"Ich verbiete Politikern und Militärs, 'humanitär' zu benutzen"

Es finden sich überall – und immer wieder – Menschen, die sich nicht auf einen Aspekt festlegen lassen. Selbst, wenn sie durch diesen bekannt werden. Eines der prägenden Beispiele für einen solchen Charakter ist der Journalist, humanitäre Helfer und Aktivist Rupert Neudeck. Neudeck zeichnet sich – von seinem Einsatz von Andere einmal ganz abgesehen – durch die Breite seiner Bildung aus, die auch vor dem zeitgenössischen Islam-Diskurs nicht Halt macht.
Er ist Journalist, Autor, Gründer des Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V. und Vorsitzender des Friedenskorps Grünhelme e.V. International bekannt wurde er 1979 durch die Rettung tausender vietnamesischer Flüchtlinge im Chinesischen Meer mit der Cap Anamur. Bis 1998 gehörte er dem Vorstand des Komitees Cap Anamur an, danach wurde er Sprecher der Hilfsorganisation. Im April 2003 wurde er zum Mitbegründer und Vorsitzenden des internationalen Friedenskorps Grünhelme e.V. Nach 2002 setzt sich Neudeck auch mit der Lage in Israel/Palästina auseinander. Eine der Früchte davon war das Buch „Ich will nicht mehr schweigen“.
Die IZ traf ihm im Rahmen einer Buchvorstellung in der Kölner Buchhandlung Ludwig. Kurz nach dem Interview war Neudeck erneut unterwegs – dieses Mal in Richtung Türkei, wo er sich gemeinsam mit dem Verein Grünhelme und Cap Anamur an der Vorbereitung für Hilfsmaßnahmen beteiligen will.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, am 3. Juli haben Sie gemeinsam mit Eren Güvercin dessen jüngst erschienenes Buch „Neo-Moslems“ in Köln vorgestellt. Was war Ihre Motivation?
Rupert Neudeck: Das Buch ist für Christen und Menschen guten Willens in Deutschland eine gute Tür, durch die wir zu den Muslimen einen viel ­besseren Draht und eine bessere Beziehung bekommen können. Ich habe mich über das Buch meines Kollegen Eren ­Güvercin sehr gefreut. Ich habe mich auch gefreut darüber, das ein exponiert katholischer Verlag das Buch publiziert hat. Das lässt hoffen.
Islamische Zeitung: Die meisten Menschen kennen Sie als unermüdlichen Aktivisten für Menschen in Not. Gibt es für Sie Verknüpfungspunkte zum Thema Muslime?
Rupert Neudeck: Ich lasse mir nicht ausreden, dass es eine Hauptaufgabe von Menschen ist, die religiös musikalisch sind (wie der deutsche Soziologe Max Weber gesagt hätte), sich für Menschengeschwister, die in Not sind, besonders heftig und freudig einzusetzen. Das ist die Botschaft der großen Religio­nen, besonders die des Christentums, des Islam und des Judentums: Den Menschen als Kind Gottes zu sehen und zu behandeln. Deshalb fühle ich mich eben dabei mit Muslimen in einem Boot.
Islamische Zeitung: Haben Sie ­einen persönlichen Zugang zum Islam?
Rupert Neudeck: Ja, wenn Sie so ­wollen: Johann Wolfgang von Goethe – „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände.“ Der West-Östliche Divan bietet einen hervor­ragenden Zugang für einen Europäer und Christen zum Islam.
Islamische Zeitung: Gemeinsam mit Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gründeten Sie vor einigen Jahren den Verein ­Grünhelme. Was hatte Sie dazu bewogen, neben Ihren bisherigen Projekten dieses neue Vorhaben anzugehen?
Rupert Neudeck: Die Ahnung, dass wir nach dem 11.9.2001 auf einem „Holzweg“ sind, um mit Heidegger zu sprechen. Man kann nicht einen Krieg gegen den Terror führen, man kann nur verdeckt weiter Imperien aufziehen und Ressourcen ausbeuten. Die Vorstellung, dass es nach dem Welt-Kommunismus der Islam sein sollte, den wir als Weltfeind uns vorstellten und bekämpfen wollten, hat mich sehr aufgeregt. Dagegen wollten wir die gemeinsame humani­täre Tat setzen. Das war die Gründungs­urkunde der Grünhelme e.V. mit Aiman Mazyek und, wie ich künftig hoffe, mit Eren Güvercin. Dagegen müssen wir uns verbünden, nicht nur durch ­Pamphlete, sondern durch Taten.
Islamische Zeitung: Was unterschei­det die Grünhelme von herkömmlichen, humanitären Organisationen? Haben Sie einen besonderen Ansatz?
Rupert Neudeck: Möglichst nahe den Menschen sein, und unsere Euro-Gottgleichheit und Wohlstandsarroganz möglichst klein zu machen. Grünhelme ­leben bei den Menschen in den Dörfern, mit denen sie zusammen Schulen, Häuser, Krankenstationen aufbauen. Wir wollen auch nicht die staatliche Subvention beanspruchen, weil wir meinen, die Menschen brauchen die Spende der Mitbürger hier bei uns, die damit ein ganz ­großes Geschenk machen. Kein Mensch muss nämlich spenden. Das ist die reine Großzügigkeit. Wir halten uns nicht an die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, Menschen, die in Not sind, ­verlangen oft, dass wir sie auf halb- oder illegalen Wegen erreichen.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, Sie setzen sich seit Jahrzehnten für betroffene Menschen in Katastrophen- und Kriegsgebieten sowie für Flüchtlinge wie die vietnamesi­schen Boat People ein. Hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas an der globa­len, humanitären Lage geändert?
