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Muslime und Konsum: Kann es halal ohne tayyib geben?

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Wie konsumieren wir? Zum Ramadan machte das GreenIftar-Projekt von NourEnergy auf die Bedeutung ganzheitlicher Perspektiven aufmerksam.

(iz). Das Projekt NourEnergy startete am 10. Februar seine diesjährige GreenIftar-Kampagne mit einem spannenden Symposium in der Kölner Zentralmoschee. Unter dem Titel „Back to the Roots“ gingen die Redner- und TeilnehmerInnen der Frage nach, in welchem Zusammenhang die qur’anischen Anforderungen von „halal“ und „tayyib“ stehen.

Hierzu sprachen wir mit Baraa Abu El Khair, dem 2. Vorstandsvorsitzenden des Vereins. Darin geht es um die Notwendigkeit, beide Prinzipien zeitgleich zu praktizieren, Muslime im Kapitalismus und welche Rolle das ökologische Engagement in der Begegnung spielen kann.

Islamische Zeitung: Lieber Baraa Abu El Khair, am 10. Februar hat NourEnergy das Tagesseminar „Back to the Roots“ in Köln veranstaltet. Dabei ging es um die verbundenen qur’anischen Konzepte Halal und Tayyib. Können Sie unseren Lesern kurz umreißen, wobei es sich dabei handelt? 

Baraa Abu El Khair: Vermeintlich moderne Phänomene, wie „Bio“ und „Fair“, mit denen viele Muslime noch fremdeln, sind unserer Überzeugung nach lediglich in ihrem Framing neu. Ein Blick in die muslimischen Primärquellen macht deutlich, dass diese Konzepte nicht nur tangiert, sondern zentral adressiert werden. Maßlosigkeit, Zerstörung von Ackerflächen und Ungerechtigkeit sind nur einige dieser universellen Prinzipien, die der Qur’an zentral diskutiert.

Im Rahmen unseres Workshops fokussieren wir uns auf die Formel „Halal und Tayyib“, weil sie zwei Sphären vereint, die dringend und ausnahmslos zusammengedacht werden müssen. Während „Halal“ eine juristische Kategorie des Fiqhs darstellt, zielt „Tayyib“ auf die ethische Dimension ab. Demnach kann eine Handlung durchaus halal sein, aber nicht tayyib sein.

Beide Aspekte stehen in einer direkten Wechselwirkung zueinander. Es liegt in der Natur der Sache, dass selbstverständlich auch hier die Bewertung, ob etwas nun tayyib ist oder nicht, von vielen weiteren Faktoren abhängt und somit von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit variieren kann.

Das hindert uns aber trotzdem nicht daran zumindest den Versuch zu unternehmen, diese Konzepte im Kontext aktueller Krisen, wie dem Klimawandel, zu diskutieren, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten, die uns in unserem Alltag dabei helfen können, Träger von Nutzen zu sein und damit Allah näher zu kommen.

Foto: Jochen Tack, imago

Konsum: Teil der Massenindustrie

Islamische Zeitung: Seit geraumer Zeit betonen wir Muslime insbesondere den ganzen Halal-Komplex und haben teils hochfeine Prüfmechanismen für einzelne Zutaten von Lebensmitteln entwickelt. Gleichzeitig scheinen ganzheitliche Fragen von Tayyib – von der Vollwertigkeit der Zutaten bis zu Arbeitsbedingungen bei ihrer Erzeugung – kaum eine Rolle zu spielen. Woran liegt das?

Baraa Abu El Khair: Auch wir Muslime sind letztlich Kinder unserer Zeit. Die traurige Realität ist, dass wir uns als muslimische Gemeinschaft gar nicht wirklich vom Mainstream unterscheiden. Schauen wir uns beispielsweise die Massentierhaltung an, stellen wir ziemlich schnell fest, dass diese zumindest nach den meisten muslimischen Gremien in keinem Konflikt zu den islamischen Lehren steht.

Die Vorstellung, dass wir Muslime ein weitreichendes „Halal-Gegenkonzept“ anbieten würden, hält keiner kritischen Prüfung stand. Wir sind Teil dieser Massenindustrie, die unsere unendliche Gier und den Profit zu stillen versucht. Es wirkt so, als wären unsere Wertvorstellungen dem kapitalistischen Geist zum Opfer gefallen. Damit geht die große Gefahr einher, dass nicht mehr unsere Werte maßgeblich Handlungen beeinflussen, sondern Handlungen maßgeblich unsere Wertvorstellung.  

