in dieser Instanz gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz durchsetzen konnte, verlautbarte die MJD in einer Pressemitteilung vom 16.2.2012. „Die MJD begrüßt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin vom 16.02.2012, welches feststellt, dass die Vorwürfe des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegen die MJD zu großen Teilen rechtswidrig sind. Das Gericht ordnete eine Überarbeitung der Berichterstattung aus dem Jahr 2009 an.“

Die Richter haben „bei allen Punkten klar gestellt“, dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz bei einer Berichterstattung auf belegbare Tatsachen stützen müsse. Diese Mindestanforderung wurde in den besagten Punkten nicht erfüllt. Dadurch sieht das Gericht die Rechte der MJD als verletzt und somit das Klagebegehren als begründet an. „Wir begrüßen die Entscheidung des Gerichts und fühlen uns dadurch bestätigt, mit der Erhebung einer Klage einen richtigen Schritt gegangen zu sein. Die überwiegend positive Entscheidung des Gerichts zeigt, dass wir als religiöse Minderheit weiterhin Vertrauen in unser Rechtssystem haben dürfen“, äußerte sich Hischam Abu Ola, Vorsitzender der MJD e.V.

Es mache fassungslos, dass die Verfassungsschutzämter einerseits bei einer um Integration bemühten muslimischen Jugendorganisation mit Akribie nach Vorlagen für denunziatorische Erwähnungen suchen würden, auf der anderen Seite jedoch gewalttätige Rechtsextremisten über Jahre nur unzureichend ins Visier nehmen.

Das Berliner Urteil ist eine wichtige Entscheidung, weil es die beliebte Gleichsetzung von radikalem Gedankengut mit einer religiös-konservativen Einstellung als nicht rechtmäßig eingestuft hat. Es muss auch in Deutschland möglich sein, mit einer inneren religiösen Intensität als rechtstreue Bürger zu gelten.

Gerade auch im Lichte des Naziterror-Debakels mehrerer Landesverfassungsschutzämter sollte die Debatte über die Zukunft der Dienste, die keine Verfassungsorgane sind [Vergleichbares schrieb von einigen Tagen Heribert Prantl, Kommentator bei der SZ] geführt werden. Es kann nicht sein, dass in Deutschland mehrheitsfähige, muslimische Ansichten stigmatisiert und de facto kriminalisiert werden, die im europäischen Kontext – beispielsweise in Großbritannien – kein Problem sind.

Die Frage muss erlaubt sein, ob die, Muslime beobachtende Experten eine Beobachterrolle haben, oder durch ausgrenzende Definitionen selbst zu handelnden Akteuren werden und somit politische Entscheidungen vorwegnehmen.

Debatte: Islamgegner müssen wohl kaum unter einem Radikalenerlass leiden. Ein Kommentar von Daniel Bax

(taz). Seit dem Attentat von Norwegen stehen manche hauptberuflichen „Islamkritiker“ nun selbst in der Kritik. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, inwieweit ihre antimuslimische Weltsicht auch den Mörder von […]

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