Die Krimtataren zwischen europäischer Ignoranz und russischem Chauvinismus

(iz). Die Tataren auf der Halbinsel Krim wehren sich verzweifelt gegen eine Einverleibung durch die Russische Föderation, den Rechtsnachfolger des Deportationsregimes aus ihrer Vergangenheit. Sie schauen auf eine wechselvolle, oft schmerzhafte Geschichte zurück. Nach der Eroberung des islamischen Krim-Khanats 1783 durch Katharina II. war der endgültige Einschnitt in das Leben dieses Volkes die komplette Deportation am 18. Mai 1944 durch das Sowjetregime Stalins. Seit Glasnost und Perestroika sind über 300.000 Krimtataren auf ihre Insel zurückgekehrt. Seit Beginn der Repatriierung verfolgen sie einen strikt gewaltfreien Kurs auf Demokratisierung der Ukraine und eine Assoziierung mit der EU.

Eskalation durch Provokation
Ali Khamzin, Außenbeauftragter des Nationalrates der Krimtataren Milliy Medschlis, kommt in den letzten Tagen kaum zum Schlafen: Gestern früh war Stadtzentrum ist gesperrt, Ministerrat und Parlamentsgebäude wurden von irregulär bewaffneten Russen besetzt, niemand weiß, wer diese Männer wirklich sind. Die Flaggen Russlands wurden auf den Gebäuden gehisst. Es heißt, sie seien mit Lkw aus der vorwiegend von Russen bewohnten Stadt Sewastopol gekommen, wo seit Tagen verstärkt russische Pässe und Waffen vergeben werden und prorussische Demonstrationen stattfinden. Khamzin und die Führung des Medschlis, dass sich die krimtatarische Bürgerbewegung jedoch nicht provozieren lässt und hofft, dass sich die Zentralregierung in Kiew so schnell wie möglich und intensiv um diese Eskalation kümmert. Jedoch gibt es dort im fernen Kiew erst seit zwei Tagen eine Regierung und diese hat mit sich selbst zu tun. Genau dieses Vakuum haben anscheinend die russischen Besetzer in Simferopol ausgenutzt für ihre gestrige Nachtaktion.

Erschreckend ist teils die Überforderung der Medien vor Ort. Es brauchte einige Zeit, bis realisiert wurde, dass die EuroMaidan-Kräfte auf der Krim vor allem die Tataren sind. Weder bei NTV noch anderen großen Stationen schien aufzufallen, dass die Plakate keine Parolen in kyrillischer Schrift enthielten, sondern in lateinischer Schrift. Also kein Russisch, kein Ukrainisch, aber was dann?

Krimtatarisch eben, die Sprache der größten ProEuropa-Kraft der Krim: Die Krimtataren, exzellent organisiert, beharrlich gewaltfrei aber strikt ukrainisch integrativ. Oder wie es Prof. Dr. Kerimov gerne ausdrückt: „Die besten Ukrainer auf der Krim sind die Tataren.“ Er leitet das Forschungszentrum für Sprache, Geschichte und Kultur der Krimataren an der KIPU-Universität Simferopol und verweist auf die komplizierte Gemengelage auf der Krim. Durch jahrhundertelange Repression und gezielte Ansiedlung von Slawen auf der Krim, seien die indigenen Nationalitäten der Krimtataren, Karaimen und Krimtschaken eine numerische Minderheit im eigenen Land geworden. Neben rund 60 Prozent Russen leben nur knapp 15 Prozent Ukrainer und 15 Prozent Tataren auf der Krim – neben Dutzenden kleinen Volksgruppen wie den Krimdeutschen, Ungarn, Karaimen …

Wenn in Umkehrung aller Tatsachen sogar der deutsche staatliche Sender Phönix live berichtet „dass die Krim eigentlich schon immer russisches Gebiet war“ und mutmaßt, „wenn die Tataren jetzt die Regierungsgebäude eingenommen haben, und dabei Menschen ums Leben gekommen sind, weiß man zunächst einmal nicht, wie es hier weiter geht“, zeigt dies die Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit deutscher Osteuropa-Korrespondenten. Doch auch Politiker offenbaren ihre eurozentristische Weltsicht und völlige Ahnungslosigkeit.

