Hintergrund: Die europäischen Muslime streiten um die Zukunft der politischen Terminologie. Von Sulaiman Wilms

„Tse Lu: Der Herr Wei wartet darauf, dass du eine Regierung bildest. Was wirst du als erstes tun? Kung: Die Namen klären. Tse Lu: Wie kann das sein? Du schweifst ab. Warum sie festlegen? Kung: Du Kürbis! Sprosse! Wenn ein Mann kein Wissen hat, sollte er Zurückhaltung an den Tag legen. Wenn Worte nicht genau sind, kann man ihnen nicht folgen oder eine Handlung entsprechend ihrer Bedingungen vollenden.“ (Konfuzius, aus der engl. Übersetzung von E. Pound)

(iz). Brühl. Am frühen Nachmittag des 12. Mai, fand eine Deutschlandpremiere statt. Das erste Mal stritten auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung/BpB ­Muslime über die Konstrukte „liberaler“ beziehungsweise „konservativer Islam“. Man muss der BpB dankbar sein, dass sie diese Gelegenheit ermöglichte. Die muslimischen Verbände jedenfalls ­waren bisher nicht in der Lage, diese ­überfällige und für die Muslime wichtige Debatte zu moderieren. Bereits wegen ihrer räumlichen Aufteilung mussten die TeilnehmerInnen (die Lehrerin Lamya Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund e.V./LIB, der Lehrer und Blogger Hakan Turan, Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime und der Autor) wie Gegner wirken. (Dass sich meine Beiträge, wie sich zeigen sollte, auf alle Lager des „politischen Islam“ bezog, wollte oder konnte in der bi­nären Debatte nicht zur Kenntnis genommen werden.)

Obwohl die Teilnehmer stellenweise polemisch wurden, war die Diskussion hilfreich. Immerhin wurde dem Publikum ein Geschmack davon vermittelt, dass und wie um einen Begriff ­gestritten wird. Klar wurde auch, was sich anhand des „liberalen Islam“ zeigt: Die Terminologien, die innerhalb der europäischen Muslime und im Austausch mit ihren Gesellschaften üblich sind, werden ­bisher kaum hinterfragt. Dass diese Begriffe problematisch sind, zeigt sich gerade in der Reaktion auf die IZ: Manchen ist sie zu konservativ, anderen zu liberal.

Ein weiterer Mosaikstein ist ebenfalls von Bedeutung: Eine Rednerin war der Ansicht, wir sollten uns nicht zu lange mit der Bestimmung der Begriffe aufhal­ten. Genau aber diese sind ein Kernprob­lem, an dem europäische Muslime labo­rieren. Von Norwegen bis Italien und von Irland bis Russland: Überall werden sie mit „Islamismus“, „Salafismus“, „libe­ralem Islam“, „Reform des Islams“ oder „Multikulturalismus“ konfrontiert. Ressourcenmangel und fehlender Einfluss auf die Debatte verhindern, dass sich Muslime von ihr freimachen oder sie selbst gestal­ten können.

Dies ist kein abgehobenes Glasperlen­spiel. Begriffe werden von einer Bedeutung (und von politischen Handlungselementen) begleitet, die mit ihr einhergehen. Nehmen wir die allerorten, und selten hinterfragte Forderung nach „Inte­gration“: Natürlich gibt es Gruppen, die nicht oder nicht ausreichend in ihren Heimatländern eingefügt sind oder Probleme damit haben. Die permanente Anwendung der „Integration“ auf den Islamdiskurs aber erzeugt die Vorstellung, dass sich Muslime wegen ihrer Religions­zugehörigkeit „integrieren“ müssten. Wieso aber sollte dies gerade auf europä­ische Muslime zutreffen?