Tayyib geht mit vielen quranischen Prinzipien einher, die vielen von uns geläufig sind: „Denn Allah liebt die Verschwender nicht.“ [6:141], „Seid gerecht. Das ist näher der Gottesfurcht.“ [5:8], „Esst von den guten Dingen.“ [20:81]. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern diese Prinzipien in unserer Bewertung über gegenwärtige Trends, Produkte und Investitionen, überhaupt eine entscheidende Rolle spielen.

Es ist in gewisser Weise alarmierend, dass es uns noch nicht zureichend gelingt, eine ausgewogene Balance zwischen einem formellen und werteorientierten Islam zu finden. Halal und Tayyib stellen keine Gegenpole dar, sie ergänzen sich, sie stehen laut Qur’an und Sunna sogar untrennbar nebeneinander.

Wie kann das Gleichgewicht wiederhergestellt werden?

Islamische Zeitung: Welche Wege und Möglichkeiten gibt es jenseits von Bildungsarbeit, die Balance zwischen beiden wiederherzustellen? 

Baraa Abu El Khair: GreenIftar ist eine Marke von NourEnergy. Hier versuchen wir seit nun über 6 Jahren einen ganzheitlichen Ansatz zu fahren, der neben Bildungsangeboten insbesondere zum Ziel hat, dass Teilnehmende durch Erfahrung wachsen. Gerade im Ramadan ist die Aufnahmebereitschaft besonders hoch. Hier erleben wir große Begeisterung für Veränderung. Dreh- und Angelpunkt des Ramadans stellt die Taqwa dar, die es zu verinnerlichen gilt.

So heißt es im Qur’an: „… auf dass ihr achtsam werdet.“ [2:183] Genau hier setzen wir an. Die Achtsamkeit gegenüber unserem Schöpfer geht schließlich mit unseren alltäglichen Entscheidungen einher. Wie achtsam etwa konsumiere ich Lebensmittel und Produkte? Was sind unsere Bewertungskriterien und in welchem Zusammenhang stehen diese zu Halal und Tayyib? 

Um sich mit diesen Fragen verstärkt im Ramadan zu beschäftigen, animieren wir Moscheen, Hochschulgruppen und sämtliche Organisationen einen oder mehrere GreenIftar(e) im Ramadan zu planen und durchzuführen. Wir erleben hier eine große Begeisterung seitens der Teilnehmenden und auch der Gäste, da sie beginnen Tiefgang und Qualität in ihrem Handeln zu erkennen.

Umweltethik Islam

Foto: Bahatha.co

Sie bringen ein Stück weit ihre Werte, die vielleicht zuvor ins Unterbewusstsein gerückt sind, mit ihren Konsumentscheidungen zusammen und gelangen so zu mehr Achtsamkeit. Wir glauben fest daran, dass diese erfüllende Erfahrung etwas Nachhaltiges im Menschen bewirkt.

Unser Vorstandsvorsitzender, Tanju Doganay, pflegt hier zu sagen: „Konsum ist eine Form des Dschihads.“ Im weiteren Sinne sagt er damit, dass Konsum mit Anstrengung und Achtsamkeit einhergeht. Inwieweit ist das Produkt in meinem Einkaufswagen Halal und Tayyib? Wo stammt es her, ist es Resultat von Kinderarbeit, ist es gesund? Oft erhalten wir das Feedback, dass GreenIftar-Teilnehmende dadurch achtsamer geworden sind, weniger verschwenden und Erfüllung darin finden nachhaltig und fair zu konsumieren.

Nachdenken über den eigenen Konsum

Islamischen Zeitung: Seit mehreren Jahren organisiert NourEnergy – wie andere Initiativen im Ausland auch – die Kampagne GreenIftar. Dabei geht es auch um den Ramadan als einen „Monat der Rückbesinnung und Reflexion“. Sie rufen dabei zu einem Nachdenken über das eigene Konsumverhalten und den Umgang von Muslimen mit der Natur auf. Wie entwickelte sich dieses Projekt in den letzten Jahren?