Ahistorisch behauptete etwa Phillip Mißfelder, außenpolitischer Sprecher der CDU: „Die geostrategische Frage der Krim ist für Moskau sehr emotional, da es sich historisch um den Kernbereich Russlands handelt.“ Kernbereich Russlands? Schon immer russisches Gebiet? Diese frappanten Äußerungen stehen stellvertretend für zwei grundsätzliche Probleme: Die fehlende mediale Vertretung ausländischer Presse in der Ukraine generell und zweitens die Ignoranz oder Mainstream-Westeuropa-Perspektive auf die Geschichte Osteuropas durch hiesige Eliten in Medien und Politik.

Der weiße Fleck Ukraine in europäischer Wahrnehmung
Dass die Ukraine ein eigener Staat mit durchaus langen Traditionen und Teil Europas ist, setzt sich nur langsam im Bewusstsein der deutschen Allgemeinheit durch. Und dass die Krimtataren eines der ältesten islamischen Völker Europas sind mit traditionell engen Verbindungen in die Türkei und nach Deutschland, ist trotz einiger Zeitungsberichte der letzten Jahre in Deutschland nahezu unbekannt. Prof. Dr. Andreas Umland von der Nationalen Universität Mohyla-Akademie in Kiew schreibt dazu in seinem Artikel „Weißer Fleck. Die Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit“, während sich in Moskau Dutzende Korrespondenten tummeln würden, ließen sich die mehr oder minder kontinuierlich in Kiew arbeitenden deutschen Journalisten an einer Hand abzählen: „Die ohnedies spärliche deutsche Ukraine-Berichterstattung findet zumeist von Warschau und Moskau aus statt. Spezialisierte deutsche Informationsdienste wie die Ukraine-Analysen (Bremen) oder Ukraine-Nachrichten (Kiew) werden – im Gegensatz zu vergleichbaren Internetprojekten wie den Russland-Analysen (Bremen) oder Russland-Aktuell (Moskau) – nur von einem engen Interessentenkreis genutzt.“

Dem abzuhelfen, kann zumindest ein positiver Nebeneffekt der jetzigen Umwälzungen sein: Viele Veranstaltungen zur Situation in der Ukraine finden derzeit in Deutschland statt. Auch die Krimtataren finden so mehr Erwähnung als in der Vor-Maidan-Zeit. Wie viel davon letztendlich nachhaltig den Bekanntheitsgrad des kleinen Volkes steigern kann, bleibt abzuwarten, denn die Reporter-Karawane wird weiter ziehen, die Probleme vor Ort bleiben.

Traumatische Geschichte europäischer Muslime
Um diese Probleme verstehen zu können, muss man sich wohl oder übel die Mühe machen und in die europäische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte zurück schauen. Über tausend Jahre, ab dem siebten Jahrhundert u.Z., dominierten Turkvölker das Gebiet zwischen dem heutigen Usbekistan und Moldawien. Nach den Reichen der Awaren, Chasaren, Kiptschaken und Bolgaren prägten die Tataren über drei Jahrhunderte den nördlichen Schwarzmeerraum. Erst Katharina die Große brach mit der russischen Annexion der Krim im Jahre 1783 diese lange Geschichte. Durch Repression, Russisch-Osmanische Kriege und die Revolution der antireligiösen Bolschewiki, deren Rotem Terror und dem Hunger-Genozid Holodomor in den 1930 Jahren schmolz die tatarische Bevölkerung auf die Größe einer Minderheit.

Der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt, wurde das ganze Volk dann 1944 in Viehwaggons gen Osten deportiert. Russisches Kernland ist die Krim nie gewesen, jedoch in der russischen Idee des dritten Rom als Legimitation der Macht spielte sie immer eine große Rolle. Mit den vielen griechischen Hinterlassenschaften und der subtropischen Südküste war sie seit der Eroberung „Die Perle des Imperiums“. Erst Nikita Chrustschows Schenkung der Krim als Freundschaftsbeweis der Russen an die Ukrainische SSR machte die Krim zu einer ukrainischen Gebietseinheit, was zu UdSSR-Zeiten kaum jemanden störte oder eine Rolle spielte, avancierte nach dem Zerfall der Sowjetunion zum Zankapfel zwischen Moskau und Kiew. Immer dazwischen: die Krimtataren.