Der konkrete Begriff übersieht, dass die Mehrheit der Muslime in Europa (das Gebiet westlich des Ural) gebürtige Europäer sind und es daher nichts zu integrieren gibt. Das Problem der fremdbestimmten Terminologie geht tiefer: Mittlerweile ist „Integration“ in ihrer dominanten Form in den muslimischen Diskurs „integriert“. So hieß es in einer merk­wür­digen Presseerklärung über den gemeinsamen Ramadananfang der muslimi­schen Verbän­de, dass diese Entscheidung der „Integra­tion“ diene.

Islamismus – der Bulldozer der Debatte
Ortswechsel. Auf der Webseite der „Zeit“ fand vor Kurzem eine muntere Debatte statt, als ein ägyptischer Präsidentschaftskandidat als „netter Islamist“ bezeichnet wurde. Die ­Forumsteilnehmer diskutierten versiert über die Gültigkeit des „Islamismus“-Begriffs; viele stellten ihn in Frage und hielten diesen „Ausgrenzungsbegriff“ (Prof. W. Schiffauer in der IZ) für ungeeignet. Kurzum, man rieb sich die Augen und wünschte sich, dass auch Muslime so debattiert würden.

Während in den letzten Jahren Konflikte um vermeintliche „Massenvernich­tungswaffen“ geführt wurden, kam – sozusagen auf geistiger Ebene – spätestens seit dem 11. September 2001 der „Islamismus“ zum unterscheidungslosen Einsatz. Genauso wenig, wie Luftangriffe im afghanisch-pakistanischen Grenzland „chirurgische“ sind, und manchmal zivi­le Hochzeitsgesellschaften treffen, genau­so wenig enthält der „Islamismus“ genug Substanz, um kundig einen Sachverhalt zu beschreiben. Wie das Flächenbombardement einer B-52 betrifft er alle: Terroristen, Wahhabiten, Hamas-Sympathisanten, den politischen Islam, aber auch viele gesetzestreue und engagierte europäisch-muslimische MitbürgerInnen.

Einmal als „Islamist“ etikettiert, eröff­net sich die ganze Palette implizierter, angeblicher Einstellungen: anti-demokratisch, fundamentalistisch, frauenfeindlich und antisemitisch. Nichtsdestotrotz, oder gerade vielleicht deswegen, werden Muslime damit überzogen und es bleibt ihnen – von Ausnahmen abgesehen – oft nichts übrig, als sich dem Bulldozer-Charakter dieses Begriffes zu beugen. Eine Ausnahme war der türkische Außenminister Davutoglu, der bei einem Deutschlandbesuch im Gespräch mit ­Innenminister Friedrich diese Terminologie von sich wies.

Obwohl „Islamismus“ ­wissenschaftlich klingt, sehen sich Ganz- oder Halbexper­ten gezwungen, ihn durch Zusätze qualifizieren zu müssen. So vermeinen sie, zwischen einem „legalistischen, gewaltfreien Islamismus“ und einem „gewalttä­tigen Islamismus“ unterscheiden zu können beziehungsweise zu müssen. Sucht man nach „Islamismus“ auf Wikipedia (dem angeblich zuverlässigen online-Kom­pendium allen Wissens), erscheint zuerst eine Notiz, wonach das ­ellenlange Elaborat einer Überarbeitung bedarf. Nicht wirklich vertrauenserweckend. Der Rest liest sich wie eine der handelsüblichen Zusammenstellungen, die man auch in Zeitungsartikeln oder in staatlichen Veröffentlichungen geboten bekommt. Laienhaft formuliert steht der „Islamismus“ in den Augen seiner User für den „politischen Islam“ (allerdings nur für den unangenehmen; seine politisch korrekte Variante – die liberale – ist durchaus willkommen), der seine religiösen Ansichten politisch umsetzen will.

