"IZ-Begegnung" mit Markus Henn von der Nichtregierungsorganisation WEED über den Anstieg globaler Lebensmittelpreise

(iz). Heute gilt der bequeme Grundsatz, dass wir nur für ­unser politisches, aber nicht für unser ­öko­no­misches Handeln Verantwortung übernehmen. Im Hier und Jetzt gibt es realen Grund zur Em­pö­rung. Die verbreitete Spekulation mit Nahrungsmitteln kostet unter unseren Augen jeden Tag neue Opfer. Nicht alle nehmen das schweigend hin. Mit verschiedenen Aktionen haben in der letzten Zeit einige NGOs dagegen protestiert, wie Finanzinvestoren die Preise von Nahrungsmit­teln beeinflussen.

Eine der hier ­engagierten Einrichtung ist WEED e.V., eine unabhängige Nichtregierungsorganisation, die sich seit über 20 Jahren mit den sozialen und ökologischen Auswirkungen der Globalisierung beschäftigt und im Sinne einer Wende in der Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Tragfähigkeit arbeitet. Die aktuellen Arbeitsbereiche sind Weltfinanzsystem, Welthandel und globale Produktion und die Rolle der öffentlichen Beschaffung. WEED will bei seiner Arbeit die Mitverantwortung der Industrienationen stärker ins Zentrum rücken.

Hier sprachen wir mit Markus Henn. Er hat ein Magisterstudium in Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Recht und Volkswirtschaftslehre an der Universität München absolviert. Er kam Anfang 2010 zu WEED. Sein Fokus liegt dabei zurzeit auf der Reform der Derivatemärkte, mit besonderer Berücksichtigung von Rohstoff­spekulation. Markus Henn ist auch seit 2007 Mitglied der Arbeitsgruppe Finanzmärkte von Attac Deutschland.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Henn, ihre Einrichtung WEED hat Kurzem zusammen mit andern NGOs gegen „Lebensmittelspekulation“ protestiert. Was verstehen sie darunter?

Markus Henn: Wir verstehen darunter, dass von Banken und Fonds Anlegern angeboten wird, dass diese auf Nahrungsmittelpreise spekulieren können. Das Geld, das in diese Banken beziehungsweise in Fonds fließt, wird an den so genannten „Warenterminbörsen“ kaufwirksam. Dort werden Verträge gehandelt, mit denen sich Bauern, Firmen und alle, die mit Rohstoffen handeln, ursprünglich gegen Preisschwankungen absichern können. An solchen Börsen tätigen die jeweili­gen Banken oder Fonds ihre Anlegergeschäfte, wodurch Märkte zweckentfrem­det und zu etwas gemacht werden, was sie eigentlich nicht sind. Das ist die, von uns kritisierte Nahrungsmittelspekulation. Durch sie werden die Preise an den Börsen verzerrt.

Islamische Zeitung: Wie hoch sind die Summen, die von deutschen Investoren in die Märkte eingebracht werden?

Markus Henn: Global gesehen gibt es in diesem Agrarbereich laut verschiedener Erhebungen Investitionen in Höhe von rund 100 Millionen US-Dollar, die an das Versprechen geknüpft werden, dass man von steigenden Agrarpreisen profitieren kann. Die genauen Zahlen für Deutschland sind schwerer herauszubekommen. Es gibt einige Untersuchung für einzelne Akteure; beispielsweise im Falle der Deutschen Bank, bei der es fünf Milliarde Euro, oder noch mehr sind. Vor Kurzem gab es neue Studie von ­Oxfam zur Allianz Versicherung, die mit rund sechs Milliarden Euro in dem Bereich tätig ist. Dies sind die größten deutschen Akteure.

Islamische Zeitung: Welche Auswirkungen hat diese Spekulation für Erzeuger, Verbraucher und die betroffenen Bevölkerungen – in den Ländern der Dritten Welt als auch bei uns – insgesamt?

Markus Henn: Wir gehen davon aus, dass die an der Lebensmittelspekulation beteiligten Finanzakteure letztendlich Terminverträge an den Börsen kaufen.

In Europa beispielsweise steht die führende Weizenbörse MATIF in Paris. Wenn dort Leute kaufen, die Anliegerinteressen befriedigen wollen, dann glauben wir, dass die Preise mittelfristig schwanken, weil sich so vorhandene Preisentwicklungen, die beispielsweise durch die Qualität der Ernten beeinflusst werden, extrem verstärken.

