„Die IZ-Blogger“ – wieso die Türkei wieder in Turbulenzen steckt

(iz). Der bekannte Strategiefachmann und Geheimdienstexperte Prof. Mahir Kaynak vermutet hinter den turbulenten Vorkommnissen in der Türkei vor allem außenpolitische Gründe. Seiner Meinung nach hätten US-Neokonservative, Teile der Europäer und „die globale Finanzelite“ aufgrund des außenpolitischen Richtungswandels der Türkei ein großes Interesse am Sturz von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan; das berichten die „deutsch-tuerkisch-nachrichten“.

Ministerpräsident Erdoğan, der am 4. Februar zu Regierungskonsultationen in Berlin erwartet wird, hat das Land im letzten Jahrzehnt wirtschaftlich, politisch und sozio-kulturell verändert: Für die Einen zum Positiven, für die Anderen zum Negativen.

Wirtschaftliche Turbulenzen bis zu den Kommunalwahlen
Die Türkei hat derzeit unter den größten Wirtschaftsmächten den 17. Rang inne. Zum 100-jährigen Bestehen der Republik, also bis zum Jahr 2023, hat die Regierung sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, zu den zehn größten Ökonomien der Welt zu gehören.

In den letzen Wochen herrschte jedoch Panik an den türkischen Börsen. Ausländische Investoren ziehen ihr Kapital aus den Märkten ab. Dollar und Euro klettern auf ihre historischen Höchststände. Wirtschaft hat gleichwohl sehr viel mit Psychologie zu tun. Und diese Psychologie wird sich ehestens nach den Kommunalwahlen im März wieder normalisieren.

Eine sagenhafte Entwicklung in der letzten Dekade
Die Türkei entwickelt seit einigen Jahren zahlreiche eigenständige Projekte, so in den Sektoren Rüstung, Wissenschaft, Raumfahrt und Energie. Der Bauboom der Türkei nimmt atemberaubende Züge an. Wer nach längerer Zeit wieder dort war, berichtet, dass das Land und die Städte kaum noch wieder zu erkennen sind. Außerdem scheinen die Menschen vom Bau der Straßen und der, die Berge durchziehenden Tunnelanlagen beeindruckt zu sein. In den letzten zehn Jahren wurden 500.000 staatlich geförderte neue Wohnungen (TOKİ) gebaut. Die 19 Jahre davor seien indes 43.000 neue Quartiere errichtet worden sein.

Angemerkt seien jedoch auch die protzig-glänzenden Einkaufszentren, von denen es mehrere in fast jeder Stadt gibt, und die den mittelständigen Unternehmen großen Schaden zufügen. Aber dennoch: Bis zum Jahr 2002 beschränkte sich die Länge von mehrspurigen Straßen (Schnellstraßen, die den deutschen Autobahnen ähneln) in der Türkei auf gerade mal 6.000 km. Zwischen 2002 und 2012 wurde dieses Netz, das bis dato lediglich sechs große Städte miteinander verbunden hatte, auf über 21.227 km erweitert und führt seit dem 74 Städte zusammen.

Noch vor zwölf Jahren konnten Studenten nur an 70 Universitäten im Land studieren. Im Jahre 2012 wurden hingegen schon 172 errichtet. Heute gibt es keine Provinz mehr ohne Universität. Die Türkei, die knapp 80 Jahre lang auf vielen Gebieten stagnierte, übersprang in kürzester Zeit mehrere Klassen und sorgte bei vielen Menschen für unglaubliche Blicke sowie neidvolles Erstaunen.

Von den Riesenprojekten wie dem Bau des dritten Flughafens in Istanbul, der als der größte der Welt in Planung ist und damit das globale Flugverkehrssystem auf den Kopf stellen wird, einer neuen Meerenge (ein neuer Bosporus), gigantischen Schienen- und Transportwegen durch die Meere ganz zu schweigen. Auch kolossale Staudammprojekte werden zweifellos einige neidische Blicke auf sich gezogen haben. Was aber das Fass zum überlaufen bringen könnte, sind die seit 200 Jahren außerordentlich bedeutsamen Energieressourcen und Energierouten, die Erdöl und Erdgas aus den Nachbarländern in die Türkei bringen werden.

Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft für den Nahen- und Mittleren Osten
Daher ist es enorm wichtig, für eine dauerhafte und friedvolle Lösung der Konflikte in der Region. Eine Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft im gesamten Nahen- und Mittleren Osten, ähnlich wie die Europäische Union, mit eigenständiger Entscheidungsgewalt und Ressourcenmacht könnte die Region zu der reichsten und prosperierendsten der Welt machen. Es ist erstaunlich, dass gerade die rohstoffreichen Staaten in der Region kaum zur Ruhe kommen.

Die Türkei scheint seit einigen Jahren in ihrer unmittelbaren Umgebung selbst Regie führen zu wollen. Das wiederum führt nach Expertenmeinungen dazu, dass das Land diszipliniert und eingefangen werden muss. Immer öfter wird vom „Neo-Osmanismus“ geschwafelt und ein Bedrohungsszenario gemalt. Die Türkei hat sich von einem „Osmanismus“ vor fast 100 Jahren verabschiedet und wird sich auf so ein Abenteuer nicht einlassen.

Konfliktlinien, deren Lösung nicht mehr in der Ferne liegen
Um jedoch außenpolitisch im Konzert der Mächte gleichberechtigt und eigenständig agieren zu können, gilt, – wenn man es mit den Worten des Historikers Eckart Kehr sagen möchte – das „Primat der Innenpolitik“. Der Fortbestand der gesellschaftlich-politischen Entwicklung der letzten Jahre hängt u.a. auch von der Lösung des jahrzehntelang andauernden so genannten Kurdenkonflikts ab. Ein lang ersehnter Frieden unter den verfeindeten Ethnien sorgte kürzlich auf der einen Seite für Erleichterung. Seit vielen Monaten sterben keine Menschen mehr. Das Blutvergießen ist vorerst gestoppt. Das ist ein wichtiger Schritt.

Für andere wiederum erweiterten sich die Sorgenfalten in den Gesichtern. Die gesamtgesellschaftliche Entschlossenheit zur konfessionellen Eintracht zwischen Sunniten und Aleviten sollte der nächste Punkt für eine dauerhaft stabile Türkei sein. Auch in diesem Punkt gab es in den letzten Monaten gute Entwicklungen.

Ein weiterer Punkt wird nach Einschätzungen die verständnisvolle Partnerschaft mit den nicht-muslimischen Minderheiten sein. Die Türkei unternimmt große Anstrengungen, die Herzen der Armenier, die in der Vergangenheit als „Millet-i Sadıka“ („Das treue Volk“) bezeichnet wurden, der jüdischen, yezidischen, zoroastrischen und christlichen Geschwister zu gewinnen. Christliche Kirchen, jüdische Synagogen, yezidische Glaubenszeremonien werden nicht mehr als Bedrohung angesehen, wie es zu dunklen Zeiten der Republikgeschichte teilweise der Fall war.

Gezi 2.0?
Was diese Tage in der Türkei politisch abläuft, schätzen einige Beobachter als Fortsetzung der Gezi-Proteste ein. Experten wie Prof. Mahir Kaynak gehen davon aus, dass Erdoğan bis zu einem möglichen Rückzug aus der Politik damit zu rechnen hat, dass solche – scheinbar innenpolitischen – Turbulenzen fortbestehen werden.

Eine neue und unabhängige Türkei scheint derzeit nicht gewollt, sodass Erdoğan noch lange mit den Wölfen tanzen muss.

Informationen zum Autor: Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?“ sowie „nach-richten: Muslime in den Medien“. Die Themenschwerpunkte von Yasin Baş sind: Türkisch-Deutsche Beziehungen, Ethnomarketing, Integrations-, Migrations- und Sicherheitspolitik und Deutsche Geschichte (nach 1871).

Konzeptionelle Überlegungen für eine neue Zukunft der muslimischen Selbstorganisation

(iz). Nehmen wir mal an, wir wären Mitglied in einem idealen Verband, den Y-Verband, wie wäre dieser organisiert und für welche Inhalte würde so ein Verband stehen?

Ethnische Kriterien
Nun, der Y-Verband würde nicht auf das Unterscheidungsmerkmal ethnischer Kriterien setzen und erkennen, dass für die eigene Jugend, die natürlich Deutsch spricht, diese antiquierten Trennlinien keine besondere Bedeutung mehr entfalten können. Das Gleiche gilt für ideologische Differenzen, die aus den Heimatländern ihrer Eltern oder Großeltern importiert wurden. Der Y-Verband würde das ethnische Kriterium weder beson­ders betonen, noch leugnen. Er würde auf Deutsch publizieren und wäre stolz, dass der Verband in seiner inneren Zusammensetzung zunehmend vielfältiger würde.

Filter für Kultur
In Deutschland würde sich solch ein Zusammenschluss sodann als Filter sehen, kulturelle Einflüsse, die nicht dem Islam entgegenstehen, aufnehmen und kulturelle Einflüsse, die dem Islam entgegenstehen, ablehnen. Der Y-Verband wäre damit ein aktiver Faktor für die Erneuerung der Kultur unseres Landes. Natürlich würden er und seine Mitglieder das Land bereisen sowie die wichtigen und herausragendsten Kultursymbole besuchen, um davon zu lernen. Der Y-Verband würde auf diese Weise klarmachen, dass das Land, indem seine Mitglieder leben und ihren Lebensunterhalt von Allah bekommen, geschätzt wird. Genauso würde der Y-Verband die historischen Stätten aufsuchen, die die Gefahren von Ideologien begreiflich machen.

Lobbyarbeit statt Machtsteigerung
Als Organisation wäre der Y-Verband nicht nur an der eigenen Machtsteigerung (in struktureller, finanzieller und quantitativer Hinsicht) interessiert, sondern es müsste ihm glaubwürdig um das Wohl aller Muslime gehen. Natürlich müsste eine solche Organisation auch gerne ihr eigenes Geld in die Hand nehmen, um endlich eine adäquate Lobbyarbeit für alle Muslime in der Hauptstadt Berlin zu ermöglichen. Für dieses noble Anliegen wären Adressen wie „Unter den Linden“ gerade gut genug. Eine funktionierende, professionelle muslimische Vertretung würde dabei weder als eigener Machtverlust erfahren, noch befürchtet werden.

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Echte und freie Gelehrte
Besonders wichtig wären auch die Gelehrten im eigenen Haus. Sie wären keine Entscheidungsträger, aber auch keine Befehlsempfänger. Der Y-Verband würde von ihnen eine klare Stimme erwarten; etwa dann, wenn sich der Verband falsch oder einseitig entwickeln sollte. Die Gelehrten des Y-Verbandes wären loyal, aber sie würden sich auch keine Khutbas [Freitagspredigten] von oben diktieren lassen; schon alleine deswegen, weil sie auch auf die lokale Probleme der Muslime eingehen müssten.

Die Gelehrten des Y-Verband würden – gemeinsam mit anderen anerkannten Verbänden – eine eigene Akademie für die Imamausbildung gründen. Sie würden hierfür gut ausgebildete, authentische Gelehrte anwerben und ihnen damit eine ehrenhafte Stellung ermöglichen. Die anerkannten Kerninhalte der Lehre würden dann gemeinsam – also nicht von isolierten Einzelgängern – definiert werden. Die Entwicklung der Lehre müsste so beschaffen sein, dass sie auch unabhängig von kurzzeitigen öffentlichen oder medialen Debatten wäre. Die Akademie wäre stolz auf ihre Loyalität zu Deutschland, aber auch stolz auf die eigene Unabhängigkeit.

Die Gelehrten des Y-Verbandes wären auch selbstkritisch. Sie würden sich fragen, warum es solange dauerte, bis ihre Stimme in Fragen des Terrorismus zur Jugend in und um die Moscheen durchdringen konnte. Aus diesen Fehlern würde man lernen und es nicht mehr zulassen, dass falsche Lehren Breitenwirkung entfalten könnte. Hierbei würde man offensiv die Grundprinzipien des Islam, die Gewalt und Terror natürlich absolut ausschließen, verteidigen.

Muslime und Finanzkrise
Der Y-Verband würde die Zeichen der Zeit erkennen. In der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte würden die Gelehrten Muslime und Nichtmuslime, insbesondere über die ­ökonomische Botschaft des Islam informieren. Die Gelehrten würden gerade jetzt auch kritisch über die Erfahrungen in der eigenen islamischen Geschichte nachdenken – insbesondere, soweit es Relevantes betrifft, zum Beispiel die Wirkungen der Banken, Währungen und Inflation.

Ist die Zakat eine ­gefallene Säule?
Die Gelehrten des Y-Verbandes wären besorgt, dass die Zakat – eine Säule des Islam – nicht mehr gelehrt und korrekt praktiziert wird. In dem Umstand, dass die Zakat mit Gold und Silber zu bezahlen ist, würden die Gelehrten nicht etwa ein Erschwernis, sondern einen sinnstiftenden Zusammenhang zwischen beiden erkennen. Der Y-Verband würde die korrekte Zahlung der Zakat und die lokale Verteilung organisieren und den Muslimen die notwendigen Kenntnisse dafür vermitteln. Dem Verband ginge es dabei nicht um das Geld, sondern um die soziale Solidarität – jenseits der Grenzen des eigenen Verbandes. Er würde – im Interesse der Sorge für die muslimische Gemeinschaft als Ganzer – auch eine Diskussion darüber ermöglichen, zu welchen Verfallserscheinungen es in den letzten Jahren in Sachen Zakat (wie die Versendung der Zakat ins Ausland) kam.

Wichtige Stiftungen
Der Y-Verband würde Stiftungen fördern und akzeptieren, dass diese Einrichtungen für alle Muslime offen sind und der Zweck der jeweiligen Stiftung, der eigenen politischen Kontrolle, Dominanz und Einflussnahme bewusst entzogen sind. Die Führung hätte eine natürliche Skepsis gegenüber der Rechtsform der GmbH, die dazu tendiert, die originäre Idee der Stiftung zu konterkarieren. Der Y-Verband würde solche Fragen auch offen mit Mitgliedern und Gelehrten diskutieren und bei Muslimen Erfahrungen und Meinungen einholen, welche Zwecke derzeit ganz besonders zu fördern wären.

Freiheit von Fesseln der politischen Dominanz
Der Y-Verband hätte sich endlich von den Fesseln der politischen Dominanz befreit und wäre in der Lage die anderen Potenziale seiner Gemeinschaft zu erkennen. Der Y-Verband würde über Alternativen wie Einkaufsgenossenschaften nachdenken, aber auch über alternative Zahlungsmodelle sowie über alle islamischen Einrichtungen bis hin zum freien Markt, die in der Krise ein Angebot oder eine Lösung für die Gesamtgesellschaft darstellen könnten. Ein solcher muslimischer Zusammenschluss nähme mit diesen Inhalten dann auch selbstbewusst an der allgemeinen, öffentlichen Debatte teil.

Nicht nur Strukturen
Der Y-Verband würde akzeptieren, dass junge Muslime sich in starren Strukturen nicht besonders wohl fühlen. Der Verband würde daher die Aktivitäten anderer junger Muslime fördern, sich über ihre Netzwerke informieren, würde helfen ohne zu bevormunden und die eigene Jugend zur Teilnahme auffordern. Da die eigenen Jugendliche gut ausgebildet wären, hätte man keine Sorge um ihre Identität und keine Angst, sie zu verlieren, und man würde sich vielmehr freuen, wenn sie sich solidarisch zeigten und sich auch für andere, als die eigenen Anlässe engagieren würden.

Solidarität mit anderen
Der Y-Verband würde den Zusammenhalt der Muslime fördern und die Aktionen von Muslimen, die Erfolg ­versprechen, ohne Eifersucht loben. Der Y-Verband würde Arbeitsgruppen mit anderen Muslimen, zu Themen, die das Wohl der Muslime betreffen, bilden. Die Verteidigung von anderen Muslimen, die zu Unrecht angegriffen werden, wäre für den Y-Verband Ehrensache. Ausweislich der eigenen Öffentlichkeitsarbeit würde sich der Verband nur ungern ausschließlich mit sich selbst beschäftigen.

Musliminnen organisieren sich selbst innerhalb bestehender muslimischer Dachverbände

(iz). Eine religiös bekleidete Muslima im Plenum der Deutschen Islamkonferenz (DIK), ein Frauenbildungszentrum, das die erste muslimische Einrichtung ist, die in Deutschland als zertifiziertes Bildungswerk ausgezeichnet wird und ein bundesweites […]

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