Deutsch-Krimtatarische Beziehungen älter als Deutschland
Historisch eng sind die Beziehungen der Krimtataren zu Deutschland beziehungsweise vorher zum Ordensstaat der Kreuzritter, zu Brandenburg-Preußen und Sachsen seit den 1420er Jahren. Belegt sind über ein Dutzend Gesandtschaften, angestrebte Militär-Allianzen sowie und Anwerbung krimtatarischer Reiter für die Preußische Armee, „Durchlauchtigster Bruder, Herrscher der Europäischen Tataren“ nannte den Krim-Khan der Große Kurfürst. Trotz der Annektierung der Krim bewahrten sich die Krimtataren durch Zaren- und Sowjetzeit hindurch ihre Religion, den Islam, ihre Sprache und Kultur. Aufgrund der massenhaften Auswanderung gibt es heute Krimtatarische Gemeinden fast überall auf der Welt, vor allem in der Türkei (2 bis 4 Millionen), Usbekistan, Rumänien, Bulgarien und Deutschland.

Der Weltkongress der Krimtataren hält die Fäden international zusammen und jedes Jahr zum Tag der Deportation am 18. Mai gibt es eine zentrale Kundgebung in Gedenken an den Genozid, die Hälfte des Volkes wurde 1944 ermordet oder kam an Hunger, Entkräftung und Kälte zu Tode. Aus jeder Diasporagemeinde ist mindestens ein Vertreter in den Weltkongress gewählt und auch der Milliy Medschlis (Nationalrat) der Krimtataren auf der Krim selbst hat Diasporaabgeordnete in seinen Reihen. In Deutschland ist der Journalist Ahmet Özay zuständig für krimtatarische Belange. In den letzten Monaten gab es da viel zu tun. Gespräche mit Abgeordneten, Politikern im Auswärtigen Amt, mit der Presse und Politikern des EU-Parlamentes galt es zu organisieren und zu moderieren.

Die geschürte Angst der Russen auf der Krim sei völlig unbegründet, so Ahmet Özay: „Wir nehmen niemandem etwas weg. Wir haben nur diese eine Heimat und möchten dort friedvoll mit allen Nachbarn wohnen. Es gab nie Rückgabeansprüche an ukrainische und russische Menschen auf der Krim, die nach der Deportation in unsere Häuser einzogen.“ Die deutsche Politik jedoch müsse Jenseits von Lippenbekenntnissen aktiver bei der Unterstützung der Krimtataren werden. Willensbekundungen wie im Brief von Hans Joachim Gauck vom November 2013 oder bei Gesprächen im Auswärtigen Amt vor drei Wochen reichten hier nicht aus.

Die deutsch-krimtatarischen Beziehungen werden seit Jahren auf dem Gebiet Wissenschaft und Kultur vertieft. Im letzten Jahr gab es allein in Deutschland vier Konferenzen dazu und 2014, aus Anlass des 70. Jahrestages der Deportation der Krimtataren wird es ebenfalls Symposien, Vorträge und Kulturveranstaltungen in Deutschland geben, maßgeblich unterstütrzt durch die Initiative „Deutsch-Krimatatrischer Dialog“ (http://qirimdialog.wordpress.com).

Die „großen Brüder“ Türkei und Tatarstan
Viele Treffen von Ministerpräsident Erdoğan und ukrainischen Politikern in der Vergangenheit fanden zusammen mit Vertretern der Krimtataren statt. Sie sind die Mittler zwischen den Nachbarn am Schwarzen Meer und haben der krimtatarischen Diaspora in der Türkei als auch staatlichen Institutionen dort sehr viel zu verdanken.

Umso enttäuschter war jetzt Ali Khamzin, Außenbevollmächtigter des Milliy Medschlis, von der Note des türkischen Außenministers Davutoğlu, die er gestern Abend mit dem Präsidenten der russischen Teil-Republik Tatarstan verfasste. Über Allgemeinplätze zur Beruhigung der Lage ging das Statement nicht hinaus. Und warum gerade mit Tatarstans Präsident Minikhanov?

Er ist zwar Tatare, aber Wolga-Tatare, mit den kleinen Brüdern auf der Krim hat die wolga-tatarische Politik jedoch so ihre Schwierigkeiten, sind die Krimtataren doch strikt gegen jede russisch-imperiale Attitüde und kämpferisch im Auftreten für die eigenen Rechte. Die Wolgatataren jedoch sind – aufgrund ihrer zentralrussischen Siedlungssituation seit Jahrhunderten russischer Politik direkt untergeordnet und immer zu Kompromissen genötigt. Auch zu den wolga-tatarischen Bewohnern der Krim ist das Verhältnis eher kühl. Sind dies doch meistens ehemalige Sowjetoffiziere und Geheimdienstler.