Baraa Abu El Khair: Aus einer anfänglichen Plastikfasten- Idee ist GreenIftar mittlerweile zu einer Bewegung und einem internationalen Netzwerk geworden, was sich in Zahlen belegen lässt. In 6 Jahren fanden weit über 300 GreenIftar-Veranstaltungen in einem Dutzend Länder statt, an denen über 36.000 Menschen teilgenommen haben. Hochgerechnet haben wir somit der Umwelt über 3,5 t CO2 erspart.

Dabei geht es uns nicht ausschließlich um das Ergebnis, sondern auch darum Menschen zu bilden, die zu Trägern dieser Botschaft werden. Deutschlandweit haben wir deshalb GreenIftar Ambassadors in unserem Netzwerk aufgenommen, die wiederum ihre jeweilige Community beeinflussen. Diese Ambassadors kommen dabei nicht zwangsläufig oder ausschließlich aus der Nachhaltigkeitswelt, sondern aus verschiedensten Bereichen.

Ärzte, Naturwissenschaftler, Köche, Imame und weitere Profile finden sich in unserem Botschafter-Netzwerk wieder. So stellen wir sicher, dass wir unterschiedliche Gruppen erreichen, auch solche, die mit Nachhaltigkeit vielleicht noch keine großen Berührungspunkte haben.

Mittlerweile fokussieren wir uns primär auf konzeptionelle Themen, Netzwerktreffen und die Erstellung von Infomaterialien wie Leitfäden und einem einzigartigen Buch mit Informationen über Halal und Tayyib und speziellen Rezepten und Tipps zum Kochen, das in Kürze erscheinen soll. Wir bieten eine Plattform des Austauschs an und generieren so einen Multiplikatoreffekt, der es uns erlaubt GreenIftar in neue Räume und Kontexte zu bringen.

Seit einigen Jahren beispielsweise kommen vermehrt Anfragen aus Schulen, die GreenIftare veranstalten möchten, weil muslimische Lehrer/innen an unseren Workshops teilgenommen haben. Das Potenzial ist also noch lange nicht ausgeschöpft, was uns in unserer Arbeit bestätigt und motiviert.

Foto: Freepik.com

Islamische Zeitung: Lassen sich Mengenangaben machen, was a) von Muslimen während des Fastenbrechens beispielsweeise an schädlichen Verpackungen verbraucht wird und b) wie groß die Einsparpotenziale sind?

Baraa Abu El Khair: Mit ca. 300 GreenIftaren hat unsere Community der Umwelt 128.000 Plastikteile erspart. Das sind pro Iftar etwa 420 Plastikteile und knapp 12 kg CO2, die wir der Umwelt ersparen. Das ist in etwa das Äquivalent zu einem Kleinwagen, der eine Autobahnstrecke von 100 km hinterlegt. Wenn man nun ein Gedankenspiel mit den knapp 3.000 deutschen Moscheen durchführt, wird einem das Potenzial erst bewusst, zumal viele dieser Gemeinden im Ramadan tägliche Iftare anbieten.

Wenn lediglich ein Zehntel dieser Gemeinden teilnehmen und nur am Wochenende GreenIftare veranstalten würde, hätten wir in einem einzigen Ramadan 2.550 Fastenbrechen mit einer Ersparnis von 1 Millionen Plastikteilen und etwa 30 t CO2.

Dabei geht es bei diesen Plastik-Ersparnissen nicht nur um die Emissionen, sondern auch um weitere Schäden, die mit Plastikmüll einhergehen. Hier muss beispielsweise insbesondere an den Plastikmüll in den Meeren gedacht werden, der die Lebensgrundlage von Menschen und Tieren zerstört.

Vor allem Freunde aus vulnerableren Ländern im Globalen Süden, zu denen wir im Austausch stehen, verfolgen unser Konsumverhalten sehr genau. In diesem Zuge ist auch ein GreenIftar Video entstanden, in dem Menschen aus aller Welt zu Wort kommen und über die Folgen unserer Iftare sprechen, die plastikintensiv veranstaltet werden. Daher steht GreenIftar für das Motto: global denken, lokal handeln.

Islamische Zeitung: Ökonomen aber auch einfache Menschen, beobachten seit Längerem, dass insbesondere in muslimischen Ländern Konsum, Umsätze und Verkäufe rapide ansteigen. Wie ist dieses eigentlich paradoxe Verhalten in einem Monat des Verzichts zu erklären?