So kann aus einer kleinen Bewegung eine globale werden. In den letzten fünf Jahren haben wir so etwas bereits zwei Mal beobachtet. 2007/8 und 2010/2011, als es zwei starke Blasen nach oben gab – mit entsprechenden Abstürzen nach unten. Sowohl die hohen Preisspitzen als auch die starken Schwankungen führen zu Problemen. In Europa kann es sein, dass bestimmte Nahrungsmittel teurer werden oder dass Bauern mehr Probleme haben werden, Investitionen zu planen. Auch Lebensmittelfirmen können Schwierigkeiten bekommen, weil sie nicht mehr erklären können, wie die ­starken Preisschwankungen zustande kommen.

Diese Probleme verstärken sich dann noch einmal für die Entwicklungsländer. Dort machen die Preisschwankungen ­einen vielen größeren Unterschied aus. Je größer der Anteil an den Haushaltsausgaben für Lebensmittel (das können auch mal 50 Prozent sein in Entwicklungsländern, während wir in Europa nur durchschnittliche 15 Prozent ­unseres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen), desto krasser ist eine Lebensmit­telpreissteigerung von 50 Prozent. Letztlich haben jene Preisschwankungen und die beiden Spitzen in den letzten fünf Jahren dazu geführt, dass mehr Menschen verarmen und hungern müssen. Hierzu gibt es ziemlich eindeutige Zahlen von der Weltbank oder dem Welternährungsprogramm, wie viele Menschen in den letzten Jahren hungern mussten – es sind viele Millionen.

Islamische Zeitung: Vor geraumer Zeit berichteten Massenmedien wie „Spiegel“ oder „Zeit“ darüber, das auf dem Indischen Subkontinent Dutzende Millionen Menschen mehr Hunger leiden müssen. Hängt das mit der Lebensmittelspekulation zusammen?

Markus Henn: Man muss sich jedes Mal genau anschauen, wo die Preise steigen. Es lässt sich nicht so einfach sagen, dass die Aktionen einiger Fonds zu ­einem Preisanstieg in Indien führen. Das wäre natürlich eine starke Vereinfachung. Es gibt in der ganzen Begründungskette auch Unsicherheitsfaktoren.

Man kann aber sagen, dass sich diese internationalen Preisspitzen zumindest in diesen letzten fünf Jahren auf die loka­len Märkte in Entwicklungsländern übertragen haben. Insbesondere geschieht dies über die Einfuhren, die diese Länder oft tätigen müssen. Natürlich gibt es in jedem Einzelfall aber auch lokale ­Ursachen, warum hier – lokal oder regional – eine Hungersituation besteht. Es kann sein, dass es schlechte Ernten gab, dass dort eine schlechte Regierung im Amt ist oder dass an dem jeweiligen Ort zu wenig in die Landwirtschaft investiert wurde. Auch der Klimawandel trägt dazu bei, dass Böden schlechter werden.

Es lässt sich trotz dieser ­Unsicherheiten sagen, dass sich diese Preisspitzen übertragen und man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass diese Preisspitzen mit der Lebensmittelspekulation zu tun haben.

Islamische Zeitung: Es gibt Beobachter, die meinen, dass die Anstiege bei den Lebensmittelpreisen mitverantwortlich für die Ausbrüche der Unruhen beispielsweise in Nordafrika waren. Was bedeutet dieses Phänomen in sozialer und politischer Hinsicht für betroffene Gesellschaften? Kann man ihre Erkenntnisse hier übertragen?

Markus Henn: Insgesamt auf jeden Fall. Es gibt auch eine Studie, die gezeigt hat, dass sich in diesen ­Hochpreisphasen die Zahl der berichteten Aufstände und Unruhen in Ländern der Dritten Welt beziehungsweise in den Schwellenländern extrem verstärkt hat. Man kann eine Verdichtung dieser politischen Probleme ­erkennen.Natürlich müssen wir auch hier bei ­jedem einzelnen Land genau hinschauen und untersuchen, ob die lokalen Preisanstiege mit den internationalen in Verbindung stehen.

Zu Ägypten beispielsweise gibt es konträre Stimmen, die keinen Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen erkennen können. Aber in Tunesien wird die Lebensmittelspekulation jedenfalls als einer der Gründe genannt, warum die Menschen derart ­bereit waren, den Aufstand zu unterstützen.

Die Lebensmittelspekulation spielt ­sicherlich eine Rolle und ist eine destabi­lisierende Komponente. Man müsste natürlich debattieren, ob diese Aufstände beispielsweise in Nordafrika nur ­negativ gewesen sind. Das wird sich in den nächsten Jahren erweisen müssen. Aber man kann sagen, dass jeder Hungernde, der auch den Aufstand mitgemacht hat, einer zu viel ist.

Islamische Zeitung: Einige Ana­lysten sind der Ansicht, dass die Finanzmärkte in Folge der Finanzkrise von Geldern aus den diversen Rettungsaktionen überschwemmt wurden. Viele Anleger hätten sich gegen bisherige Investitionsmodelle entschieden und sich für Investitionen in Warenmärkten – wie Lebensmittel oder Gold – entschieden. Sehen sie hier eine der Ursachen für die Lebensmittelspekulation?

Markus Henn: Auf jeden Fall. Dass hier eine Übertragung stattfindet, gilt eigentlich am wenigsten umstritten. Klar ist auch, dass die von den ­Zentralbanken bereitgestellten Summen zu einer Inflation der verschiedenen Vermögenswerte führen. Dazu gehört heute eben auch der Rohstoffbereich, der auch auch nur ein Vermögenswert unter anderen ist – wie Immobilien.

Die Frage ist hier, ob die Krise das gezielt ausgelöst hat. Das lässt sich nachweisen: Als die ersten Märkte aufgrund der geplatzten Blase für Immobilien zusammenbrachen und die Anleger aus ­Aktien und anderen Anleihen flohen, galten die Rohstoffmärkte als eine der Möglichkeiten, sich einen gewissen Gewinn zu sichern oder zumindest kein Geld zu verlieren.

Es ist allerdings so, dass manche Elemente bereits vor Beginn der ­Spekulation begonnen haben. Gerade die großen Fonds wurden bereits ab 2005 und 2006 aufgelegt, als die Pensionsfonds sehr viele Gelder in die Lebensmittelmärkte pumpten. Hier gab es also schon vorher einen gewissen Investmenttrend. Es galt als ganz toll, einige Rohstoffwerte im eigenen Portfolio zu haben.

Mit der Finanzkrise hat sich dieser Trend deutlich verstärkt, als Akteure wie die großen Hedgefonds in die Rohstoffmärkte drängten. Natürlich haben auch die Banken das als neues Beschäftigungs­feld entdeckt. Seit die Preise ab 2007 anstiegen, gab es eine zusätzliche Motivation, auch wegen der erhöhten Preise mehr zu verdienen. An diesem Punkt haben sich noch mehr Leute beteiligt, die früher gar nichts mit Rohstoffen zu tun hatten.

Islamische Zeitung: Seit einigen Jahren hört man von einer neuen Landnahme beziehungsweise dem so genannten „Land Grab“. Das heißt, der Kontrolle und komplett autarken Bewirtschaftung in den Ländern der Dritten Welt durch ostasiatische und arabische Staaten beziehungsweise durch Fonds. Sehen sie darin eine untergründige Entwicklung, die mit der Lebensmittelspekulation verbunden ist?

Markus Henn: Das hängt schon einmal insofern zusammen, als es die gleichen Akteure sind, welche dies als ­Anlage anbieten. In Deutschland bieten die Deutsche Bank über ihre Tochter DWS sowie die Allianz und andere die Möglichkeit an, über die bereits angesproche­nen Termingeschäfte hinaus zu investieren. Da ist Land natürlich eine Möglichkeit.

Generell ist der Rohstoffsektor eine Investition, die als zukunftsträchtig gilt, bei der Preise ansteigen werden, bei der es Bedarf gibt und aus der man Renditen erwirtschaften kann. Das erfasst ­sämtliche Elemente der Landwirtschaft wie Agrarunternehmen, aber auch direkte Investi­tionen in Land. Die zugrunde liegende Überlegung ist eine etwas andere als im Falle der Spekulation, bei der Terminge­schäfte erworben werden. Hier handelt es sich um Anlageformen, die nicht verloren gehen. Das ist eine große Verfügungsmacht, mit der man große Renditen abschöpfen kann.

Das ist der klassische Kapitalismus, bei dem man sich direkten Zugriff auf die Produktionsmittel verschafft; im Gegen­satz zur Spekulation in Termingeschäfte, wo man es eher mit einer anspruchsvolleren Verwertung zu tun hat. Die Akteu­re sind teilweise deckungsgleich und es gibt generell einen starken Trend, jene Dinge zu Geld zu machen. Ein anderes Beispiel wären Investitionen in Wasser. Es existiert eine große Bewegung zur stärkeren Nutzung natürlicher Ressourcen als Renditeobjekte.

Islamische Zeitung: Viele Menschen haben ja die Hoffnung, als Verbraucher Einfluss nehmen zu können. Ein Beispiel wäre die Bewegung des gerechten Handels. Stellen die Fair Trade-Produkte ihrer Meinung nach eine Alternative dar?

Markus Henn: Es gibt indirekte Verknüpfungen weil beispielsweise der globale Preis für Kaffee oder Kakao, um zwei klassische Fair Trade-Produkte zu nennen, indirekte Folgen für den gerechten Handel hat. In manchen Hochpreispha­sen geriet der faire Handel unter Druck, weil die festen Abnahmepreise des gerechten Handels teilweise nicht mehr so gut waren, wie der internationale Preis. Das hat dann natürlich auch insgesamt Auswirkungen auf die Struktur des gerechten Handels.

Es lässt sich aber sagen, dass das Fair Trade-Produkt diesem Kreislauf ein bisschen entzogen ist, weil die Preisgestaltung nicht über die Börsen läuft. Seine Preisverhandlungen sind generell vom internationalen Markt – wie die Börsen in Paris oder Chicago – getrennt. Wer Fair Trade-Produkte kauft, trägt dazu bei, dass die Dominanz von diesen inter­nationalen Preisen ein Stück weit gebro­chen wird. Solange dies nur in dem Maße geschieht, in dem der gerechte Handel stattfindet, ist der Effekt natürlich nicht ganz so stark. Man kann sich als Konsu­ment trotzdem sagen, dass man zu ­einer alternativen Struktur beiträgt, die ohne diese Börsen auskommt und die vielleicht auch besser und nachhaltiger sicherstellt, dass die Menschen ein gutes ­Auskommen haben.

Islamische Zeitung: Ganz praktisch gefragt; können Verbraucher oder Anleger erfahren, welche Unternehmen und Banken an diesen Geschäften beteiligt sind?

Markus Henn: Es gibt von attac im Rahmen der Kampagne zum Bankwech­sel Materialien, in denen auch geprüft wird, ob beziehungsweise inwieweit Banken bei Nahrungsmittelspekulation engagiert sind. Dort kann man sich das ansehen. Die Deutsche Bank beispielsweise ist bei den Unterlagen von attac als ein ganz großer internationaler Akteur immer vorne mit dabei. Solche Anlagen finden sich aber auch bei der Genossenschaftsbank, bei der Commerzbank und bei anderen. Hier handelt es sich um ein Geschäft, das fast alle Banken mit betreiben. Hier kann man sich zumindest einen Überblick verschaffen, wer besonders stark engagiert ist.

Islamische Zeitung: Sehen sie Handlungsmöglichkeiten für die Politik, hier einzugreifen?

Markus Henn: Die Vorgaben zum Thema Finanzmärkte sind inzwischen sehr stark europäisiert. Viele Gesetze darüber, was Banken oder Fonds hier machen dürfen, sollen oder müssen, ­werden inzwischen auf der europäischen Ebene festgelegt. Hier entscheidet sich, was verboten werden kann – woran wir auch konkret arbeiten. Aktuell ist dies die EU-Reform der Märkte für Finanzinstrumente. Es geht dabei um eine bessere Regulierung der Warenterminmärkte wie die Börse in Paris.

Die nationale Ebene kann dort einen gewissen Spielraum ausnutzen. Das wird aber auch davon abhängen, wie genau eine europäische Vorgabe ist; beispielsweise, ob darin steht, dass die Nationalstaaten keine strengeren Regeln oder höheren Grenzen erlassen dürfen. Wenn so etwas von der EU festgelegt wird, ist hier der Spielraum eingeschränkt. Sollten aber nur gewisse Mindestvorgaben festgelegt und den Nationalstaaten gewissen Freiheiten gelassen werden, dann wäre der Spielraum für die Politik größer. Es ist aber schwer zu sagen, was hier herauskommen wird.

Man kann natürlich sagen, es ist poli­tisch immer möglich, dass Deutschland erst einmal ein Verbot erlässt. Dieses könnte sich dann europäisch durchsetzen. Einen solchen Fall hatten wir bei den so genannten Leerverkäufen für Staatsanleihen, die zuerst nur in Deutschland untersagt wurden. Das wurde dann auf der europäischen Ebene übernommen. Insofern ist es oft eine politische Frage, bei der erst einmal national Entscheidungen getroffen werden, die dann auf europäischer Ebene weiter betrieben werden. Es gibt aber Begrenzungen, was die deutsche Politik noch alleine entscheiden kann.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Henn, wir danken für das Interview.