Der Aufruf von Minikhanov und Davutoğlu zeige jedoch den großen Einfluss der Weltpolitik auf den Regionalkonflikt auf der Krim und die Bedeutung der Krim in internationaler Geostrategie.

Hoffnung und Engagement
Professor Kerimov hofft, dass die Eskalation der letzten zwei Tage schnell überwunden wird und die Arbeit an Universitäten und Akademien der Krim wieder aufgenommen werden kann. Er arbeitet derzeit an Projekten zu deutsch-krimtatarischer Geschichte und geplant sind Konferenzen, Bücher und Dienstreisen nach Deutschland. Auch Dschemile Umerova-Ibragimova, sie studiert Regierungsmanagement an der Taurida-Universität Simferopol, hofft, dass sich die Polizei neutral verhält und die separatistischen Bestrebungen und Losungen wieder aufhören. Schließlich leben auf der Krim über 100 Nationalitäten und bisher habe man auch friedlich zusammen gelebt.

Der krimtatarische Nationalrat Milliy Medschlis hat zusammen mit Staatsanwaltschaft und Sicherheitsbehörden der Krim einen gemeinsamen Krisenstab gegründet um den separatistischen Parlamentsbesetzern konzertiert entgegentreten zu können. Der neue ukrainische Innenminister, Arsen Awakow, erklärte auf seiner Facebook-Seite, man werde diese Besetzung nicht hinnehmen. Miliz und Truppen des Innenministeriums seien in höchster Alarmbereitschaft.

Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft leitete ein Verfahren wegen Terrorismus ein. Übergangspräsident Turtschinow bezeichnete die Besetzer als „Verbrecher“. Er habe den ukrainischen Sicherheitskräften befohlen, die Gebäude zurückzuerobern.

Zur gleichen Zeit in Brüssel: Emine Bozkurt, EU-Parlamentsabgeordnete der Niederlande, verlangte dort heute: „Wir müssen heute klar Stellung beziehen, dass Demokratie und Menschenrechte für alle Ethnien in der Ukraine gelten müssen. Die Achtung der Identität und Sprache der Minderheiten und die nationale Integrität der Ukraine sind strikt zu achten… Die Krimtataren, die sich ihre Rechte auf Bildung, Muttersprache, eigene Kultur und Landbesitz mühsam erkämpft haben, stehen jetzt vor dem Risiko diese Errungenschaften wieder zu verlieren! Den Unruhen auf der Krim dürfen wir nicht den Rücken zuwenden!“

Auch die Intellektuellen auf der Krim bangen um die Zukunft ihrer Insel. Der Hauptdarsteller des Films „Haytarma“ (Heimkehr), Achtjom Seytablayev, sagte zur Situation auf der Krim: „Wir haben keine andere Heimat, dies ist unser Mutterland, wir möchten frei in der Ukraine leben.“ Haytarma ist der erste abendfüllende krimtatarische Spielfilm, seine Uraufführung in Deutschland fand im Herbst 2013 in Berlin statt, mit dabei waren krimtatarische Studierende aus Deutschland, der ukrainische Botschafter und Gäste von der Krim, Temur Kurshutov und Ismail Kerimov vom Forschungszentrum an der KIPU-Universität.

Ob und wann die deutsch-krimtatarische Zusammenarbeit in Kultur und Wissenschaft weitergehen wird, ist momentan ungewiss. Erst einmal muss sich die Lage auf der Krim beruhigen und stabilisieren, so Ali Khamzin vom Nationalrat in Aqmescit/Simferopol. „Und dafür brauchen wir auch Deutschland!“

* Der Autor ist Direktor des Institutes für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien Magdeburg.

Interview mit dem krimtatarischen Abgeordneten Ali Khamzin: „Zur europäischen Ukraine wird die Krim dazugehören“

(iz). Ali Khamzin gehört zum Volk der Krimtataren und wurde 1958 in Usbekistan geboren, wohin die Krimtataren 1944 von Stalins Sowjetregime deportiert wurden, der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt. Seit ende der 1980er Jahre kehren die Krimtataren in ihre alte Heimat zurück, wo es seitdem immer wieder zu Konflikten mit den russischsprachigen Bewohnern kommt, die nach 1944 dort angesiedelt wurden. Etwa 300000 Krimtataren leben wieder auf der Krim und stellen damit 15 Prozent der Bevölkerung.