Baraa Abu El Khair: Der Kapitalismus macht weder vor bestimmten Regionen noch vor religiösen Ereignissen halt. Ganz im Gegenteil: Im Ramadan und Ländern des Globalen Südens werden sogar Märkte erkannt, die noch stärker zu erschließen sind. So wie Weihnachten auch ein Fest des exzessiven Konsums ist, birgt der Ramadan ebenfalls ein Potenzial, um über Anreize, Bedürfnisse zu wecken.

Längst nutzen globale Player wie Coca-Cola den Ramadan, um ihre auf Muslime zugeschnittene Werbung auszustrahlen und sie damit zu locken. Ganz nach dem Motto: Was kann erfrischender sein als ein Schluck Cola nach einem langen heißen Fastentag? Dabei ist uns allen klar, dass ausgerechnet das, eine gesundheitlich und moralisch schlechte Wahl wäre.

Alle Muslime wissen wahrscheinlich, dass der Ramadan der Monat des Qur’ans ist. Wissen aber tatsächlich die meisten Muslime auch, dass der Ramadan der Monat des Verzichtes und der Achtsamkeit ist? Und was genau verbinden sie mit diesen Begriffen?

Es ist tatsächlich eine Beobachtung, dass der Ramadan oft zu einem Monat verkommt, bei dem sich alles um den Iftar dreht. Von besonderen Speisen, über besonders große Einladungen, bis hin zu üppigen Mengen an Essen, die täglich zubereitet werden.

Dies suggeriert, es würde im Ramadan genau darum gehen. Viele Muslime haben verlernt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Großzügigkeit und Sparsamkeit zu finden. Es ist nur menschlich und nachvollziehbar, dass mit größerem Wohlstand größerer Konsum einhergeht.

Fragt man beispielsweise die palästinensische Großmutter aus Jaffa, wie ihr Fleischkonsum in ihrer Kindheit war, wird einem klar, in welchem Übermaß, ja wie verschwenderisch, wir heute leben. Nicht selten basiert dieses Phänomen auf dem Trugschluss, dass Wohlstand Völlerei und Verschwendung bedeutet. Hier schließt sich der Kreis: Rein formell mag dieser Konsum halal sein, doch oftmals mit Sicherheit nicht tayyib.

Foto: pixabay.com, Gerd Altmann

Islamische Zeitung: In aller Welt werden Umwelt- und Klimabewegung insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen getragen. Wie wichtig wird die Jugend bei diesen Fragen unter uns Muslimen sein und könnten klima- und umweltsensible Ansätze ein Mittel sein, die Bindung junger MuslimInnen an die Community zu stärken?

Baraa Abu El Khair: Diese Parallele lässt sich sicher auch auf die muslimische Community übertragen. Letzten Endes sind Jugendliche und junge Erwachsene in unterschiedlichen Kontexten unterwegs und haben somit andere Einflusskreise, in denen sie beeinflussen und beeinflusst werden.

Gleichzeitig ist es aber auch so, dass insbesondere praktizierende Muslime aus verschiedenen Gründen entweder den Anschluss zu bestimmten Organisationen verlieren oder verstärkt nach Räumen suchen, die ihnen erlauben, ihre Wertvorstellungen besser mit ihrem Aktivismus zu vereinen.

Wenn sie diese nicht finden, engagieren sie sich entweder individuell, indem sie z.B. einen Blog oder eine Instagram Seite betreiben, oder sie verschaffen sich den Raum mit Gleichgesinnten außerhalb der Moschee. Daher stehen Moscheen hier in einer besonderen Verantwortung genau diesen Raum zu schaffen. Es ist Gott sei Dank tatsächlich so, dass wir erkennen, wie Moscheevorstände aus unterschiedlichen Gründen ihre Räume für Jugendaktivitäten immer weiter öffnen.

NourEnergy liegen Moscheen besonders am Herzen. Deshalb versuchen wir unsere Angebote oft in ihren Räumlichkeiten anzubieten. Wir erkennen hierin eine große Chance für die Gemeinden. Zum einen ziehen neue Angebote neue Jugendliche an. Zum anderen stärkt die Gemeinschaft vor Ort somit ihre Bindungskraft und Attraktivität. So sind in den letzten Jahren vorbildliche Initiativen entstanden, die maßgeblich von jungen Erwachsenen angetrieben worden sind. Das spricht sowohl für die Jugend als auch für den Moscheevorstand.

Islamische Zeitung: Die Sorge um die Umwelt und die Mitschöpfung ist ein weltumspannendes Thema und beschäftigt viele Menschen. Sehen Sie darin auch einen Weg, den Dialog und die Begegnung von Nichtmuslimen und Muslimen zu fördern?

Baraa Abu El Khair: Absolut. Das Ziel ist oft identisch, während der Weg und die Motive sich unterscheiden können. Es ist eines dieser existenziellen Themen, die uns alle gleichermaßen betreffen und vor Augen führen, wie abhängig wir voneinander sind. Gerade in Zeiten, wo es nur so von polarisierenden Themen wimmelt, ist es wichtig diese Schnittmengen zu haben, die die Gemeinsamkeiten hervorheben.

Einer der wesentlichen Gründe für NourEnergys Mitgliedschaft bei der Klima-Allianz Deutschland, ist neben den offensichtlichen Zielen des Klimaschutzes auch der Dialog. Wir Muslime brauchen uns nicht zu verstecken und haben der Mehrheitsgesellschaft viel zu bieten. Insbesondere muslimische, junge Erwachsene, die beide Welten gut verstehen, können hier verstärkt die Rolle der Brückenbauer einnehmen.

Islamische Zeitung: Wir bedanken uns für das Gespräch.

* NourEnergy hat mit „GreenIftar Guide“ einen Leitfaden zum nachhaltigen Verhalten im Ramadan veröffentlicht. Mehr Informationen unter: greeniftar.com/

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Spiritualität: Ramadan ist Verzicht auf Irrationalität

Abitur Ramadan Irrationalität

Verzicht auf irrationales Handeln und Absage an Konsumismus ist ein wichtiger Bestandteil von Spiritualität im Ramadan.

(Traversing Tradition). Muslime haben sich daran gewöhnt, in einem dauernden Zustand des Sich-Verteidigens zu leben. Das ist der Preis ihrer Existenz: schnell verfügbare Erklärungen für ihre religiöse und kulturelle Praxis. Das scheint ein annehmbarer und sogar empfehlenswerter Tausch zu sein, um den Frieden in vielfältigen, modernen Gesellschaft zu wahren.

Während des heiligen Monats Ramadan jedoch kann man die erkennbar ­moderne Färbung dieser kursierenden Erklärungen trotz ihrer Vorteile nicht ignorieren. Gegenwärtige muslimische Erklärungsversuche des Ramadans und seines Nutzen verleugnen zusehend seine moralische und metaphysische Essenz und bieten stattdessen materielle Gründe an.

Die Verleugnung der Spiritualität des Ramadan führt zu Irrationalität

Demnach werde entweder gefastet, um „zu fühlen, was die Armen spüren“. Damit wird an das gespaltene moralische Verständnis des Westens appelliert, wonach die einzige Existenzweise eine mate­rielle ist. Oder Fasten stehe mit „gesundheitlichen Vorteilen“ in Verbindung, wie sie durch Wissenschaft bestätigt würden.

Während beide Erklärungsmuster lohnende und moralische anständige Motivationen für den Verzicht sein können, bleiben sie wesentlich körperlich und reduzieren Ramadan auf das Materielle.

Trotzdem ist hier eine tiefere, schädlichere Kraft am Spiel: unser Aufgehen in die kapitalistische Struktur via die Globalisierung. Konzerne klatschen „Halal“-Marketinglabel auf Fleisch, Finanzen, Bekleidung und mehr. Ihre Form wurde muslimischen Verbrauchern nominell schmackhaft gemacht, die damit zu kämpfen haben, islamisch-lebensfähige Optionen zu finden.

Foto: Danon, Adobe Stock

Wenn „Islam“ zur Marke wird

Die Produkte und Dienstleistungen, die für den muslimischen Verbrauch angeboten werden, sind Ergebnisse des gleichen ausbeuterischen, entmenschlichenden und entspiritualisierten Systems, das wir ansonsten kritisieren. Unsere Kleidung stammt aus ­ausgenutzter Arbeit in Sweatshops, unser Essen aus industrialisierten Schlachthäusern sowie Chemiefabriken, die unsere Umwelt verschmutzen, und unsere Finanzen aus einem fragwürdig gewordenen, globalen Bankensystem.

In einer Seinsweise, die solche Dinge als Zeichen von Fortschritt und menschlicher Verbesserung markiert, kann es schwierig sein, die tiefgehende Untergrabung zu erkennen, die hier vorliegt. Ihre Ideologie unterminiert die denkerische und moralische Essenz unserer Gebräuche, was zu einer Form ohne Bedeutung führt.

Gemacht, um in einem „eisernen Käfig zu leben“, wie der deutsche Soziologe Max Weber anmerkte, bleiben wir zurück und waten durch bedeutungslose Gesten, bis wir selbst gegen diese rebellieren, weil sie zu begrenzend seien für unsere Freiheit (als vollkommen und unbeschränkt verstanden), und bleiben ohne objektive Parameter in unserem ­Leben zurück. Das ist die Rolle des ­Liberalismus bei der Untergrabung der ramadanischen Essenz durch billige Marketingtricks und materialistische Philosophien.

Ramadan konfrontiert auch den heutigen Hyper-Konsumismus und Verfressenheit. Inmitten nie gekannter Kommerzialisierung und Materialismus dient er als Erinnerung an ein Leben, das nicht durch Kapitalismus gebunden ist. Eines, das keines ständigen Verbrauchs bedarf, um Befriedigung zu erfahren.

Die Botschaft wird vergessen

In diesem Monat wird unser Verlangen nach mehr Verbrauch durch göttlichen Befehl gemäßigt sowie durch das prophetische Vorbild, sich auf die spirituelle Nahrung der Gemeinschaft und des Selbst zu fokussieren. Leider haben viele diese Botschaft in dem vergessen, was ­Iftar immer häufiger ausmacht: ungehinderte Fresssucht und Extravaganz.

Firmen wie McDonald’s, Coca-Cola und Burger Kind vermarkten ihre Produkte in dem Wissen an Muslime, dass ihr Investment enorme Gewinne einfahren wird, während eine Kultur des Übermaßes angeheizt wird. Dabei täuscht Werbung im Ramadan-Motto die Feier von Vielfalt vor.

Foto: Jochen Tack, imago

Einige Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit verfügen über die größten sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten auf Erden: Die Rate von Übergewicht in Kuwait oder Saudi-Arabien bestätigt im Vergleich zum Hunger in Somalia oder Jemen die Rolle, die wir alle bei der Verschlimmerung von Leiden durch unser Übermaß spielen.

Ramadan umfasst mehr als die (legitime) Wirkung von Körperlichkeit auf unser spirituelles Wohlbefinden. Weber merkte an, dass modernes Leben jedem metaphysischen sowie mystischen Element entzogen wurde; ersetzt durch eine rationalisierte und bürokratisierte Gesellschaft. Alles hat sich entheiligt. Was als kulturelles Symbol und Ritual der Spiritualität diente, wurde seiner geistigen Essenz entkleidet.

Ramadan ist die gelebte Zurückweisung von Entheiligung

Ramadan ist die gelebte Zurückweisung dieser Entheiligung. Ein offensichtliches, aber nichtsdestotrotz wundersames Merkmal dieses Monats ist, dass er die Wichtigkeit betont, den Tag nach den Zyklen der Natur zu regeln – im Gegensatz zu denen einer industriellen Uhr oder einer 9-bis-5-Existenz. Der Ramadan beginnt mit der visuellen Sichtung des Neumonds. Unser tägliches Fasten beginnt und endet mit der Morgendämmerung beziehungsweise dem Sonnenuntergang. 

Befolgung der Kreisläufe von Sonne und Mond bestätigt nicht bloß, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben; sondern auch Demut vor Gott, dem Schöpfer und Herrn aller Dinge. Die Moderne hat sich von Jahrtausenden menschlicher Erfahrung verabschiedet, während sie unnatürlich bemüht ist, ­unseren Willen einem vollen Arbeitstag zu unterwerfen, der durch den Stundenzeiger einer Uhr bestimmt ist. Unsere Existenz war nicht für die Kapitulation vor einem vergänglichen Materialismus gedacht und Ramadan erinnert an unseren höheren Zweck.

Dennoch lassen wir als  abgelenkte Geschöpfe die Lektionen des Ramadan oft links liegen und fallen bei der Verkündigung des Feiertags am Ende in alte Gewohnheiten zurück. Diese Schizophrenie im modernen Menschen, der zwischen der Welt des Islam und Moderne laviert, wurde einmal vom algerischen Soziologen Malek Bennabi bemerkt. Bennabi erklärt, dass er sich nach Betreten der Moscheen vollkommen unter die Herrschaft Gottes bringt und die Höflichkeiten des Glaubens annimmt.

Beim Verlassen kehrt er schnell zum modernen Menschen zurück: rüpelhaft (nach islamischen Standards), der Schöpfung unterworfen und in seinen Gewohnheiten nicht von jedem anderen zu unterscheiden. Wir brauchen eine Alternative zum Rückschritt aufgrund dieser Versuchung, die durch die Leichtigkeit und Mittel dieses Lebens ermöglicht wird. Vor allem dann, wenn wir eine Gemeinschaft sein wollen, die nach eigenen Idealen lebt und nicht bloß dem bunten Anschein von Kultur folgt, der unsere Aufnahme in das kapitalistische Modell maskiert.

Foto: Fauzia Nurhana, Deviantart

Verlieren wir die Essenz?

Wir sind in Gefahr, die Essenz vom Ramadan zu verlieren. Das ist ein Hinweis darauf, wie sehr der moralische Imperativ unseres Glaubens in der Bewegung zum Materialismus zersplittert und vergessen wurde. Der Prozess moralischer Auflösung bedroht Muslime überall.

Wir sind einem groben und berechnendem Weltbild ausgesetzt, das selbst im Vergleich zu den Tagen des Kolonialismus einzigartig ist. Wir leben als Minderheit im Herzen der Aufnahmegesellschaft. Und stehen vor der andauernden Abnutzung durch ein dominantes Lebensmodell – und verlieren zusehends jenen Schutz, den unser Vorbild bietet.

Ramadan ist eine Zurückweisung dessen, was die moderne Welt der Menschheit aufzwingt: Gefräßigkeit, Hyper-Konsumismus, die Mechanisierung von Zeit sowie die Obsession der Kontrolle über unser Leben. Muslime wie Nichtmuslime werden zusehends enttäuschter von der Moderne. Sie suchen einen Lebenszweck und einen Weg, die oberflächliche Anhäufung von Dingen durch etwas anderes zu ersetzen.

Der Ramadan ist eine Zeit, in der wir uns neu auf das Göttliche ausrichten und unsere Beziehung zu Zeit, Gemeinschaft und der natürlichen Welt neu definieren. Bewusstsein von der Anwesenheit Gottes – oder Taqwa – wird nicht erlangt durch Sprüche auf Band, sondern eine gelebte Wirklichkeit des absichtsvollen Lebens. Sie überwindet die Impulse und das Verlangen des Körpers. Schlussendlich strebt sie einen höheren Seinszustand an.

Foto: C. Media / Peter Sanders

Um Spiritualität als das Bollwerk gegen die Suche nach diesem flüchtigen Leben erneut zu beanspruchen, müssen wir ­Fragen von Glauben und Anbetung über trockene akademische Analysen oder ­verblassende Anfälle von Spontan- oder Insta-Glauben hinter uns lassen. Wir müssen die ganzheitliche Lebensphilosophie des Islam wiederherstellen und sie als unsere ehren – in Abgrenzung zu Kapitalismus mit seiner materiellen und utilitaristischen Ethik.

Wir müssen einen Versuch ermutigen, Ramadan zu mehr als einem isolierten jährlichen Ereignis zu machen, sondern zu einer periodischen Verjüngung unserer kosmolo­gischen Ordnung, die wir durch den Rest des Jahres weiterführen.

Wenn wir ihren Idealen treu sind, wird sich diese kos­mologische Ordnung als Alternative einer Lebensweise widersetzen, die den Geist der Menschen zerstört. Nur dann können wir für uns in Anspruch nehmen, Muslime zu sein: Uns Gott und Seinem ganzheitlichen Din vollständig zu ergeben.

Das englischsprachige Original wurde dem online-Medium „Traversing Tradition“ entnommen. Übersetzung und Abdruck mit Genehmigung von Redaktion und Autorin.

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Wir bestehen sowohl aus Intellekt als auch aus Begierde, Trieben, Neigungen. Fasten ist ein Heilmittel gegen schlechte Eigenschaften. „Was ist der Mensch, wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut nur […]

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