Rupert Neudeck: Der Zustand der Menschheit ist interessanterweise viel besser geworden. Es gibt so etwas wie eine gnädige Menschheit, die sofort – nach jedem Tsunami und nach jedem furchtbaren Bombardement, ob auf Gaza-Stadt oder auf Homs oder Aleppo dabei ist, loszugehen und mit allem, was wir an Medizin und Baumaterialien haben, hilfreich zu sein. Das halte ich für einen wunderbaren Fortschritt der Menschheit – zu meiner Lebenszeit.
Islamischen Zeitung: Einige Kritiker sind der Ansicht, dass manche NGOs nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problem sind beziehungsweise dass diese gelegentlich als Mittler für die Interessen Dritter agieren? Können Sie solche Kritikpunkte nachvollziehen?
Rupert Neudeck: Eine wirkliche Nicht-Regierungs- und Bürgerinitiative kann da nicht gemeint sein. Aber ich verfluche die Absicht von Geheimdiensten und Verfassungsschützern, einfach ganze Kampagnen zu unterwandern, wie jüngst in Pakistan bei einer Polio-Impfkampagne durch die CIA geschehen.
Islamische Zeitung: Wie reagiert unsere Gesellschaft in Zeiten der Krise auf die Notwendigkeit, anderen Menschen zu helfen? Haben es humanitäre Helfer schwieriger als früher?
Rupert Neudeck: Meine deutsche Gesellschaft reagiert so gut, dass ich mich manchmal frage: Warum gibt es neben dieser Bereitschaft, die in Zahlen ausgedrückt sechs Mal so groß ist wie in Frankreich, so viel an festbetonierten blöden und verblödenden Vorurteilen gegenüber andersartigen, von woanders herkommenden Menschen? Dazu gibt es in vielen Ländern, die kaum souverän sind, eine geifernde Bereitschaft, Rache zu nehmen für die fehlende Souveränität und sich an den kleinen NGOs das Leben schwer zu machen. Das habe wir jüngst in Afghanistan, aber auch in der Demokratischen Republik Kongo erlebt.
Islamische Zeitung: Gelegentlich beschleicht einen das Gefühl, dass wir hier, in den Wohlstandszonen der Welt, seltsam unberührt von den ­Konsequenzen unserer Lebensweise, die sich anderswo manifestieren, ­bleiben…
Rupert Neudeck: Deshalb müssen wir heute anfangen, uns aus dem Faulbett des Wohlstandes zu verabschieden. Denn dazu sind wir nicht auf die Welt gekom­men, um in einem Schlaraffenland an Überfütterung zu sterben.
Islamische Zeitung: Binnen eines Jahres erlebt Europa vor seiner Haustür zwei Bürgerkriege – Libyen und Syrien -, bei denen unzählige Menschen ums Leben kommen. Wie stehen Sie zu den so genannten „humanitären Interventionen“?
Rupert Neudeck: Ziemlich ablehnend. Ich verbiete Politikern und Militärs, das gute Wort „humanitär“ für ­ihren militärischen Eingriff zu benutzen. Humanitäre haben – wie alle Rot-Kreuz und Rote Halbmond Gesellschaften dieser Welt wissen – nie etwas mit Waffen, mit Waffenträgern, mit bewaffneten „Technicals“ zu tun. Wenn sie damit anfangen, haben sie restlos verloren. Ich kann mir eine UNO-Streitmacht vorstellen in der Zukunft, die dem UN-Generalsekretär unterstellt ist und die dann beauftragt wird, wie damals vor dem 11. Juli 1995 Srebrenica mit tausenden von muslimischen Ermordeten zu verhindern. Oder den Völkermord in Ruanda zu verhindern, der am 6. April 1994 begann. Dass das nicht geschieht, liegt dann an unserer typisch westlichen Feigheit. Wir halten uns für wertvoller als die Tutsis in Ruanda oder die bosnischen Muslime in Srebrenica.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, heute wird oft vom Trend zum „Ehrenamt“ geredet. Was treibt Sie bei Ihrem Engagement an?
Rupert Neudeck: Das Wort „Ehrenamt“ finde ich schrecklich. Ich habe noch nie ein Amt angestrebt. Und von der Ehre halte ich wenig. Ich finde wichtiger, alte und junge Menschen davon zu überzeugen, dass es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als Menschen beizustehen. Im Sinne des Satzes, den uns Heinrich Böll als Vermächtnis hinterlassen hat: „Es ist schön, ein hungerndes Kind zu sättigen, ihm die Tränen zu trocknen, ihm, die Nase zu putzen. Es ist schön einen Kranken zu heilen. Ein Bereich der Ästhetik, den wir noch nicht entdeckt haben, ist die Schönheit des Rechts; über die Schönheit der Künste, eines Menschen, der Natur können wir uns immer halbwegs einigen. Aber – Recht und Gerechtigkeit sind auch schön Und sie haben ihre Poesie, WENN sie vollzogen werden“
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, wir bedanken uns dafür, dass Sie Zeit für ein Gespräch hatten.