Rund 150.000 Krimtataren leben noch in den Deportationsgebieten Zentralasiens. Khamzin ist Mitglied des krimtatarischen Nationalrates Milliy Medschlis, der aus 33 Personen besteht und der das Organ für die krimtatarische Selbstverwaltung darstellt. Dort ist Khamzin für die Außenbeziehungen und Staatsbürgerschaftsfragen zuständig. Er lebt mit Frau, Kindern und Enkeln in Bachtschisaray, der alten Hauptstadt der Krim-Khane.

Mit ihm sprachen wir über die Position der Krimtataren angesichts der momentan brisanten Lage in der Ukraine und welche politischen Optionen sich für die Tataren zukünftig bieten.

Islamische Zeitung: Herr Khamzin, in der Ukraine, auf der Krim eskalierte die Gewalt, das Parlament wurde von bewaffneten Russen besetzt. Wie geht es jetzt weiter auf der Krim?

Ali Khamzin: Wichtig ist, sich nicht provozieren zu lassen. Hätten wir dies in der Vergangenheit zugelassen, wäre es schon häufig zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gekommen. Wir haben der Krimbevölkerung empfohlen nach der Besetzung von Ministerrat und Parlament durch russische irregulär Bewaffnete zu Hause zu bleiben, sich nicht provozieren zu lassen. Darauf zielen solche Aktionen ja ab.

Islamische Zeitung: Warum?

Ali Khamzin: Nach der Deportation von uns Krimtataren 1944 wurde die Krim mit demobilisierten sowjetischen Dienstgraden bevölkert, von den normalen Reservisten der Armee bis hin zu ausgemusterten KGB-Leuten. Deswegen ist die Krim heute ein Sammelbecken von Chauvinisten, von Sowjetnostalgikern und Leuten, die Putin hörig sind. Für diese Kräfte ist die Krim Bestandteil „heiliger russischer Erde“.

Islamische Zeitung: Was passiert nun bei Ihnen in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, sind bewaffnete Auseinandersetzungen zu befürchten?

Ali Khamzin: Wir Krimtataren, auf der Krim sind wir insgesamt etwa 300.000 Menschen, haben eine starke Selbstverwaltung, den Milliy Medschlis (Nationalrat). Unter dessen Vorsitzenden Refat Tschubarov haben wir zusammen mit ukrainischen Rechtsorganen wie der Staatsanwaltschaft und der Dachorganisation „Krimskiy Euromaidan“ einen Krisenstab gegründet, um mit der Situation professionell umgehen zu können. Vertreter der OSZE sind bereits unterwegs auf die Krim.

Islamische Zeitung: Die Krimtataren befürworten also klar den Umbruch in der Ukraine?

Ali Khamzin: Wir Krimtataren sind Europäer, haben eine europäische Mentalität. Wir bekennen uns zu europäischen Werten, zu den demokratischen Prinzipien, zu Menschenrechten und zum Schutz von Minderheiten. Mustafa Dschemiliw, einziger krimtatarischer Abgeordneter der Hohen Rada in Kiew hat wiederholt auf dem EuroMaydan gesprochen und betont: „Die Krimtataren haben nur eine Perspektive: In einer demokratischen Ukraine als freies Volk in einem geeinten Europa der Menschenrechtsstandards und der kulturellen Vielfalt zu leben“. Daher unterstützen wir auch die europäische Ausrichtung der Ukraine und das Assoziierungsabkommen mit der EU. Und zu dieser europäischen Ukraine wird die Krim dazugehören.

Islamische Zeitung: Besteht aber nicht die Gefahr der Abtrennung der östlichen Ukraine und der Krim?

Ali Khamzin: Dass sich der Südosten der Ukraine, der Donbass, der Schwarzmeerraum und die Krim abspalten wollen, ist medial überbewertet und verkennt die Stimmung unter der Jugend. Natürlich gibt es in Gebieten wie Luhansk, Charkiw, Donezk, chauvinistische Kräfte. Sie gibt es besonders wieder, seitdem Wladimir Putin an der Macht ist. Aber man darf eines nicht unterschätzen – die Jugend hat sich völlig verändert. Viele der Jüngeren waren im Westen, haben Verbindungen via Internet, haben gesehen, wie die Menschen leben, sehen täglich, wie eine europäische Ukraine aufgebaut sein kann.