Und hier liegt das Problem: Wird jeder Muslim, der sich veranlasst sieht, sich dank seiner Religion sozial zu ­engagieren oder Lösungsansätze für Probleme zu formulieren, damit zum „Islamisten“? Wenn nein, wo fängt er an? Es ist genau diese Unschärfe, die den „Islamismus“ hat so erfolgreich werden lassen. Je unbestimm­ter, desto mehr sind wir von ihm betrof­fen und desto weniger können wir uns zur Wehr setzen. So ist in diesem Kontext der Kategorisierung islamischer Lebenspraxis zu fragen: Ist die Zahlung oder die Einsammlung der ­Zakat etwas Politisches, etwas ­Religiöses oder Ökonomisches?

Es ist natürlich zu bezweifeln, dass sich der ideologische Begriff aus der islamischen Lehre ableiten ließe. „Islamismus“ hieße ja, dass Musli­me den Islam und seine Überzeugungen anbeten würden. Dies widerspricht aber im Kern dem Din selber, der ja ein Mittel zu Anbetung Allahs ist – und kein Ziel in sich.

Phänomen Salafismus
Würde die öffentliche-mediale Wahrnehmung stimmen, dann wäre Salafismus eine Steigerungsform des „Islamismus“, wenn nicht gar des Islam selbst. Gemeinhin werden die Anhänger jener Bewegung, die ihre Wurzeln in der wahhabitischen Bewegung Arabiens hat, oft als sehr strenge Muslime definiert. Eine Vorstellung, von der sie selbst am meisten profitieren, weil ihnen das den Nimbus von „Frömmigkeit“ und „Reinheit“ verleiht.

Hierbei wird übersehen, dass diese Gruppierung in ihrer Anfangszeit (bis zum Ende des Khalifats) als Sekte (manche sahen in ihr eine Nachahmung der Khawaridsch) galt. Weil Salafisten aber seit Jahrzehnten jeder anderen muslimi­schen Formation vorwerfen, irre geleitet zu sein (bis hin zur Unterstellung, man werde durch angeblich falsche Ansichten zum Nichtmuslim), drängten sie die Mehrheitsmuslime in die Defensive. Wird der Wahhabismus aber als eine Art Steigerungsform des Islam wahrgenommen, dann verwischt sich die Grenze zwischen sektiererischen Ansichten und dem Mehrheitsislam.

Diese Selbstzuschreibung von „Salafis­ten“ als quasi „Avantgarde“ ist nichts anderes als eine Anmaßung gegenüber den Mehrheitsmuslimen. Sie pachten durch diese ­Adaption der „Salaf“ (jener respek­tierten ersten Generationen des frühen Islam) einen Begriff (und damit einen Anspruch) für sich, der im Grunde jedem praktizieren­den Muslim zukommt. Dieser Anspruch wird nicht durch eine Behauptung zu einer Realität, sondern durch die Lebensführung. Wo aber zahlen „strenggläubige“ Salafisten ihre ­Zakat, gründen Stiftungen oder organi­sieren Märkte?

Alles liberal, oder was?
Wie der „Salafismus“ entstand der „liberale Islam“ (und sein notwendiges Gegenteil, der „konservative“) innerhalb der Community selbst – aber auch in Abgren­zung zur absoluten Mehrheit. Natürlich wurde der angebliche Streit dankbar von Massen­medien aufge­nom­men, die seinen VertreterInnen bisher einen deutlichen Vorrang einräumten. Um Missverständnisse zu ­vermeiden: „Liberal“ und „konservativ“ sind beides poli­tische Begriffe. Es geht hier nicht darum, eine Position zu bevorzugen und es ist keine Anmaßung zu vermuten, dass die Mehrheit der europäischen Muslime weder das eine, noch das andere Etikett für sich beanspruchen.

Hier ist kein Platz für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einem, als „libe­ral“ etikettierten Islamverständnis. Dies ist auch nicht einfach, weil bisher nur Hakan Turan mit seinen „Fünf Thesen“ überhaupt eine kohärente Definition des „liberalen Islam“ lieferte. Aufgrund ­seines Sachverstands musste er, dem es nicht an Ernsthaftigkeit mangelt, in seinem Text vom 17. Mai manche Ansicht in bisherigen Publikationen korrigieren.

Es ist eine Pointe, dass den vermeintli­chen „Liberalen“ bisher nicht von „Konservativen“ widersprochen wurde. Niemand stand auf und sagte: „Ich bin konservativ, und ihr habt Unrecht!“ Die Mehrheit der Gegenstimmen zum Streit, der am 8. August 2011 durch einen Beitrag von Lamya Kaddor in der „Süddeut­schen Zeitung“ ausbrach, verweigert sich gerade jeder Etikettierung. Auch auf ­Nachfrage in Brühl konnte sie die Gruppe junger konservativer Muslime nicht eingrenzen, die sie in ihrem Text zu identifizieren suchte.

Wie im obigen Falle haben wir es mit einer Terminologie zu tun, deren ­Inhalt nicht in einer öffentlichen Debatte bestimmt wurde oder sich im Rahmen eines Konsens entwickelte. Sie entstand als Mittel im Kampf um Deutungshoheit. Darüber hinaus bleibt er unbestimmt, wie Hakan Turan schreibt: „Es ist erfor­derlich, dass innermuslimisch definiert wird, in welchem Sinn und in welchem Interesse diese Begriffe verwendet werden.“ Ein Blick auf die Webseite des LIB e.V. eröffnet bisher keine tiefere Durchdringung des eigenen Anspruchs, soweit es positive Begriffsdefinitionen betrifft.

Das liberale Konstrukt basiert wie alle, auf Gegensatzpaaren beruhenden Begriffe seit dem 11. September 2001 auf simplen Mechanismen. Indem man sich als „liberal“ bezeichnet, wird das Gegen­über fast automatisch „konservativ“ (inklusive aller negativer Zuschreibungen). Diese negative Abgrenzung erspart den mühsamen Weg hin zur Formulierung von positiven Inhalten, was auch der Text von Hakan Turan andeutet. Es wäre vergebene Liebesmüh, von den Fraktionen des politischen Islam sozio-ökonomische Lösungsansätze zu erwarten, die Kernelemente der islamischen Sozialethik (Mu’amalat) sind.

Außerdem offenbaren die bisher mit dem Begriff des „liberalen Islam“ in Verbindung stehenden Debattenfelder alte säkularen Glaubensfragen im neuen Gewand – „liberale Demokratie, Meinungs­freiheit und Pluralismus“ (Turan). Derartig ideologisch aufgeladen und mit solchen Ansprüchen aus der Werte-Debatte versehen, ist der „liberale Islam“ ein Kampfmittel im Streit um die Deutungs­hoheit innerhalb der muslimischen Community. Wie man die Sinnlosigkeit des „Liberalismus“-Begriffs weiter auf die Spitze treiben kann, belegte am 24. Mai die „New York Times“. Die US-Tageszeitung nannte den eingangs erwähnten Präsidentschaftskandidaten Aboul Foutouh einen „liberalen Islamisten“. Man könnte auch ergänzen, er ist ein ­liberaler Konservativer.

Auf dem Weg zur Verchristlichung?
Es gibt eine untergründigere, nur ­selten an die Oberfläche tretende Entwicklung, von denen der Liberalismus-Begriff nur eine Äußerung ist. In seiner spirituellen Ausformung, aber auch in der Lebenswirklichkeit könnte man das, wie es der Islamwissenschaftler und Autor Muham­mad Sameer Murtaza messerscharf in Brühl tat, als Verchristlichung bezeichnen. Analog zur Entwicklung des Protes­tantismus, der sich auf einen esoterischen „Glauben“ reduzierte, erlebte die musli­mische Moderne – interessanterweise ­jenseits sämtlicher Ideologien -, dass sich viele Muslime heute stärker denn je auf symboli­sche Handlungen und bestimmte Themen fixieren. Und dies, obwohl die religiöse Lebenspraxis dieses Dins in ­ihren Kernbereichen keine Symbolik kennt.

Auf ritueller Ebene wäre dies die Konzentration auf das Freitagsgebet, während viele Moscheen – aufgrund der Dominanz der ökonomischen Sphäre – tagsüber leere Räume sind. Ein anderes Beispiel ist die Obsession mit Lebensmittel­zusätzen, die in den frühen 1990er Jahren einen großen Platz innerhalb muslimischer Publikationen einnahmen. Und, last but not least, die Reduktion von Frauen auf das Kopftuch. So, als wäre dies das Endziel der spirituellen, gemein­schaftlichen oder sozialen Aktivitäten von Musliminnen.

Was den „liberalen Islam“ von konven­tionellen Formen muslimischer Überzeugungen trennt, ist sein Hang zur expli­ziten Zuspitzung. Auf der LIB-Webseite findet sich dazu der Satz: „Die theologische Basis für die Repräsentanz von liberalen Muslimen und Musliminnen in Deutschland lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Schahada – das islamische Glaubensbekenntnis. Dieses bezeugt den Glauben an den Einen Gott sowie den Glauben an Muhammad als Gesandten Gottes. Bei allem, was über diesen Kern hinausgeht, darf dogmatische und kulturelle Einheit weder Ziel noch Voraussetzung sein.“ Um solche obskure Neuinterpretationen zu rechtfertigen, ist es notwendig, sich in regelmä­ßigen Abständen von der Tradition abzugrenzen.

Die Tendenz einer verchristlichten Zwei-Welten-Lehre ist kein Privileg einer spezifischen Ausformung des politischen Islam. Sie ist – leider – massenkompatibel. Eine ihrer Manifestationen ist die Trennung zwischen persönlichen Glaubensüberzeugungen und dem Handeln in dieser Welt. Vergleichen wir die Quantität der ökonomischen Verpflichtungen des Dins mit der heutigen Glaubenspraxis müssen wir eine enorme Diskrepanz festhalten. Mehr noch: ­Während Imame die kleinsten Feinheiten der ritu­ellen Waschung oder ­erstrebenswerte Charaktereigenschaften in den Mittelpunkt ihrer Freitagspredigten rücken, spielen die Mu’amalat und namentlich die ökonomischen Gesetze keine Rolle.

Die Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, zwischen „Glauben“ (kaum ein gebildeter Muslim würde diesen Begriff verwenden) und „Handeln“ widerspricht der islamischen Einheitsleh­re. Das gleiche gilt für die Aufspaltung der Kernelemente des Dins in Glaubens­lehre/Iman und rituellen Handlungen/­Islam. In einer der wichtigsten prophetischen Überlieferung, die wegen ihrer Relevanz auch als „Mutter der ­Hadithe“ bezeichnet und von ‘Umar überliefert wurde, erklärte der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dass der Din aus den drei verbundenen Teilelementen Islam (die fünf Säulen: Schahada, Gebet, Zakat, Fasten im Ramadan und Hadsch), Iman (die sechs Glaubensgrundlagen) sowie Ihsan (spirituelle Perfektion) besteht. Hier eine künstliche Trennung vorzuneh­men, ­hieße die Lehre der Einheit und der Eigenschaften Allahs (Tauhid) von dem zu trennen, was der Prophet an Verhaltensmustern hinterließ. Jede politische Dialektik übt einen permanenten Zwang zur Zuspitzung (früher sprach man von permanenter Revolution) aus: Konsequent fortgeführt, endet diese Denkrich­tung in der de facto Leugnung des zweiten Teils der Schahada. Darüber hinaus bewirkt das künstliche Begriffspaar liberal-konservativ eine fortlaufende Spaltungsmöglichkeit. Wer heute noch liberal ist, kann morgen schon durch eine noch liberalere Glaubensrichtung als konservativ definiert werden.

Imam Abi Zaid Al-Qairawani schrieb im Vorwort seiner „Risala“, in der Einleitung zu seinem Kapitel über die Glaubenslehre: „Glaube [Iman] wird mit der Zunge ausgedrückt, durch die Aufrichtigkeit des Herzens und die Handlung der [Körper-]Glieder bestätigt.“

Die Kultur-Lüge
Bis jetzt hatten wir es mit Begriffen zu tun, die im Rahmen der europäischen Islam-Diskurse entstanden. Sie sind ihrem Wesen nach politische und folgen den Gesetzmäßigkeit moderner Politik. Der letzte Begriff hat sich separat von den obigen entwickelt und reflektiert die Tatsache, dass sich in den letzten 60 ­Jahren umfangreiche Einwanderergruppen in den westeuropäischen Staaten ­ansiedelten. In Ablehnung des real existierenden Rassismus der 1980er und 1990er ­Jahre, aber auch als Reaktion des Überbaus auf die Globalisierung der Ökonomie und ihres Zwangs zur uneingeschränkten Bewegung von Menschen, entwickelte sich das Konzept des „Multikulturalismus“.

In dieser Gemengelage aus Zuwanderung, Integration, Kulturkampf, Identität etc. wurde in Folge – und zum Leidwesen der europäischen Muslime – auch noch das Element „Islam“ eingebracht. So kam – bei vermeintlichen pro- wie anti-muslimischen Stimmen – das schädlich Missverständnis in die Welt, der Din sei eine wie auch immer geartete separa­te Kultur – entweder zu bejahen oder abzulehnen -, die seit Beginn der Einwande­rung von Muslimen hier heimisch wurde. Dieser irrige Begriff errichtet ständig neue Barrieren zwischen einer vermeint­lich christlich-abendländischen Kultur und dem – angeblich fremden – Islam. Sehen wir von realen kulturellen Verfallserscheinungen ab, die einige wenige Einwanderergruppen nach West­europa brachten (ein bekanntes Beispiel sind die unseligen und unislamischen „Ehrenmorde“), wirkt das alltägliche Missverständnis wesentlich subtiler, der Islam beziehungsweise der Muslim sei der Andere, der von der europäischen Kultur verschieden sei und daher „integriert“ werden müsse.

Die freundliche Sonne des „Multikulturalismus“ scheint aber nur auf denjenigen, der sich als fremder Exot in unsere bunte Patchwork-Gesellschaft einbringt. An jenen, die als Europäer in ihrer Religion authentische ­Antworten für diese Zeit und diesen Ort zu finden suchen, findet sie kein Vergnügen.

Die Zugehörigkeit zum Islam – wie die unzähligen neuen europäischen Muslime, Bosnier, Albaner, Bulgaren, West-Thraker und vor allem russischen Muslime belegen – bedeutet weder eine kulturelle Differenz, noch die Notwendigkeit für Muslime, der Multikulti-Ideologie anzuhängen. Sie stehen für das Ende vermeintlicher Hindernisse aus ­Identität und Kultur und stellen selbstverständlich auch keine Bedrohung für Europa dar. Genau hierfür braucht es Muslime (die natürlich die religiöse Lebenspraxis mit dem Rest der muslimischen Welt teilen) europäischer Mentalität, nicht Herkunft, welche durch ihre Existenz und ihr gelebtes Vorbild be-greifbar machen, dass der Islam keine Kultur ist.

Wollen Deutschlands und Europas Muslime zu einem handelnden Subjekt werden – und ihre Tendenz zu Atomisierung umkehren -, braucht es trotz gegenteiliger Annahme ein Nachdenken und auch einen Streit um die Begriffe. Nur wenn sie dieses vermögen, können sie sich freimachen von irrigen Konzepten und Vorstellungen, die ihnen von innen und außen aufgedrängt wurden. Die passive Übernahme der vorherrschenden Terminologie bedeutet die Fortsetzung bestehender Missverständnisse und Benachteiligung in den Debatten um den Islam.