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Hintergrund: Über das Verhältnis westeuropäischer Staaten zu den Moscheen. Von Jonathan Laurence

Die Beziehungen zwischen Staat und Moscheegemeinden in Westeuropa ­haben sich in den letzten 15 Jahren erkennbar weiter entwickelt.
(CGNews). Etwas mehr als ein Prozent aller weltweiten Muslime, rund 1,5 Mil­liarde Menschen, leben in Westeuropa. Ungeachtet dessen hat diese Minderheit eine überproportionale Wirkung auf Religion und Politik in ­ihrer neuen Heimat. In nur 50 Jahren wuchs die muslimische Bevölkerung von einigen zehntausend auf 16 oder 17 Millionen in 2010 an – schätzungsweise jeder 25. Westeuropäer.
Auf der einen Seite wächst die Vorstellung unter einheimischen Europäern, dass dem Islam – der einstmals ungehin­dert im Nachkriegseuropa wachsen durfte – Einhalt geboten werden müsse. ­Diese Weltsicht fordert von den Europäern, dass sie aus ihrem Schlaf aufwachen und „Eurabien“ besiegen. Als Gegenentwurf zu diesem Narrativ gibt es die Meinung, wie sie von einigen muslimischen Vertre­tern vertreten wird, wonach die europä­ischen Regierungen grundsätzlich repres­siv und intolerant gegenüber Vielfalt eingestellt seien.
Beide Sichtweisen sind unangemessen und – was noch wichtiger ist – verpassen den breiteren Trend, der vor Ort abläuft.
Europäer und Muslime haben in den letzten zehn Jahren erfolgreich ­verhandelt und sich aneinander angepasst. Dies wurde durch verschiedene, entscheidende Momente bestätigt. In dem, was alltägli­che, aber trotzdem entscheidende Bereiche für religiöse Integration zu sein scheinen, sprechen muslimische Gemeinschaf­ten und europäische Regierungen miteinander und handeln gemeinsam. Dazu zählen Moscheebauten, die Ausbildung von Imamen und Seelsorgern, die Verfügbarkeit von Halal-Lebensmitteln und die Vergabe von Hadschvisen.
Vergleichen wir dies mit der ­Situation vor 10 oder 15 Jahren, als der Islam in der Innenpolitik bei europäischen Politi­kern und der Bürokratie im Wesentlichen unbekannt war. Insofern religiöse Fragen tangiert wurden, war dies die Zo­ne der Einwanderungsbehörden und der Diplomatie – nicht von Parlamenten und Innenministerien. Die Organisationen der islamischen Gemeinschaften in den [west-]europäischen Städten ­reflektierten diesen Zustand. Weit entfernt davon, organisch in ihrer lokalen, europäischen Kultur und Politik verwurzelt zu sein, waren sie immer noch von ausländischen Regierung und internationalen NGOs dominiert.
Mittlerweile erwächst eine neue Landschaft, in der muslimischen Verantwort­liche in steigendem Maße ihren Platz in Gesellschaft und den Institutionen ­ihrer Aufnahmeländer finden. Ein ­neuer poli­tischer Konsens – und die ­entsprechende Verwaltungspraxis – fasst Fuß. Dies reflektiert die sich ausbreitende, pragmatis­che Anerkennung der ununkehrbaren muslimischen Präsenz in [West-]Europa.
Die Periode zwischen der Mitte der 1990er und der Mitte der 2000er Jahre war eine Phase des größten Wachstums in der Beziehung zwischen dem Islam und den europäischen Staaten. Das eindrücklichste Beispiel einer europaweiten Bewegung hin zu einer Integration des Islam kam mit der Entwicklung nationa­ler Beratungsgremien. Vorbei waren die adhoc getroffenen Entscheidungen bezüglich jener Fragen, die sich muslimischen Gemeinschaften stellten. Vorbei sind die Arbeitsgruppen der vorangegan­genen Jahrzehnte, die zwischen den Ministerien gebildet wurden. Ersetzt wurden sie durch den Aufbau kooperativer Institutionen und Einrichtungen von Stellen zur Klärung der staatlichen Beziehungen mit den Moscheen.
Quer durch Europa war einer der Höhepunkte die institutionelle Anerkennung und Heimischwerdung des Islam die Form zentraler Gremien. Führungsgremien wie der Französische Rat für den Muslimischen Glauben, der Spanische Islamrat, Deutschlands Islamkonferenz und das italienische Islamkomitee ­halfen bei der Lösung praktischer Fragen zur religiösen Infrastruktur mit. Diese reichen von der Einrichtung von Plätzen für Imame und Seelsorgern in öffentlichen Institutionen über die Regulierung von Moscheen, der religiösen Bildung bis zu Halal-Lebensmitteln und Visen für die Hadsch.
Während diese neue Realität anhält, entsteht eine neue Ordnung der Gemein­schaftsführung und der Imame. Eine, die sich stärker mit lokalen Gesellschaften mischt und besser vertraut ist mit den pluralistischen Systemen der Beziehungen von Staat und Islam, den ­kulturellen Normen Europas sowie den einheimischen Sprachen. Dazu gehören Muslime mit unterschiedlichen Hintergründen, aber auch Nichtmuslime. Während muslimische Organisationen sich ihren Weg durch die Institutionen bahnen, die die Religionsausübung bestimmen, können Behörden die Chancen zu Beratungen nutzen, aber auch strukturelle Anreize für den interreligiösen Dialog und die Sicherheitspartnerschaft mit lokalen Vertre­tern bereitstellen.
Organisationen und Führungsgremien, die zuvor ausschließlich jenseits der europäischen Grenzen auf der Suche nach islamischer Autorität und Authentizität waren, gewinnen langsam an einheimischen, institutionellen Bezügen.
Es gibt immer noch viel Raum für Verbesserungen, innerhalb neuer Zonen der Vermittlung. Aber dazu wird es nur kommen, wenn die Zugewinne des letzten Jahrzehnts nicht dem übersteigerten Pessimismus einer negativen Erzählung über die Zukunft der europäischen Muslime geopfert werden. Soll dieser Prozess andauern, müssen beide „Seiten“ nach oben schauen und im Geiste erkennen, dass ihnen der Himmel nicht auf den Kopf fällt.
Jonathan Laurence ist Außerordentlicher ­Professor für Politikwissenschaften am ­Boston College und Gastdozent am Brookings Insti­tute. Sein jüngstes Buch heißt ­“The ­Eman­cipation of Europe’s Muslims“.