Islamische Zeitung: Woran machen Sie dies fest?

Ali Khamzin: Schauen Sie sich die Bilder von den Toten auf dem Maidan an. Das sind alles junge Gesichter. Diese Männer wollten nicht mehr nach sowjetischen Prinzipien leben. Und auch vor dem Osten der Ukraine macht das nicht Halt. Der Gouverneur von Charkiw kommt nicht mehr in seine Büros, weil das Gebäude seit Tagen von jungen Leuten belagert wird. Auch dort ist die EuroMaydanbewegung präsent.

Islamische Zeitung: Aber Abtrennungsszenarien stehen im Raum?

Ali Khamzin: Eines muss den Medien im Westen klar gesagt werden: Die einfache Trennung in pro-russischen Osten und pro-europäischen Westen gibt es so nicht und eine Sezession kann nicht funktionieren. Aber auch den Leuten in Kiew auf dem Maidan und in der Regierung muss ganz deutlich sagen: Wenn es uns Krimtataren nicht gäbe, gehörte die Krim längst nicht mehr zur Ukraine. Das Anheizen der Stimmung durch russische Politiker, die hier auf die Krim gekommen sind, und durch die russischen Medien fallen bei manchen auf fruchtbaren Boden, doch einige hundert russische Nationalisten sind nicht das Abbild der Krim.

Islamische Zeitung: Welche Personen sehen Sie als politische Akteure der Zukunft?

Ali Khamzin: Eine Mischung aus den Kräften der Orangenen Revolution von 2004 und neuen Leuten des Euromaidan von heute muss die Ukraine geeint eine europäische Perspektive geben. Angebote dafür aus der EU heraus gibt es ja.

Islamische Zeitung: Hat sie Ihr Engagement für die Orangene Revolution 2004 etwas gelehrt?

Ali Khamzin: Ja sicher, damals mussten wir alle Hoffnungen beerdigen. Dennoch war die Orangene Revolution nicht vergeblich. Denn ohne Orangene Revolution gäbe es heute keinen Euromaidan. Und zu seinen Akteuren gehören Vitali Klitschko, Arsenij Jatzeniuk und auch Oleh Taghnibok von der Partei „Swoboda“. Und Julia Timoschenko wird bestimmt auch einen Platz finden. Wir als Krimtataren haben keine andere Option als „Pro-Europa“, wir haben keine andere Heimat und nur eine starke demokratische Ukraine kann unser Forstbestehen garantieren.

Islamische Zeitung: Was ist, wenn auch dieser Aufbruch scheitert?

Ali Khamzin: Die Menschen der neuen Regierung haben eine große Verantwortung. Denn wenn das so ausgeht wie bei der Orangenen Revolution wird es die Ukraine in dieser Form nicht mehr geben. Wir werden also mit aller Kraft weiter für unser Projekt eines Internationalen Forums werben, auf dem die Probleme der Krim zusammen mit ukrainischer Regierung, europäischen und internationalen Institutionen diskutiert werden sollen. Das richtet sich nicht gegen Rußland oder gegen die Zentralregierung in Kiew sondern zielt auf die gemeinsame Lösung der immensen Probleme hier.

Islamische Zeitung: Vertrauen Sie den neuen politischen Führern in Kiew?

Ali Khamzin: Wir kämpfen seit unserer Rückkehr auf die Krim vor über zwanzig Jahren für unsere Rechte. Jede Schule, jedes Stück Land, jedes Buch der Krimtataren sind mühsam erarbeitet. Und ehrlich gesagt misstraue ich tief im Inneren auch ein wenig den politischen Gewinnern des Euromaidan. Wir Krimtataren haben eine andere Kultur und eine andere Religion. Wir sind Muslime und ich habe die Befürchtung, dass uns der Euromaidan und die neue Regierung wieder genauso nachlässig behandelt, wie es die Präsidenten Juschschenko und Janukowitsch vor ihnen getan haben.

Für dieses Interview bedanken wir uns recht herzlich bei Dr. Mieste Hotopp-Riecke vom Magdeburger Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien.