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Lamya Kaddor fordert mehr Beteiligung für Muslime

Lamya Kaddor

Die Grüne Religionsbeauftragte Lamya Kaddor will mehr Beteiligung für Muslime in der Bundesrepublik. Berlin (KNA). Die Islamwissenschaftlerin und Religionsexpertin der Grünen, Lamya Kaddor, ist dafür, islamischen Gemeinschaften über Stiftungen dieselben […]

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Kein Interesse an der muslimischen Mitte: Der Ansatz der politischen Stiftungen ist nicht wirklich liberal

„Wenn man sich gegen die Kategorisierung der Muslime in ‘liberal-konservativ’ und damit gegen die Politisierung der Muslime wehrt, nimmt man für keine der beiden Seiten Partei.“ (iz). Manchmal fragt man […]

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Hintergrund: Die europäischen Muslime streiten um die Zukunft der politischen Terminologie. Von Sulaiman Wilms

„Tse Lu: Der Herr Wei wartet darauf, dass du eine Regierung bildest. Was wirst du als erstes tun? Kung: Die Namen klären. Tse Lu: Wie kann das sein? Du schweifst ab. Warum sie festlegen? Kung: Du Kürbis! Sprosse! Wenn ein Mann kein Wissen hat, sollte er Zurückhaltung an den Tag legen. Wenn Worte nicht genau sind, kann man ihnen nicht folgen oder eine Handlung entsprechend ihrer Bedingungen vollenden.“ (Konfuzius, aus der engl. Übersetzung von E. Pound)

(iz). Brühl. Am frühen Nachmittag des 12. Mai, fand eine Deutschlandpremiere statt. Das erste Mal stritten auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung/BpB ­Muslime über die Konstrukte „liberaler“ beziehungsweise „konservativer Islam“. Man muss der BpB dankbar sein, dass sie diese Gelegenheit ermöglichte. Die muslimischen Verbände jedenfalls ­waren bisher nicht in der Lage, diese ­überfällige und für die Muslime wichtige Debatte zu moderieren. Bereits wegen ihrer räumlichen Aufteilung mussten die TeilnehmerInnen (die Lehrerin Lamya Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund e.V./LIB, der Lehrer und Blogger Hakan Turan, Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime und der Autor) wie Gegner wirken. (Dass sich meine Beiträge, wie sich zeigen sollte, auf alle Lager des „politischen Islam“ bezog, wollte oder konnte in der bi­nären Debatte nicht zur Kenntnis genommen werden.)

Obwohl die Teilnehmer stellenweise polemisch wurden, war die Diskussion hilfreich. Immerhin wurde dem Publikum ein Geschmack davon vermittelt, dass und wie um einen Begriff ­gestritten wird. Klar wurde auch, was sich anhand des „liberalen Islam“ zeigt: Die Terminologien, die innerhalb der europäischen Muslime und im Austausch mit ihren Gesellschaften üblich sind, werden ­bisher kaum hinterfragt. Dass diese Begriffe problematisch sind, zeigt sich gerade in der Reaktion auf die IZ: Manchen ist sie zu konservativ, anderen zu liberal.

Ein weiterer Mosaikstein ist ebenfalls von Bedeutung: Eine Rednerin war der Ansicht, wir sollten uns nicht zu lange mit der Bestimmung der Begriffe aufhal­ten. Genau aber diese sind ein Kernprob­lem, an dem europäische Muslime labo­rieren. Von Norwegen bis Italien und von Irland bis Russland: Überall werden sie mit „Islamismus“, „Salafismus“, „libe­ralem Islam“, „Reform des Islams“ oder „Multikulturalismus“ konfrontiert. Ressourcenmangel und fehlender Einfluss auf die Debatte verhindern, dass sich Muslime von ihr freimachen oder sie selbst gestal­ten können.

Dies ist kein abgehobenes Glasperlen­spiel. Begriffe werden von einer Bedeutung (und von politischen Handlungselementen) begleitet, die mit ihr einhergehen. Nehmen wir die allerorten, und selten hinterfragte Forderung nach „Inte­gration“: Natürlich gibt es Gruppen, die nicht oder nicht ausreichend in ihren Heimatländern eingefügt sind oder Probleme damit haben. Die permanente Anwendung der „Integration“ auf den Islamdiskurs aber erzeugt die Vorstellung, dass sich Muslime wegen ihrer Religions­zugehörigkeit „integrieren“ müssten. Wieso aber sollte dies gerade auf europä­ische Muslime zutreffen?

Der konkrete Begriff übersieht, dass die Mehrheit der Muslime in Europa (das Gebiet westlich des Ural) gebürtige Europäer sind und es daher nichts zu integrieren gibt. Das Problem der fremdbestimmten Terminologie geht tiefer: Mittlerweile ist „Integration“ in ihrer dominanten Form in den muslimischen Diskurs „integriert“. So hieß es in einer merk­wür­digen Presseerklärung über den gemeinsamen Ramadananfang der muslimi­schen Verbän­de, dass diese Entscheidung der „Integra­tion“ diene.

Islamismus – der Bulldozer der Debatte
Ortswechsel. Auf der Webseite der „Zeit“ fand vor Kurzem eine muntere Debatte statt, als ein ägyptischer Präsidentschaftskandidat als „netter Islamist“ bezeichnet wurde. Die ­Forumsteilnehmer diskutierten versiert über die Gültigkeit des „Islamismus“-Begriffs; viele stellten ihn in Frage und hielten diesen „Ausgrenzungsbegriff“ (Prof. W. Schiffauer in der IZ) für ungeeignet. Kurzum, man rieb sich die Augen und wünschte sich, dass auch Muslime so debattiert würden.

Während in den letzten Jahren Konflikte um vermeintliche „Massenvernich­tungswaffen“ geführt wurden, kam – sozusagen auf geistiger Ebene – spätestens seit dem 11. September 2001 der „Islamismus“ zum unterscheidungslosen Einsatz. Genauso wenig, wie Luftangriffe im afghanisch-pakistanischen Grenzland „chirurgische“ sind, und manchmal zivi­le Hochzeitsgesellschaften treffen, genau­so wenig enthält der „Islamismus“ genug Substanz, um kundig einen Sachverhalt zu beschreiben. Wie das Flächenbombardement einer B-52 betrifft er alle: Terroristen, Wahhabiten, Hamas-Sympathisanten, den politischen Islam, aber auch viele gesetzestreue und engagierte europäisch-muslimische MitbürgerInnen.

Einmal als „Islamist“ etikettiert, eröff­net sich die ganze Palette implizierter, angeblicher Einstellungen: anti-demokratisch, fundamentalistisch, frauenfeindlich und antisemitisch. Nichtsdestotrotz, oder gerade vielleicht deswegen, werden Muslime damit überzogen und es bleibt ihnen – von Ausnahmen abgesehen – oft nichts übrig, als sich dem Bulldozer-Charakter dieses Begriffes zu beugen. Eine Ausnahme war der türkische Außenminister Davutoglu, der bei einem Deutschlandbesuch im Gespräch mit ­Innenminister Friedrich diese Terminologie von sich wies.

Obwohl „Islamismus“ ­wissenschaftlich klingt, sehen sich Ganz- oder Halbexper­ten gezwungen, ihn durch Zusätze qualifizieren zu müssen. So vermeinen sie, zwischen einem „legalistischen, gewaltfreien Islamismus“ und einem „gewalttä­tigen Islamismus“ unterscheiden zu können beziehungsweise zu müssen. Sucht man nach „Islamismus“ auf Wikipedia (dem angeblich zuverlässigen online-Kom­pendium allen Wissens), erscheint zuerst eine Notiz, wonach das ­ellenlange Elaborat einer Überarbeitung bedarf. Nicht wirklich vertrauenserweckend. Der Rest liest sich wie eine der handelsüblichen Zusammenstellungen, die man auch in Zeitungsartikeln oder in staatlichen Veröffentlichungen geboten bekommt. Laienhaft formuliert steht der „Islamismus“ in den Augen seiner User für den „politischen Islam“ (allerdings nur für den unangenehmen; seine politisch korrekte Variante – die liberale – ist durchaus willkommen), der seine religiösen Ansichten politisch umsetzen will.

Und hier liegt das Problem: Wird jeder Muslim, der sich veranlasst sieht, sich dank seiner Religion sozial zu ­engagieren oder Lösungsansätze für Probleme zu formulieren, damit zum „Islamisten“? Wenn nein, wo fängt er an? Es ist genau diese Unschärfe, die den „Islamismus“ hat so erfolgreich werden lassen. Je unbestimm­ter, desto mehr sind wir von ihm betrof­fen und desto weniger können wir uns zur Wehr setzen. So ist in diesem Kontext der Kategorisierung islamischer Lebenspraxis zu fragen: Ist die Zahlung oder die Einsammlung der ­Zakat etwas Politisches, etwas ­Religiöses oder Ökonomisches?

Es ist natürlich zu bezweifeln, dass sich der ideologische Begriff aus der islamischen Lehre ableiten ließe. „Islamismus“ hieße ja, dass Musli­me den Islam und seine Überzeugungen anbeten würden. Dies widerspricht aber im Kern dem Din selber, der ja ein Mittel zu Anbetung Allahs ist – und kein Ziel in sich.

Phänomen Salafismus
Würde die öffentliche-mediale Wahrnehmung stimmen, dann wäre Salafismus eine Steigerungsform des „Islamismus“, wenn nicht gar des Islam selbst. Gemeinhin werden die Anhänger jener Bewegung, die ihre Wurzeln in der wahhabitischen Bewegung Arabiens hat, oft als sehr strenge Muslime definiert. Eine Vorstellung, von der sie selbst am meisten profitieren, weil ihnen das den Nimbus von „Frömmigkeit“ und „Reinheit“ verleiht.

Hierbei wird übersehen, dass diese Gruppierung in ihrer Anfangszeit (bis zum Ende des Khalifats) als Sekte (manche sahen in ihr eine Nachahmung der Khawaridsch) galt. Weil Salafisten aber seit Jahrzehnten jeder anderen muslimi­schen Formation vorwerfen, irre geleitet zu sein (bis hin zur Unterstellung, man werde durch angeblich falsche Ansichten zum Nichtmuslim), drängten sie die Mehrheitsmuslime in die Defensive. Wird der Wahhabismus aber als eine Art Steigerungsform des Islam wahrgenommen, dann verwischt sich die Grenze zwischen sektiererischen Ansichten und dem Mehrheitsislam.

Diese Selbstzuschreibung von „Salafis­ten“ als quasi „Avantgarde“ ist nichts anderes als eine Anmaßung gegenüber den Mehrheitsmuslimen. Sie pachten durch diese ­Adaption der „Salaf“ (jener respek­tierten ersten Generationen des frühen Islam) einen Begriff (und damit einen Anspruch) für sich, der im Grunde jedem praktizieren­den Muslim zukommt. Dieser Anspruch wird nicht durch eine Behauptung zu einer Realität, sondern durch die Lebensführung. Wo aber zahlen „strenggläubige“ Salafisten ihre ­Zakat, gründen Stiftungen oder organi­sieren Märkte?

Alles liberal, oder was?
Wie der „Salafismus“ entstand der „liberale Islam“ (und sein notwendiges Gegenteil, der „konservative“) innerhalb der Community selbst – aber auch in Abgren­zung zur absoluten Mehrheit. Natürlich wurde der angebliche Streit dankbar von Massen­medien aufge­nom­men, die seinen VertreterInnen bisher einen deutlichen Vorrang einräumten. Um Missverständnisse zu ­vermeiden: „Liberal“ und „konservativ“ sind beides poli­tische Begriffe. Es geht hier nicht darum, eine Position zu bevorzugen und es ist keine Anmaßung zu vermuten, dass die Mehrheit der europäischen Muslime weder das eine, noch das andere Etikett für sich beanspruchen.

Hier ist kein Platz für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einem, als „libe­ral“ etikettierten Islamverständnis. Dies ist auch nicht einfach, weil bisher nur Hakan Turan mit seinen „Fünf Thesen“ überhaupt eine kohärente Definition des „liberalen Islam“ lieferte. Aufgrund ­seines Sachverstands musste er, dem es nicht an Ernsthaftigkeit mangelt, in seinem Text vom 17. Mai manche Ansicht in bisherigen Publikationen korrigieren.

Es ist eine Pointe, dass den vermeintli­chen „Liberalen“ bisher nicht von „Konservativen“ widersprochen wurde. Niemand stand auf und sagte: „Ich bin konservativ, und ihr habt Unrecht!“ Die Mehrheit der Gegenstimmen zum Streit, der am 8. August 2011 durch einen Beitrag von Lamya Kaddor in der „Süddeut­schen Zeitung“ ausbrach, verweigert sich gerade jeder Etikettierung. Auch auf ­Nachfrage in Brühl konnte sie die Gruppe junger konservativer Muslime nicht eingrenzen, die sie in ihrem Text zu identifizieren suchte.

Wie im obigen Falle haben wir es mit einer Terminologie zu tun, deren ­Inhalt nicht in einer öffentlichen Debatte bestimmt wurde oder sich im Rahmen eines Konsens entwickelte. Sie entstand als Mittel im Kampf um Deutungshoheit. Darüber hinaus bleibt er unbestimmt, wie Hakan Turan schreibt: „Es ist erfor­derlich, dass innermuslimisch definiert wird, in welchem Sinn und in welchem Interesse diese Begriffe verwendet werden.“ Ein Blick auf die Webseite des LIB e.V. eröffnet bisher keine tiefere Durchdringung des eigenen Anspruchs, soweit es positive Begriffsdefinitionen betrifft.

Das liberale Konstrukt basiert wie alle, auf Gegensatzpaaren beruhenden Begriffe seit dem 11. September 2001 auf simplen Mechanismen. Indem man sich als „liberal“ bezeichnet, wird das Gegen­über fast automatisch „konservativ“ (inklusive aller negativer Zuschreibungen). Diese negative Abgrenzung erspart den mühsamen Weg hin zur Formulierung von positiven Inhalten, was auch der Text von Hakan Turan andeutet. Es wäre vergebene Liebesmüh, von den Fraktionen des politischen Islam sozio-ökonomische Lösungsansätze zu erwarten, die Kernelemente der islamischen Sozialethik (Mu’amalat) sind.

Außerdem offenbaren die bisher mit dem Begriff des „liberalen Islam“ in Verbindung stehenden Debattenfelder alte säkularen Glaubensfragen im neuen Gewand – „liberale Demokratie, Meinungs­freiheit und Pluralismus“ (Turan). Derartig ideologisch aufgeladen und mit solchen Ansprüchen aus der Werte-Debatte versehen, ist der „liberale Islam“ ein Kampfmittel im Streit um die Deutungs­hoheit innerhalb der muslimischen Community. Wie man die Sinnlosigkeit des „Liberalismus“-Begriffs weiter auf die Spitze treiben kann, belegte am 24. Mai die „New York Times“. Die US-Tageszeitung nannte den eingangs erwähnten Präsidentschaftskandidaten Aboul Foutouh einen „liberalen Islamisten“. Man könnte auch ergänzen, er ist ein ­liberaler Konservativer.

Auf dem Weg zur Verchristlichung?
Es gibt eine untergründigere, nur ­selten an die Oberfläche tretende Entwicklung, von denen der Liberalismus-Begriff nur eine Äußerung ist. In seiner spirituellen Ausformung, aber auch in der Lebenswirklichkeit könnte man das, wie es der Islamwissenschaftler und Autor Muham­mad Sameer Murtaza messerscharf in Brühl tat, als Verchristlichung bezeichnen. Analog zur Entwicklung des Protes­tantismus, der sich auf einen esoterischen „Glauben“ reduzierte, erlebte die musli­mische Moderne – interessanterweise ­jenseits sämtlicher Ideologien -, dass sich viele Muslime heute stärker denn je auf symboli­sche Handlungen und bestimmte Themen fixieren. Und dies, obwohl die religiöse Lebenspraxis dieses Dins in ­ihren Kernbereichen keine Symbolik kennt.

Auf ritueller Ebene wäre dies die Konzentration auf das Freitagsgebet, während viele Moscheen – aufgrund der Dominanz der ökonomischen Sphäre – tagsüber leere Räume sind. Ein anderes Beispiel ist die Obsession mit Lebensmittel­zusätzen, die in den frühen 1990er Jahren einen großen Platz innerhalb muslimischer Publikationen einnahmen. Und, last but not least, die Reduktion von Frauen auf das Kopftuch. So, als wäre dies das Endziel der spirituellen, gemein­schaftlichen oder sozialen Aktivitäten von Musliminnen.

Was den „liberalen Islam“ von konven­tionellen Formen muslimischer Überzeugungen trennt, ist sein Hang zur expli­ziten Zuspitzung. Auf der LIB-Webseite findet sich dazu der Satz: „Die theologische Basis für die Repräsentanz von liberalen Muslimen und Musliminnen in Deutschland lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Schahada – das islamische Glaubensbekenntnis. Dieses bezeugt den Glauben an den Einen Gott sowie den Glauben an Muhammad als Gesandten Gottes. Bei allem, was über diesen Kern hinausgeht, darf dogmatische und kulturelle Einheit weder Ziel noch Voraussetzung sein.“ Um solche obskure Neuinterpretationen zu rechtfertigen, ist es notwendig, sich in regelmä­ßigen Abständen von der Tradition abzugrenzen.

Die Tendenz einer verchristlichten Zwei-Welten-Lehre ist kein Privileg einer spezifischen Ausformung des politischen Islam. Sie ist – leider – massenkompatibel. Eine ihrer Manifestationen ist die Trennung zwischen persönlichen Glaubensüberzeugungen und dem Handeln in dieser Welt. Vergleichen wir die Quantität der ökonomischen Verpflichtungen des Dins mit der heutigen Glaubenspraxis müssen wir eine enorme Diskrepanz festhalten. Mehr noch: ­Während Imame die kleinsten Feinheiten der ritu­ellen Waschung oder ­erstrebenswerte Charaktereigenschaften in den Mittelpunkt ihrer Freitagspredigten rücken, spielen die Mu’amalat und namentlich die ökonomischen Gesetze keine Rolle.

Die Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, zwischen „Glauben“ (kaum ein gebildeter Muslim würde diesen Begriff verwenden) und „Handeln“ widerspricht der islamischen Einheitsleh­re. Das gleiche gilt für die Aufspaltung der Kernelemente des Dins in Glaubens­lehre/Iman und rituellen Handlungen/­Islam. In einer der wichtigsten prophetischen Überlieferung, die wegen ihrer Relevanz auch als „Mutter der ­Hadithe“ bezeichnet und von ‘Umar überliefert wurde, erklärte der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dass der Din aus den drei verbundenen Teilelementen Islam (die fünf Säulen: Schahada, Gebet, Zakat, Fasten im Ramadan und Hadsch), Iman (die sechs Glaubensgrundlagen) sowie Ihsan (spirituelle Perfektion) besteht. Hier eine künstliche Trennung vorzuneh­men, ­hieße die Lehre der Einheit und der Eigenschaften Allahs (Tauhid) von dem zu trennen, was der Prophet an Verhaltensmustern hinterließ. Jede politische Dialektik übt einen permanenten Zwang zur Zuspitzung (früher sprach man von permanenter Revolution) aus: Konsequent fortgeführt, endet diese Denkrich­tung in der de facto Leugnung des zweiten Teils der Schahada. Darüber hinaus bewirkt das künstliche Begriffspaar liberal-konservativ eine fortlaufende Spaltungsmöglichkeit. Wer heute noch liberal ist, kann morgen schon durch eine noch liberalere Glaubensrichtung als konservativ definiert werden.

Imam Abi Zaid Al-Qairawani schrieb im Vorwort seiner „Risala“, in der Einleitung zu seinem Kapitel über die Glaubenslehre: „Glaube [Iman] wird mit der Zunge ausgedrückt, durch die Aufrichtigkeit des Herzens und die Handlung der [Körper-]Glieder bestätigt.“

Die Kultur-Lüge
Bis jetzt hatten wir es mit Begriffen zu tun, die im Rahmen der europäischen Islam-Diskurse entstanden. Sie sind ihrem Wesen nach politische und folgen den Gesetzmäßigkeit moderner Politik. Der letzte Begriff hat sich separat von den obigen entwickelt und reflektiert die Tatsache, dass sich in den letzten 60 ­Jahren umfangreiche Einwanderergruppen in den westeuropäischen Staaten ­ansiedelten. In Ablehnung des real existierenden Rassismus der 1980er und 1990er ­Jahre, aber auch als Reaktion des Überbaus auf die Globalisierung der Ökonomie und ihres Zwangs zur uneingeschränkten Bewegung von Menschen, entwickelte sich das Konzept des „Multikulturalismus“.

In dieser Gemengelage aus Zuwanderung, Integration, Kulturkampf, Identität etc. wurde in Folge – und zum Leidwesen der europäischen Muslime – auch noch das Element „Islam“ eingebracht. So kam – bei vermeintlichen pro- wie anti-muslimischen Stimmen – das schädlich Missverständnis in die Welt, der Din sei eine wie auch immer geartete separa­te Kultur – entweder zu bejahen oder abzulehnen -, die seit Beginn der Einwande­rung von Muslimen hier heimisch wurde. Dieser irrige Begriff errichtet ständig neue Barrieren zwischen einer vermeint­lich christlich-abendländischen Kultur und dem – angeblich fremden – Islam. Sehen wir von realen kulturellen Verfallserscheinungen ab, die einige wenige Einwanderergruppen nach West­europa brachten (ein bekanntes Beispiel sind die unseligen und unislamischen „Ehrenmorde“), wirkt das alltägliche Missverständnis wesentlich subtiler, der Islam beziehungsweise der Muslim sei der Andere, der von der europäischen Kultur verschieden sei und daher „integriert“ werden müsse.

Die freundliche Sonne des „Multikulturalismus“ scheint aber nur auf denjenigen, der sich als fremder Exot in unsere bunte Patchwork-Gesellschaft einbringt. An jenen, die als Europäer in ihrer Religion authentische ­Antworten für diese Zeit und diesen Ort zu finden suchen, findet sie kein Vergnügen.

Die Zugehörigkeit zum Islam – wie die unzähligen neuen europäischen Muslime, Bosnier, Albaner, Bulgaren, West-Thraker und vor allem russischen Muslime belegen – bedeutet weder eine kulturelle Differenz, noch die Notwendigkeit für Muslime, der Multikulti-Ideologie anzuhängen. Sie stehen für das Ende vermeintlicher Hindernisse aus ­Identität und Kultur und stellen selbstverständlich auch keine Bedrohung für Europa dar. Genau hierfür braucht es Muslime (die natürlich die religiöse Lebenspraxis mit dem Rest der muslimischen Welt teilen) europäischer Mentalität, nicht Herkunft, welche durch ihre Existenz und ihr gelebtes Vorbild be-greifbar machen, dass der Islam keine Kultur ist.

Wollen Deutschlands und Europas Muslime zu einem handelnden Subjekt werden – und ihre Tendenz zu Atomisierung umkehren -, braucht es trotz gegenteiliger Annahme ein Nachdenken und auch einen Streit um die Begriffe. Nur wenn sie dieses vermögen, können sie sich freimachen von irrigen Konzepten und Vorstellungen, die ihnen von innen und außen aufgedrängt wurden. Die passive Übernahme der vorherrschenden Terminologie bedeutet die Fortsetzung bestehender Missverständnisse und Benachteiligung in den Debatten um den Islam.

Der Hype um die „Salafiten"

(iz). Wir Muslime lieben nicht nur unseren Propheten, sondern auch die ersten Generationen der Muslime und ihre Gemeinschaft in Medina. Ohne genaue Kenntnisse des Ursprungs des Islam wüssten wir weder, was „der ‘Amal von Medina“ ist, noch könnten wir den geraden Weg bestimmen, der sich auch aus der Abneigung des Islam gegenüber den Extremen ergibt.
Ohne die Liebe zum Ursprung wüssten wir nicht, das der Prophet Moschee und Markt etablierte und damit die geistigen und materiellen Bezüge vereinte. Ganz zu schweigen hätten wir keine Kenntnis von der entscheidenden Rolle der Frauen, die den Propheten mit zu dem gemacht hat, was er war: ein Vorbild.
Die aktuelle Hype um die Salafiten hat eine andere Bedeutung. Es geht dabei nicht wirklich darum, auf die Ursprünge des Islam hinzuweisen und ihre wirkliche Bedeutung im hier und jetzt zu bestimmen. In diesem Fall müssten wir ja in erster Linie die ökonomische Regeln des Islam debattieren, die Mu‘amalat studieren und die Beachtung der Regeln der Zakat anmahnen. Dies wäre eine konstruktive und interessante Debatte für Jedermann. Aber wie gesagt, darum geht es nicht.
Hier geht es vielmehr um eine destruktive Dialektik zwischen den Extremen, die einige Handvoll Außenseiter zwischen den Randbereichen des Puritanismus und der Esoterik gestalten. Der Islam wird dabei entweder als kulturell fremdartig und orthodox präsentiert, oder aber als individualistisch und beliebig. Diese Debatte geht zu Lasten der großen Mehrheit der Muslime, die sich in den Rechtsschulen gut aufgehoben sehen und aus dieser Verortung heraus den ‘Amal der ersten Generationen studieren. Diese Mehrheit präsentiert den Islam, so wie er ist: offen, positiv und attraktiv.
Nicht unschuldig an der Lage sind auch Medien, die eine besonnene Auseinandersetzung mit dem Islam durch die Beförderung der Extreme besorgen. Wer den Islam wirklich kennenlernen will, sollte sich inmitten etablierter Gemeinschaften bewegen. Er sollte eine Dschama’at suchen, die nicht kulturelle Abgrenzung betreibt, sondern die Maximen des Islam vorlebt. Die Stärkung der Extreme ist auch der Diffamierung vieler muslimischer Gemeinden geschuldet. Sie sind die eigentliche Mitte des Islam, die dann verloren geht, wenn das islamische Recht nicht mehr gelehrt wird.

"IZ-Begegnung" mit dem jungen Autor und Journalisten Eren Güvercin über sein neues Buch und die Lage der Muslime in Deutschland

(iz). Wie ist die Lage der deutschen Muslime? Bisher waren es vor allem Beobachter von Außen, die dazu – mehr oder weniger qualifizierte – Aussagen treffen. Im April erscheint im Herder Verlag „Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation“. Darin versucht der junge Autor Eren Güver­cin, neue und nach ­vorne weisende Antworten auf offene Fragen zu geben. Ihm geht es insbesondere um selbstbewusste Ansätze, mit denen sich die junge Generation der Muslime konstruktiv und überraschend zu Wort meldet.

Eren Güvercin, geboren 1980 als Sohn türkischer Eltern in Köln, studierte Rechtswissenschaften in Bonn und arbeitet als freier Journalist für verschiedene Hörfunksender und Zeitungen. Er ist Mitinitiator der „Alternativen Islamkonferenz“ und betreibt das Blog erenguevercin.wordpress.com.

Islamische Zeitung: Im April erscheint dein erstes Buch bei Herder („Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation“). Wer sind diese Neo-Moslems? Musste man für sie extra ein neues Wort erfinden?

Eren Güvercin: Ich bin kein Freund davon, dass man für die Muslime in Deutschland neue Worte erfindet. Im Laufe der Entwicklung des Buches sind wir in der Kooperation mit meinem Lektor auf die „Neo-Muslime“ gestoßen. Er fand den Titel griffig und beim zweiten Nachdenken dachte ich, dass es für den Leser auf jeden Fall spannend sein ­würde.

Bei „Neo-Muslimen“ mag man im ersten Augenblick an Neonazis oder Neoli­beralismus denken. Also Begriffe, die negativ besetzt sind. Es vermittelt aber auch etwas, das neu und frisch ist und sich daher für den Titel eignet. Man muss auch die Seite der Vermarktung im Auge behal­ten, damit potenzielle Käufer angezogen werden. Daher fand ich diesen Titel gut.

Wer die Neo-Muslime sind… (überlegt)… Das sind junge Muslime wie ich, die einen türkischen oder arabischen Hintergrund haben, aber hier geboren und aufgewachsen sind. Sie sind ein ganz natürlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft wie alle anderen auch. Als Neo-Muslime kann man ebenso die größer werdende Anzahl deutscher Muslime sehen, die – aus welchen Gründen auch immer – zum Islam gefunden haben.

Islamische Zeitung: Du hast dich, auch in der IZ, Mitte letzten Jahres an der Liberalismus-Debatte beteiligt. Dabei wendest du dich auch gegen die Etikettierung von Muslimen. Ist das nicht ein Widerspruch zu der Vorstel­lung von „Neo-Muslimen“?

Eren Güvercin: Meine Kritik ­richtete sich an alle Seiten, da mit dem Label „konservativ“ oder „liberal“ Muslime etikettiert werden. Den Vorgang habe ich generell kritisiert; unabhängig davon, wie ich zu „konservativen“ oder „liberalen“ Inhalten stehe. Interessanterweise ­wurde meine Kritik nur von den Repräsentanten eines so genannten „liberalen Islams“ zurückgewiesen. Es gab natürlich auch Gegenstimmen, und diese werden sich jetzt sicherlich auf das Wort „Neo-Muslime“ stürzen und sagen: „Herr ­Güvercin, sie betreiben ja gleichfalls dieses Labeling!“ Da muss man sich aber erst einmal das Buch anschauen und dann bin ich auch für diese Kritik offen. Wenn man das Buch liest, wird klar, dass das keine Etikettierung ist, sondern nur ein Buchtitel. Schließlich urteilen wir über ein Buch ja nicht über den Titel, sondern über den Inhalt.

Islamische Zeitung: In Zeiten des Niedergangs denken Menschen oft mehr darüber nach, was sie sind, als was sie tun – Stichwort „Identitäts-Debatte“. Sind die Neo-Muslime da anders, oder leiden sie an ihrer ­Identität? Haben sie multiple Identitäten?

Eren Güvercin: Multiple Identitäten? Keine Ahnung. Ehrlich gesagt, sind dies Begriffe, die mir nicht viel sagen. Um es einfach zu machen: Ich als junger Muslim, der in Deutschland geboren und aufge­wachsen ist, finde diese ganzen Identitätsdebatten, wonach wir zwischen zwei Kulturen stünden etc., relativ nutzlos und öde. Sie haben mich nie interes­siert. Ich pfeife drauf.

Sie stehen auch nicht im Zentrum meines Buches. Ich versuche, in separaten Themenbereichen Debattenbeiträge zu leisten, bei denen man zu Anfang nicht gedacht hätte, dass hier Muslime etwas zu sagen hätten. Diese ganze Identitätsdebatte läuft schon seit 10 bis 20 Jahren. Wenn es so weitergeht, wird auch in den kommenden 20 Jahren um Identität, Integration und Kulturkampf und was auch immer gestritten. Ich finde die Vorstellung, dass wir armen deutsch-türkischen Muslime zwischen Stühlen sitzen würden, offen gestanden recht langweilig. Das ist auch nicht mein Thema.

Ich denke, wir sollten als Muslime einmal selbstkritisch fragen, ob wir zu ­allen Themen, die in Medien debattiert werden, etwas sagen müssen. Wir sollten vielleicht auch souverän genug sein und entgegnen, dass Identitätskonflikte nicht unser Thema sind. Ich persönlich will dazu keinen Beitrag leisten. Selbst in meiner Jugend war dies nie ein Thema für mich. „Bin ich ein Türke? Bin ich ein Deutscher?“ Das hat mich nie wirklich interessiert.

Islamische Zeitung: Es gibt viele neue Projekte – innerhalb wie außerhalb der bestehenden Strukturen – dieser neuen Generation. Ist sie für dich der Motor von Veränderung?

Eren Güvercin: (überlegt)… Es gibt natürlich gerade unter den jungen Muslimen viele verschiedene Initiativen. ­Seien es die Zahnräder, Internet-Communities, Cube-Mag etc. Ich finde es grundsätzlich positiv, dass Jugendliche aus verschiedenen Hintergründen, Vereinen und Verbänden zusammenkommen und etwas gemeinsam machen. Aber diese Projekte haben mich offen gestanden nie so angesprochen, dass ich 100-prozentig dahinter stehen würde.

Die meisten beschäftigen sich immer mit den selben Dingen. Oft handelt es sich dabei um eine Reaktion auf Debatten, die uns von der Gesellschaft vorgesetzt werden. Es ist selten der Fall, dass junge Muslime eigene Themen setzen und auch einmal das Bild der Muslime in Deutschland brechen. Die ­Generation unserer Eltern konnte das nicht, weil sie aus einem ganz anderen Milieu kam und einen anderen Erfahrungshorizont hatte. Meine Eltern sind damals Ende der 1960er Jahre aus einem anatolischen Dorf direkt nach Deutschland gekommen. Sie hatten keinerlei Sprachkenntnisse, haben aber das Beste aus ihrer Situ­ation gemacht. Sie haben alles für uns getan. Selbst wenn meine Mutter eine Analphabetin ist, hat sie darum gekämpft, dass ihre Kinder die beste Bildung ­bekommen.

Es liegt jetzt an uns, gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen und voranzukommen und auch von uns aus der Gesellschaft etwas anzubieten. Ich ­finde, dass viele junge Muslime auf ihre Situation nur reagieren, als dass sie agieren würden und aus einer Position der ­Stärke vielleicht auch zu anderen als den medi­al inszenierten Themen Stellung ­beziehen würden.

Islamische Zeitung: Aus welchen Gründen auch immer haben wir einen Dschungel multipler Identitäten und Lebensentwürfe – auch unter den Muslimen. Sie sind – anders als die so genannten liberalen Kritiker – keine homogene Masse. Wie lassen sich für die Muslime im Dschungel dieser Meinungen verbindliche Positionen formulieren? Können wir verhindern, dass das ganze in Bedeutungslosigkeit abgleitet?

Eren Güvercin: Egal, welcher Strömung man angehört, gibt es immer viele gemeinsame Nenner. Entscheidend ist, dass man nicht nur zwischen Gleichgesinnten in seinem eigenen Ghetto lebt. Wir müssen aus unserem eigenen Milieu heraustreten und uns mit anderen Muslimen treffen. Ungeachtet der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Verband oder zu einer spezifischen Initiative lassen sich immer verbindliche Elemente finden.

Betrachten wir die Debatte der letzten Monate zwischen so genannten „konser­vativen“ und „liberalen“ Muslimen. Würden sich die Vertreter beider Positionen wirklich begegnen, ließen sich Punkte formulieren, die sich als gemeinsame Ansichten herauskristallisieren.

Ich halte nichts von diesen künstlichen Gräben – seien es die zwischen verbands­gebundenen und ungebundenen Muslimen. Obwohl ich selbst nie Mitglied gewesen bin und die Verbände mich persönlich auch nicht ansprechen, sehe ich bei der Begegnung mit Mitgliedern von Milli Görüs oder anderen großen Verbänden schon, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Selbst die Mitglieder eines bestimmten Verbandes sind in sich überhaupt keine homogene Masse. Es wäre beispielsweise bei der Milli Görüs unfair zu behaupten, alle ihre Mitglieder seien konservativ oder sonst was. Selbst innerhalb der „liberalen“ Muslime wird man solche finden, die teilweise konserva­tive Ansichten haben. Die Welt ist nicht so schwarz-weiß, wie wir sie uns gerne zeichnen würden. Daher ist die inflatio­näre Verwendung der Labels „konserva­tiv“ und „liberal“, um sich von den ­jewei­lig anderen abzugrenzen, eine reine Kampfrhetorik. Inhaltlich steckt da kaum was dahinter.

Islamische Zeitung: Braucht es dafür nicht Pole der Autorität, die in dieser Vielfalt Prioritäten setzen? Oft werden die unwichtigsten Fragen – wie das Binden des Kopftuchs – auf die gleiche Stufe mit den wichtigsten – wie der Zakat – gestellt. Man gewinnt den Eindruck, dass das vertikale Wissens des Islam durch die neuen Organisations­formen nivelliert wird.

Eren Güvercin: In der islamischen Geschichte übernahmen diese Funktionen immer die Gelehrten. Viele jungen Muslime beschäftigen sich mit ihrem Din. Kommt es dann zu Fragen, ist das Inter­net die erste Instanz, der sie sich zuwen­den. Zuerst wird einmal „Schaikh Google“ konsultiert, anstatt zuerst zu einem Imam des Vertrauens zu gehen. Daher ist es umso wichtiger in unserer Zeit, dass die dafür ausgebildeten Personen mit solchen Fragen konfrontiert werden.

Niemand kann behaupten, dass alle Imame in Deutschland des Deutschen nicht mächtig wären oder in einer Paral­lelgesellschaft lebten. Es gibt genau so viele Imame, die wissen, wie das Leben in Deutschland ist und die die ­Probleme der Jugendlichen kennen. Man sollte sie aber auch ansprechen.

Islamische Zeitung: Nach mehr als einem Jahrzehnt Internet, soziale Netzwerke und digitaler Endgeräte; haben sich die traditionellen Formen und Denkregeln irreversibel geändert – Stichwort „Schaikh Google“ – oder finden die jungen Muslime einfach nicht die passenden Imame, denen sie sich zuwenden können?

Eren Güvercin: Natürlich gibt es ­dieses Problem, aber es gibt gleichermaßen immer mehr junge Muslime, die sich von den traditionellen Gemeinden dis­tanzie­ren. Sie bauen eigene, quasi gemein­schaftliche Strukturen auf. Natürlich kann man auf das Wochenendtreffen ­einer Jugendorganisation gehen und dort ein schönes Wochenende haben. Aber eine Moschee vor Ort, wo man zumindest zum Freitagsgebet hingeht und eine gemeinschaftliche Realität hat, ist eine andere Sache. Das ist ein Punkt, der defi­nitiv unter jungen Muslimen thematisiert werden sollte.

Das ist halt Fluch und Segen der Technik. Ich will nicht alles verteufeln, aber Muslimen sollte bewusst sein, dass – egal, welche Technik das ist – es auch einen Einfluss auf ihren Alltag hat. Es braucht hier eine kritische Distanz, oder besser gesagt einen gelasseneren Umgang mit der Technik.

Islamische Zeitung: Glaubst Du, dass einer deiner archetypischen Neo-Muslime, deren muslimische Identität nicht unerheblich durch Twitter, Facebook und das Internet geprägt wird, überhaupt noch in der Lage ist, so etwas wie die traditionelle Wissens­aneignung zu verstehen?

Eren Güvercin: Das Problem ist, dass sie es nicht kennen. Würden sie es kennenlernen, würden sie es definitiv schätzen. Ich glaube, sie versuchen sich aus dieser Unkenntnis heraus im Internet eine alternative Sicht zu suchen. Ich habe einen Zugang dazu, aber viele andere im meinem Umfeld haben es nicht. Könnten sie den qualitativen Unterschied erkennen, würden sie verstehen, dass das Internet kein authentisches Wissen ­bietet, sondern bloße Information. Die ­direkte Wissensvermittlung ist etwas ganz ande­res als die bloße Vermittlung von Information über das Internet etwa.

Die großen muslimischen Organisatio­nen, welche die Ressourcen dazu haben, sind in der Verantwortung, die muslimischen Jugendlichen auch mit diesem Wissen in Verbindung zu bringen. Wenn sie nicht dazu in der Lage sind, haben sie versagt.

Islamische Zeitung: Gelegentlich hat man das Gefühl, dass allen neuen Ansätze – von den „liberalen Muslimen“ bis zu den „Neo-Salafiten“ – die Herzenswärme und der Stallgeruch der alten Hadschis fehlt, die noch eine innere Verbindung zum Propheten und zu Medina haben. Das ganze wirkt manchmal etwas steril. Teilst du ­diese Erfahrung und brauchen wir dazu nicht ironischerweise „alte“ ­Elemente wie die Futuwwa?

Eren Güvercin: Im ersten Kapitel meines Buches würdige ich die erste Generation meiner Eltern, die hier alles aufgebaut hat. Ich habe sie als die „goldene Generation“ bezeichnet – ganz besonders die Frauen. Sie haben ganz viel ­geleistet. Gerade durch die einfache Spiritualität der anatolischen Bauern haben sie uns ganz viel vermittelt. Das können nur die wissen, die das auch erfahren haben. Was uns meine Eltern an Spiritualität ­gegeben haben, findet man an keiner Universität, auf keinem Wochenendtreffen, in kei­nem Iman-Seminar oder sonst irgend­wo. Ich glaube, dass wir als junge Muslime, die in Deutschland geboren wurden, glauben: „Wir sind fortschrittlich und haben in Europa eine gute Bildung genossen.“ Ich denke, dass wir langsam merken, was wir an unseren alten ­Leuten haben. Es ist genau diese ­Herzenswärme, die sie uns in den Hinterhofmoscheen vermittelt haben. Heute haben wir neue, repräsentative Moscheebauten, aber wenn die Spiritualität fehlt, dann nutzt auch das schönste Gebäude nichts. Es waren Menschen, die nicht viel zu reden brauchten, um echtes Wissen zu vermitteln. Auch in der gesellschaftlichen Debatte kommt die Wertschätzung der ganzen Gastarbeiter-Generation viel zu kurz.

Islamische Zeitung: Nehmen wir dein Buch als Ausgangsbasis; was wäre die Quintessenz, aus der man neue Sachen entwickeln könnte?

Eren Güvercin: Gegen Ende gehe ich auf meine Idee einer alternativen Islamkonferenz ein. Für manche mag das eine Provokation sein, weil man glauben könnte, dass es sich dabei um ein Konkurrenzprodukt zur DIK handelt. Die ihr zugrunde liegende Idee ist, dass bei einer wirklichen innermuslimischen Begegnung auf Augenhöhe womöglich vorher da gewesene Differenzen sich erfahrungsgemäß von selbst auflösen werden. Ich versuche mit Unterstützung von Feri­dun Zaimoglu, alle relevanten Muslime zusammenzubringen – konservativ oder liberal, organisiert oder unorganisiert. Wir sollten miteinander, statt übereinan­der reden. Es geht nicht um die Gründung einer Über-Organisation, sondern das einzige Ziel ist, dass sich die verschie­denen Muslime begegnen, sich austauschen und meinetwegen auch sich streiten. Das ist bisher niemals der Fall gewesen. Bisher kamen die Muslime nur auf Einladung seitens Dritter zusammen, wo es aber niemals ein Gespräch auf Augenhöhe gab.

Islamische Zeitung: Das scheint ja einer der Punkte zu sein, an dem du dich mit Lamya Kaddor triffst, die im letzten Monat einen „Muslimtag“ ­vorschlug…

Eren Güvercin: Die Idee stammt ja von Abdul-Ahmad Rashid, dem ZDF-Redakteur vom „Forum am Freitag“, den ich sehr schätze. Ich finde den Vorschlag auch gut, nur handelt es sich dabei um etwas anderes. Seine Idee ist die Organisation eines öffentlichen Events nach dem Vorbild des Kirchentags.

Ich finde solch ein Vorhaben wichtig und würde so etwas auch sofort unterstützen. Es geht mir bei der Alternativen Islamkonferenz aber um eine Debatte unter den Muslimen, bei der über alles gesprochen werden kann – meiner Meinung auch gerne hitzig. Um diese Offen­heit zu gewährleisten, braucht es einen geschützten Raum. Es muss auch Zonen geben, in denen die Muslime untereinan­der sein können. Dialogveranstaltungen haben wir meiner Meinung nach genug gehabt in den letzten Jahren. Warum soll es nicht auch einmal einen wirklichen Dialog unter Muslimen geben?

Islamische Zeitung: Lieber Eren, vielen Dank für das Gespräch.

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